FÜNFTES KAPITEL
Lukes erster Eindruck von New Orleans war ein kunterbuntes Durcheinander von Geräuschen und Gerüchen. Max, Lily und Roxanne schliefen im Wohnwagen. Er hatte sich jedoch in der Fahrerkabine des Lasters zusammengerollt und war allmählich eingedöst, da Mouse die ganze Zeit nur tonlos vor sich hin gesummt hatte. Luke hatte ihn zu überreden versucht, das Radio anzumachen, aber Mouse war stur geblieben. Er wollte sich durch nichts in dem Vergnügen stören lassen, seinem Motor zu lauschen.
Nun aber drangen andere Laute an Lukes Ohr, hohe Stimmen und schreiendes Gelächter, das scheppernde Röhren von Saxophonen, Trompetengeschmetter und Trommelschläge. Im ersten Moment glaubte er, sie seien wieder auf dem Rummelplatz. Es roch nach fremden Gewürzen und irgendwelchen Speisen, doch über allem lag der Gestank nach Abfall, der in der Hitze verrottete.
Gähnend öffnete er die Augen und schaute blinzelnd aus dem Fenster.
Unzählige Menschen strömten durch die Straßen. Er entdeckte einen Jongleur, der wie Jesus aussah und orangefarbene Bälle in die Luft warf, die in der Dunkelheit leuchteten. Eine ungeheuer dicke Frau in einem blumengemusterten Muumuu tanzte ganz allein zu den Klängen eines Dixies, die aus einer offenen Tür drangen.
Der Zirkus ist scheinbar in der Stadt, dachte Luke und setzte sich auf.
Doch dann sah er, daß sie gar nicht mehr mit den anderen unterwegs waren, sondern sich mitten auf einem viel größeren Rummelplatz befanden. Einem, der stets an Ort und Stelle blieb.
»Wo sind wir?«
»Daheim«, erwiderte Mouse schlicht.
Luke hätte nicht sagen können, warum das Wort ihn zum Grinsen brachte.
Die Musik wurde allmählich leiser, die Straßen stiller. Im flackernden Licht der Laternen sah er alte Backsteinhäuser, üppig bepflanzte Balkone und Gestalten, die in Hauseingängen zusammengerollt schliefen.
Er begriff nicht, wie irgend jemand bei all der Musik, den Gerüchen, der unglaublichen Hitze schlafen konnte. Seine Müdigkeit war wie weggeblasen, und das Schneckentempo, in dem Mouse dahinschlich, machte ihn immer ungeduldiger.
Luke wollte endlich ans Ziel kommen. Wo auch immer das war.
»Mensch, Mouse, wenn du noch langsamer kriechst, fahren wir gleich rückwärts.«
»Immer mit der Ruhe.« Mouse stoppte zu Lukes Verblüffung mitten auf der Straße und stieg aus.
»Was hast du vor?« Luke kletterte ebenfalls aus der Kabine. Mouse stand bereits an einem offenen schmiedeeisernen Tor. »Du kannst das Ding nicht mitten auf der Straße abstellen. Das lockt doch bloß die Bullen an.«
»Will nur meine Erinnerung auffrischen.« Mouse strich sich versonnen übers Kinn. »Muß rückwärts rein.«
»Hier?« Luke riß die Augen auf. »Hier willst du rückwärts reinfahren?« Ungläubig musterte er das Tor und anschließend die Breite des Wohnwagens. »Das geht nie im Leben.«
Mouse lächelte, und seine Augen funkelten vor Freude. »Du bleibst da stehen, falls ich dich brauche.« Er schlenderte zurück zum Laster.
»Das klappt nie«, rief Luke ihm nach.
Aber Mouse begann bereits, leise vor sich hinsummend den Laster samt Wohnwagen über die schmale Straße zu manövrieren.
Mit offenstehendem Mund beobachtete Luke, wie der schwarze Anhänger sicher wie auf Schienen durch die Öffnung glitt.
Mouse blinzelte Luke aus dem Laster zu.
Das war absolute Maßarbeit. Aus irgendeinem Grund hätte Luke am liebsten laut gejubelt.
»Mann, du bist der Größte«, schrie er übermütig als Mouse aus der Kabine kletterte, und wirbelte im nächsten Moment wie ein angriffsbereiter Boxer herum, als im Haus ein Licht aufflammte. In der Tür erschien eine Gestalt. »Wer ist das?«
»LeClerc.« Mouse klapperte mit den Schlüsseln in seiner Hosentasche und ging zum Tor, um die Eisentüren zu schließen.
LeClerc kam näher. »Ihr seid also wieder da.« Luke stand vor einem kleinen Mann mit grauem Haar und Vollbart, einem schneeweißen T-Shirt und ausgebeulten grauen Hosen, die von einem Stück Tau festgehalten wurden. In seinen Worten schwang ein leichter Akzent mit. »Und ihr habt bestimmt Hunger, oder?«
»Haben nicht gerade gefastet«, lachte Mouse.
»Na, um so besser.« LeClercs Gang war steif, und er hinkte ein wenig. Luke nahm an, daß er sicher zehn Jahre älter war als Max. Sein Gesicht erschien ihm wie eine ramponierte Landkarte, auf der Hunderte von eingefahrenen Straßen verzeichnet waren. Die scharfen braunen Augen unter den buschigen Brauen standen weit auseinander.
LeClerc betrachtete den mageren Jungen, der mit wachsamem Blick dastand, um entweder jederzeit davonzulaufen oder zu kämpfen.
»Und wer ist das?«
»Das ist Luke«, sagte Max, der mit der schlafenden Roxanne im Arm aus dem Wohnwagen kam. »Er gehört jetzt zu uns.« Die beiden Männer wechselten einen Blick und verstanden sich ohne weitere Worte.
»Noch einer, aha.« LeClercs Lippen verzogen sich zu einem kleinen Lächeln, ohne daß er seine Pfeife aus dem Mund nahm. »Na ja. Und wie geht's meinem bébé?«
Roxanne streckte noch halb schlafend die Arme aus und wurde von LeClerc in Empfang genommen. Sie schmiege sich an seine hagere Gestalt, als sei er ein Federkissen. »Kriege ich ein Beignet?«
»Ich mache eins nur für dich.« LeClerc nahm seine Pfeife aus dem Mund, um sie auf die Wange zu küssen. »Dir geht's wieder besser, ja?«
»Ich hatte ewig lange Windpocken. Ich werde nie, nie wieder krank.«
»Ich gebe dir ein Gris-gris. Solch ein Amulett schützt dich vor allen bösen Einflüssen.« Er strahlte, als Lily aus dem Wohnwagen kam. Sie trug einen schweren Kosmetikkoffer, und über ihrem Arm hing eines ihrer seidenen Negligés. »Ah, Mademoiselle Lily.« LeClerc gelang es trotz des Kindes, sich zu verbeugen. »Hübscher als je zuvor.«
Kichernd hielt sie ihm die Hand hin, die er mit Nachdruck küßte. »Schön, wieder daheim zu sein, Jean.«
»Kommt rein, kommt rein. Ich mache ein schönes Mitternachtsessen für euch.«
Max ging voraus über den Hof, in dem in Hülle und Fülle Rosen, Lilien und Begonien blühten. Eine kleine Treppe führte zu einer Tür, durch die man in die Küche kam. Dort brannte ein Licht, das sich auf blankgeputzten weißen Kacheln und dunklem Holz spiegelte.
Auf einem kleinen Herd aus Ziegeln, die früher einmal rot gewesen waren, jedoch durch die Hitze im Lauf der Zeit ein sanftes Graurosa angenommen hatten, stand eine beleuchtete Plastikstatue der Heiligen Jungfrau und eine indianische Rassel, geschmückt mit Perlen und Federn.
Es war herrlich kühl in diesem Raum, und trotzdem hätte Luke schwören können, daß er den verlockenden Duft von frischgebackenem Brot roch.
Getrocknete Sträuße aus Kräutern und Gewürzen baumelten neben Zwiebel- und Knoblauchzöpfen von der Decke herab, an eisernen Haken über dem Herd hingen glänzende Kupfertöpfe. Ein weiterer Topf stand auf der hinteren Platte. Was auch immer dort kochte, es roch einfach paradiesisch. Ein mächtiger Tisch in der Mitte des Raums war bereits mit Schüsseln und Tellern gedeckt, neben denen hellkarierte Leinenservietten lagen. LeClerc, der Roxanne immer noch auf dem Arm hatte, holte einen weiteren Teller und Besteck aus dem Schrank.
»Gumbo«, seufzte Lily und legte Luke einen Arm um die Schultern. Sie wünschte sich so sehr, daß er sich hier zu Hause fühlte. »Niemand kocht so gut wie Jean. Warte nur, bis du es probiert hast, Luke. Wenn ich nicht aufpasse, platze ich innerhalb einer Woche regelrecht aus meinem Kostüm.«
»Aber heute abend machst du dir darüber keine Sorgen, sondern ißt.« LeClerc setzte Roxanne auf einen Stuhl, nahm zwei dicke Tücher und hob den Topf vom Herd.
Luke betrachtete fasziniert die Tätowierung, die von seinem schmalen Handgelenk bis hinauf zur Schulter reichte. Es waren Vipern in etwas verblaßtem Blau und Rot, die sich über die ledrige Haut schlängelten.
Sie wirkten so lebendig, als könnten sie in jedem Moment loszischen.
»Gefälles dir?« LeClercs Augen blitzten fröhlich, als er Luke musterte. »Schlangen sind flink und schlau. Bringen mir Glück.« Er stieß einen zischenden Laut aus, als er Luke seinen Arm hinstreckte. »Für dich sind Schlangen aber nichts, Junge.« Lachend teilte er das dicke würzige Gumbo aus. »Du hast einen jungen Wolf mitgebracht, Max. Man muß aufpassen, daß er nicht zubeißt.«
»Ein Wolf braucht sein Rudel.« Max deckte einen Korb auf, in dem ein goldbrauner Brotlaib lag, und reichte ihn Lily.
»Und was bin ich, LeClerc?« Roxanne, die jetzt hellwach war, löffelte eifrig ihr Gumbo.
»Du?« Ein sanftes Lächeln überzog das zerfurchte Gesicht, als er mit seiner breiten knorrigen Hand über ihr Haar strich. »Mein kleines Kätzchen.«
»Bloß ein Kätzchen?«
»Nun, Kätzchen sind klug, tapfer und gescheit, und manche wachsen zu Tigern heran.«
Ihre Miene hellte sich auf, und sie blickte Luke aus geschlitzten Augen an. »Und Tiger können Wölfe fressen.«
Als der Mond langsam unterging und selbst die leise Musik aus der Bourbon Street allmählich verstummte, setzte sich LeClerc im Hof auf eine Marmorbank, die umgeben war von seinen geliebten Blumen.
Zwar war Max der Besitzer des Hauses, aber erst Jean LeClerc hatte daraus ein Zuhause gemacht, in einem ganz eigenen, unnachahmlichen Stil. Dabei hatte er sich zwar nach Max' Vorliebe für gediegene Eleganz gerichtet, doch inspiriert hatten ihn vor allem die Erinnerungen an seine lange zurückliegende Kindheit in einer Hütte in den Bayous, an wildwachsende Blumen, die seine Mutter in Plastiktöpfen zog, an Düfte von Kräutermischungen und Gewürzen, an Stoffe und spiegelblank polierte Hölzer.
LeClerc wäre gern wieder in die Sümpfe zurückgekehrt, aber er konnte sich ein Leben ohne Max und seine Familie nicht mehr vorstellen.
Zufrieden rauchte er seine Pfeife und lauschte auf die Geräusche der Nacht. Eine leise Brise raschelte in den Blättern der Magnolien, linderte ein wenig die Hitze und versprach den ersehnten Regen. Die hohe Luftfeuchtigkeit, die Ziegel und Mörtel im Französischen Viertel allmählich verwittern ließ, hing wie ein Nebel über der Stadt.
Er hatte Max nicht kommen hören, obwohl er Ohren wie ein Luchs besaß, doch er spürte seine Gegenwart.
»Also, was willst du mit dem Jungen anfangen?« fragte er und betrachtete die Sterne.
»Ihm eine Chance geben«, erwiderte Max. »Die gleiche Chance, die du mir vor vielen, vielen Jahren gegeben hast.«
»Seine Augen würden am liebsten alles verschlingen, was sie sehen. Das könnte gefährlich werden.«
Max setzte sich zu LeClerc auf die Bank. »Willst du, daß ich ihn wegschicke?«
»Jetzt ist es zu spät für solche Überlegungen.«
»Lily hat ihn liebgewonnen«, begann Max und wurde von LeClercs grollendem Lachen unterbrochen.
»Nur Lily, mon ami?«
Max zündete sich eine Zigarre an. »Ich hab den Jungen gern.«
»Du liebst ihn«, verbesserte LeClerc. »Und das ist nur zu verständlich, denn wenn du ihn anschaust, siehst du dich selbst. Er weckt Erinnerungen in dir.«
Es fiel Max schwer, das zuzugeben. »Er erinnert mich daran, nichts zu vergessen. Wenn du den Schmerz vergißt, die Einsamkeit, die Verzweiflung, vergißt du, dankbar dafür zu sein, daß das alles hinter dir liegt. Das hast du mir beigebracht, Jean.«
»Und mein Schüler hat seine Lektion so gut gelernt, daß er jetzt klüger ist als sein Meister. Sehr schön.« LeClerc wandte den Kopf, und seine dunklen Augen leuchteten. »Wirst du dich auch darüber freuen können, wenn er dich eines Tages übertrifft?«
»Ich weiß nicht.« Max blickte auf seine Hände hinab. Es waren gute Hände, beweglich, flink und geschickt. Er wagte nicht, daran zu denken, wie er es verkraften würde, wenn er einmal alt wurde. »Ich habe angefangen, ihm das Zaubern beizubringen. Ob ich ihm eines Tages auch das andere beibringe, habe ich noch nicht entschieden.«
»Vor diesen Augen wirst du nicht lange Geheimnisse bewahren können. Was hat er gemacht, als du ihn gefunden hast?«
Max mußte lächeln. »Sich als Taschendieb betätigt.«
»Ah.« LeClerc grinste. »Also ist er bereits einer von uns. Ist er so gut, wie du damals warst?«
»Vielleicht sogar besser«, gab Max zu. »Er ist dreister und hat weniger Angst. Aber es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man Brieftaschen auf einem Rummelplatz klaut oder in Villen und feine Hotels einbricht.«
»Dir hat dieser Schritt damals keinerlei Mühe gemacht. Bereust du etwas, mon ami?«
»Absolut nichts«, lachte Max. »Ist das eigentlich normal?«
»Du bist nun einmal zum Stehlen geboren«, entgegnete LeClerc schulterzuckend. »Genauso wie zum Zaubern. Und offensichtlich liegt es dir ebenso, Streuner aufzulesen. Es ist schön, daß du wieder zu Hause bist.«
»Ich freue mich auch, wieder daheim zu sein.«
Einen Moment lang saßen sie schweigend und in Gedanken versunken nebeneinander. Dann kam LeClerc wieder zur Sache.
»Die Diamanten, die du aus Boston geschickt hast, waren außergewöhnlich.«
»Ich fand die Perlen aus Charleston besser.«
»O ja«, seufzte LeClerc. »Sie waren prachtvoll, aber die Diamanten hatten solch ein Feuer, daß es mir direkt weh getan hat, Geld dafür zu nehmen.«
»Und was hast du bekommen?«
»Zehntausend. Für die Perlen leider nur fünf.«
»Die Freude, sie in den Händen zu halten, wiegt mehr als der Profit.« Er erinnerte sich mit Vergnügen daran, wie majestätisch sie einen Abend lang auf Lilys Haut ausgesehen hatten. »Und die Gemälde?«
»Zweiundzwanzigtausend. Ich persönlich fand die Bilder allerdings eher primitiv. Diese englischen Maler besaßen keine Leidenschaft«, fügte er hinzu und tat die Landschaft von Turner mit einem Schulterzucken ab. »Die chinesische Vase behalte ich noch für eine Weile. Hast du die Münzsammlung mitgebracht?«
»Nein. Als Roxanne krank wurde, habe ich diese Sache gestrichen.«
»War sicher besser«, nickte LeClerc. »Die Sorge um sie hätte dich nur abgelenkt.«
»Vermutlich. Also, bis die Vase abgesetzt ist, beträgt der Zehnt … dreitausendsiebenhundert.« Angesichts von LeClercs mürrischem Gesicht mußte Max lächeln. »Das ist nun wirklich nicht der Rede wert.«
»Bis Ende des Jahres wirst du auf diese Weise fünfzehntausend weggeschmissen haben, mindestens. Zähl mal zusammen, welche Summe bei deinen ewigen zehn Prozent in den vielen Jahren schon zusammengekommen ist. Und alles nur, um dein Gewissen zu beruhigen.«
»Ein kleines Almosen«, verbesserte Max ihn fröhlich. »Ich mache es nicht, um mein Gewissen zu beruhigen, sondern aus reiner Freude am Schenken. Ich bin ein Dieb, Jean, und zwar ein ausgezeichneter, der nichts von den Leuten hält, die er bestiehlt. Dafür aber um so mehr von denen, die nichts besitzen.« Er musterte die glühende Spitze seiner Zigarre. »Ich kümmere mich zwar nicht besonders um die moralischen Maßstäbe des anderen, aber ich habe durchaus eigene moralische Prinzipien.«
»Die Kirche, der du deinen Zehnt gibst, lehrt, daß du in der Hölle landest.«
»Ich habe mich schon aus schlimmeren Zwangslagen befreit.«
»Das ist kein Scherz.«
Max unterdrückte ein Lächeln, als er aufstand. Er wußte, daß LeClercs Religiosität die ganze Skala vom Katholizismus bis zu Voodoo umfaßte und allen erdenklichen Aberglauben noch dazu. »Dann betrachte es als eine Art Versicherung. Vielleicht wird meine sentimentale Großzügigkeit uns beiden mal einen kühleren Platz im Jenseits verschaffen. Gehen wir schlafen.« Er legte LeClerc die Hand auf die Schulter. »Morgen erzähle ich dir, was ich für die nächsten Monate geplant habe.«
Luke wußte, daß er im Himmel gelandet war. Es gab am nächsten Tag nichts für ihn zu tun, und so streifte er im Haus umher und verschlang dabei die Beignets, die er sich aus der Küche geholt hatte. Die Spur aus Puderzucker, die er hinterließ, zog sich vom ersten Stock die Treppe hinauf bis auf einen der großen, blumengeschmückten Balkone und wieder zurück.
Er konnte sein Glück einfach nicht fassen.
Er hatte ein eigenes Zimmer bekommen und den Großteil der Nacht nur alles staunend angeschaut … das hohe geschnitzte Kopfbrett des Betts, die glänzende Tapete, das gedämpfte Muster des Teppichs, den großen Schrank, in den nach Lukes Schätzung mehr Kleider hineinpaßten, als irgendwer in seinem ganzen Leben brauchen konnte.
Und dann stand noch eine große blaue Vase voller Blumen im Zimmer. Er hatte noch nie Blumen im Zimmer gehabt, und eigentlich war das auch eher was für Mädchen. Aber trotzdem gefiel es ihm.
Luke huschte lautlos wie ein Gespenst durch das Haus. Er war sich noch nicht ganz sicher, wie er LeClerc einschätzen sollte und ging ihm daher auf seinen Erkundungsstreifzügen möglichst aus dem Weg.
Er bewunderte die eleganten Möbel, obwohl er nicht einmal wußte, daß es sich dabei um französische und englische Antiquitäten handelte. Aber er fand, daß diese prächtig schimmernden Tische, die zierlichen Sofas, die hübschen Porzellanlampen und die idyllischen Landschaftsgemälde genau zu Max paßten.
Sein Lieblingsplatz war jedoch der Balkon draußen vor seinem Zimmer. Dort konnte er die Sonne genießen, die Blumen riechen und Touristen beobachten, die Fotos machten und Souvenirs erstanden.
Unwillkürlich fiel ihm auf, wie sorglos alle mit ihren Geldbörsen umgingen. Frauen steckten sie in Handtaschen, die ihnen über die Schultern baumelten. Männer schoben sie in die Gesäßtaschen ihrer Jeans … es war das reinste Paradies für jeden Taschendieb. Wenn aus Miami nichts wurde, konnte er hier mühelos sein Gehalt als Zauberlehrling aufbessern.
»Du bist überall voll Zucker«, erklang Roxannes Stimme hinter ihm.
Luke fuhr zusammen. Er warf einen Blick auf seine Hände und wischte sie hastig an seinen Jeans ab. »Na und?«
»LeClerc wird toben. Zucker zieht Insekten an.«
»Ich mache es nachher sauber.«
Sie kam zu ihm ans Geländer. »Was tust du hier?«
»Einfach gucken.«
»Daddy sagt, wir können uns den ganzen Tag freinehmen. Morgen müssen wir mit den Proben für die neue Kabarettnummer im Club anfangen.«
»In welchem Club?«
»Im Magic Door.« Sie spielte mit den Blumen, die sich um das Geländer rankten. »Wir können dort größere Illusionen machen als auf dem Jahrmarkt. Manchmal geht Daddy auch während des Tages rüber und führt Taschenspielereien für einige Gäste vor.«
Luke vergaß seine Furcht vor LeClercs Ärger und möglichen Strafen. Er wußte nicht, welche Rolle er in einer Kabarettnummer spielen würde, aber er wollte auf alle Fälle mit dabeisein. »Wie viele Vorstellungen pro Abend?«
»Zwei.« Sie hatte eine Clematisblüte abgepflückt und versuchte, sie hinter ihr Ohr zu stecken. »Um acht und um elf. Wir sind die Stars des Programms.« Sie zog eine Grimasse. »Deshalb muß ich jeden Tag nach der Schule ein Nickerchen machen. Wie ein Baby.«
Roxannes Probleme waren Luke herzlich gleichgültig. »Macht er auch die Kartentricks?«
Sie schlenderte zurück ins Zimmer, um ihren Blumenschmuck im Spiegel zu betrachten. »Oh, er erfindet andere.«
Luke nickte. In seinem Kopf entstand ein Plan. Er beherrschte die Tricks, die Roxanne ihm auf sein ständiges Drängen hin gezeigt hatte, schon ziemlich gut. Und er hatte täglich mindestens eine Stunde mit den Hütchen geübt. Er mußte es Max nur mal zeigen. Es wäre schrecklich, wenn man ihn jetzt aus der Nummer strich.
»Daddy hat mir Geld für Eis gegeben. Sollen wir losgehen und uns eins kaufen?«
»Nein.« Luke war viel zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, um sich von dieser Einladung ablenken zu lassen. »Verschwinde, ja? Ich muß nachdenken.«
»Um so mehr kriege ich«, erwiderte Roxanne spitz und trollte sich schmollend.
Sobald er allein war, zog Luke seine Karten heraus und begann zu üben. Doch er hatte kaum angefangen, als er erneut abgelenkt wurde.
Es war eine Stimme, eine Stimme, die ihm durch Mark und Bein ging. Er versuchte sie zu überhören, aber er war wie hypnotisiert von diesem volltönenden Alt, der nur für ihn allein zu erklingen schien. Wie magisch angezogen trat er hinaus auf den Balkon.
Er entdeckte sie sofort. An der Ecke stand eine Frau in einem wallenden geblümten Kleid, mit einem roten Turban auf dem Kopf und einer Haut wie schimmerndes Ebenholz. Sie sang hingebungsvoll und ohne jede Begleitung Gospels, eine Pappschachtel zu ihren Füßen.
Er war bis ins Innerste berührt von ihrem Gesang. Etwas so Schönes hatte er noch nie zuvor gehört.
Die Stimme schwebte durch das ganze Viertel. Die Frau machte weder eine Pause, als sie eine kleine Zuhörerschar angelockt hatte, noch achtete sie auf die Münzen, die in ihre Schachtel regneten.
Luke überlief eine Gänsehaut, und seine Kehle war wie zugeschnürt.
Hastig rannte er ins Zimmer und kramte aus dem Beutel, den er unter dem Kopfkissen versteckt hatte, einen zerknüllten Dollarschein heraus. Dann lief er hinaus in den Flur und stürmte die Treppe hinunter.
In der Halle entdeckte er Roxanne, die Puderzucker aufwischte, während LeClerc sie beaufsichtigte und ihr eine Strafpredigt hielt.
»Gegessen wird in der Küche, nicht im ganzen Haus. Sieh zu, daß du auch alle Krümel auffegst, hörst du?«
»Mache ich ja.« Sie hob den Kopf, um Luke die Zunge rauszustrecken.
Sein Herz war so erfüllt von dieser Musik, und gleichzeitig war er so verwirrt darüber, daß Roxanne ihn nicht verpetzte, daß er die letzte Stufe verfehlte. Mit einem erstickten Aufschrei streckte er den Arm aus, um sich abzufangen. Luke kam es vor, als geschehe das folgende in Zeitlupe. Er sah die blutroten Rosen in der Kristallvase, die im Sonnenlicht funkelte, sah entsetzt, wie seine Hand dagegen schlug, spürte das kühle Glas an seinen Fingern und stieß ein verzweifeltes Stöhnen aus, als sie umkippte.
Mit einem Krachen wie ein scharfer Pistolenschuß zerschmetterte die Vase auf dem Holzboden. Regungslos starrte Luke auf die glitzernden Scherben zu seinen Füßen.
Luke brauchte kein Französisch zu verstehen, um zu wissen, daß die Worte, die LeClerc ausstieß, ziemlich wilde Flüche waren. Er rannte nicht davon, er rührte sich nicht einmal von der Stelle, sondern wartete völlig versteinert darauf, geschlagen zu werden.
»Was fällt dir ein, wie ein Wilder durch das Haus zu toben! Sieh dir an, was du gemacht hast – die Waterford zerbrochen, die Rosen zerknickt, und der ganze Boden steht unter Wasser. Imbécile!«
»Jean«, ertönte Max' ruhige Stimme.
»Die Waterford, Max!« LeClerc kauerte sich hin. »Der Junge ist gerannt, als seien alle Höllenhunde hinter ihm her. Ich sage dir, er braucht dringend …«
»Jean«, wiederholte Max. »Genug. Schau dir sein Gesicht an.« LeClerc sah, daß der Junge weiß wie ein Gespenst war. Seine dunklen Augen wirkten starr und leblos. Seufzend richtete er sich auf. »Ich hole eine andere Vase«, brummte er und ging davon.
»Daddy.« Roxanne griff erschrocken nach der Hand ihres Vaters. »Warum sieht er so komisch aus?«
»Schon gut, Roxy. Lauf zu.«
»Aber Daddy …«
»Lauf schon«, wiederholte er und gab ihr einen kleinen Schubs.
Roxanne ging zurück ins Wohnzimmer, doch gleich hinter der Tür blieb sie stehen. Diesmal war ihr Vater viel zu abgelenkt, um es zu bemerken.
»Du enttäuschst mich, Luke«, sagte Max ruhig.
Luke zuckte zusammen. Die Traurigkeit in Max' Stimme traf ihn viel mehr als Beschimpfungen oder Schläge. »Es tut mir leid«, flüsterte er erstickt. »Ich kann dafür bezahlen. Ich habe Geld.«
Schick mich nicht weg, bat er mit stummen Blicken. Bitte, schick mich nicht weg.
»Was tut dir leid?«
»Ich habe nicht aufgepaßt, wo ich hingelaufen bin. Ich bin ungeschickt. Und dumm.« Und alles andere, was man ihm während der zwölf Jahre seines kurzen Lebens ständig vorgehalten hatte. »Es tut mir leid«, wiederholte er und wartete immer verzweifelter auf die Schläge oder – was noch schlimmer, sehr viel schlimmer wäre – auf den Stoß zur Tür hinaus.
»Ich hab mich nur so beeilt, weil ich Angst hatte, sie würde weggehen.«
»Wer?«
»Die Frau. Die an der Ecke singt. Ich wollte …« Luke merkte, wie absurd das alles klang und schaute hilflos auf den zerknüllten Geldschein in seiner Hand.
»Ich verstehe.« Und weil er wirklich verstand, war Max tief gerührt. »Sie singt oft dort. Du wirst sie bald wieder hören.«
Unsicher und bestürzt schaute Luke auf. Der kleine Funken Hoffnung machte seine Angst noch größer. »Ich darf – ich darf bleiben?«
Mit einem tiefen Atemzug bückte sich Max und hob eine Kristallscherbe auf. »Was siehst du hier?«
»Sie ist zerbrochen. Ich habe sie zerbrochen. Ich denke nie an irgend jemand anderen außer an mich selbst, und ich …«
»Hör auf.«
Luke zuckte zusammen und begann zu zittern. Wenn Max ihn schlug, würde er es nicht wie gewohnt einfach abschütteln und vergessen können. Dann wären all seine Hoffnungen zerstört.
»Sie ist zerbrochen«, sagte Max mit bemühter Ruhe. »Und es ist wohl wahr, daß du sie zerbrochen hast. Hast du es mit Absicht getan?«
»Nein, aber ich …«
»Schau dir das an.« Er hielt Luke die Scherbe hin. »Es ist ein Stück Glas. Eine Vase ist ein Gegenstand, den jeder gegen entsprechende Bezahlung erwerben kann. Glaubst du, du bedeutest mir weniger als diese Scherben hier?« Ärgerlich warf er sie beiseite. »Denkst du so gering von mir, daß du glaubst, ich würde dich schlagen, weil du ein Stück Glas zerbrochen hast?«
»Ich …« Luke hatte Mühe zu atmen, so stark war der Druck in seiner Brust. Er konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten, auch wenn er sich deswegen noch so sehr schämte. »Bitte, schick mich nicht weg.«
»Mein lieber Junge, weißt du nach all diesen Wochen, die du mit mir zusammen bist, immer noch nicht, daß ich anders bin als sie?«
Luke brachte kein Wort heraus und senkte den Kopf.
»Ich habe das gleiche hinter mir wie du.« Max spürte, daß es Zeit war für den nächsten Schritt und zog ihn an sich. Der Junge erstarrte automatisch in seiner tiefsitzenden Angst. Doch sie begann langsam zu verschwinden, als Max ihn behutsam mit sich auf eine Treppenstufe zog. »Niemand wird dich wegschicken. Du bist hier sicher.«
Er wußte, daß er sich schämen sollte, sein Gesicht wie ein Baby an Max' Brust zu drücken und zu heulen. Aber es war ein gutes Gefühl, diese starken Arme um sich zu spüren.
Was für ein merkwürdiger Junge das ist, wunderte Max sich, den ein Lied so rührt, daß er sich deswegen sogar von einem seiner kostbaren Dollars trennen würde. Wie tief mußte er durch die gedankenlosen Grausamkeiten von Erwachsenen verletzt worden sein.
»Kannst du mir erzählen, was sie mir dir gemacht haben?«
Luke wünschte sich im Augenblick nichts sehnlicher, als daß Max ihn verstand. »Ich konnte nichts machen. Ich konnte nichts dagegen tun.«
»Ich weiß.«
Während die Tränen über seine Wangen liefen, flammte der alte Zorn in ihm auf. »Sie haben mich die ganze Zeit geschlagen. Wenn ich etwas gemacht hatte, wenn ich nichts gemacht hatte, wenn sie betrunken waren, wenn sie nüchtern waren.« Er klammerte sich mit aller Kraft an Max' Hemd. »Manchmal haben sie mich eingesperrt, und ich habe an die Schranktür geschlagen und gebettelt, mich rauszulassen. Ich konnte nicht raus. Ich konnte nie raus.«
Er zitterte bei der Erinnerung daran, wie er haltlos weinend in dem dunklen Schrank gekauert hatte, der ihm wie ein Sarg vorgekommen war.
»Wenn mal ein Sozialarbeiter kam und ich nicht das Richtige sagte, ist er mit dem Gürtel auf mich los. Das letzte Mal … das letzte Mal, ehe ich weglief, habe ich gedacht, er bringt mich um. Und das wollte er auch. Ich weiß, daß er es wollte, ich konnte es ihm ansehen. Aber ich weiß nicht, warum. Ich weiß nicht, warum.«
»Es war nicht deine Schuld. Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen.« Max streichelte dem Jungen über den Kopf und kämpfte gegen seine eigenen Erinnerungen. »Man erzählt Kindern immer, es gebe keine Monster, weil man es entweder selbst glaubt oder weil man will, daß das Kind sich sicher fühlt. Aber es gibt Monster, Luke, und am erschreckendsten ist, daß sie wie ganz normale Menschen aussehen.« Er hielt den Jungen ein Stück von sich weg und betrachtete sein gequältes Gesicht. »Aber das alles ist jetzt vorbei.«
»Ich hasse ihn.«
»Das ist dein gutes Recht.«
Luke öffnete den Mund, aber die ungeheure Scham schnürte ihm die Kehle zu. Doch als er in Max' Augen blickte, die ihn so ruhig und verständnisvoll anschauten, begann er zu sprechen. »Er … einmal hat er abends einen Mann mitgebracht. Es war spät, und sie waren betrunken. Al ist rausgegangen und hat die Tür abgeschlossen. Und der Mann … er wollte …«
»Schon gut.« Er versuchte, Luke wieder an sich zu ziehen, aber der Junge war vor Entsetzen erneut wie erstarrt.
»Er hat mich mit seinen feisten Händen betatscht und wollte mich küssen.« Luke wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Er hat gesagt, daß er Al bezahlt hat, und ich soll ihn nur machen lassen. Und ich sei dumm, weil ich nicht wisse, was er meint.«
Seine Tränen waren versiegt, und er empfand nur noch den Zorn, einen maßlosen, brennenden Zorn. »Ich verstand nichts, bis er sich auf mich wälzte. Ich dachte, er wollte mich ersticken, aber dann …« Das Grauen in Erinnerung an den schwitzenden, nach Gin stinkenden Mann mit den gierig tastenden Händen ließ ihn verstummen.
»Dann wußte ich's. Ich wußte es.« Er ballte die Hände zu Fäusten, so daß sich die Nägel tief in seine Handflächen gruben. »Ich hab ihn geschlagen und geschlagen, aber er hat nicht aufgehört, ich habe gebissen und geschrien, meine Hände waren voller Blut, und er hielt sich das Gesicht und schrie ebenfalls. Dann ist Al reingekommen und hat mich verprügelt. Und ich kann mich nicht erinnern … ich weiß nicht, ob …« Das war das Schlimmste, daß er es nicht wußte. »In dieser Nacht wollte er mich umbringen. Da bin ich weggelaufen.«
Max schwieg lange Zeit, so lange, daß Luke befürchtete, er habe viel zuviel erzählt. Vielleicht verachtete Max ihn jetzt. Doch schließlich sagte er: »Du hast alles richtig gemacht.«
Seine Stimme klang so verständnisvoll, daß Luke abermals die Tränen in die Augen schossen. »Und das kann ich dir versprechen. Niemand wird dich je wieder anfassen, solange du bei mir bist. Und ich werde dir zeigen, wie man aus dem Schrank rauskommt.« Max blickte ihm fest in die Augen. »Niemand soll dich je wieder einsperren können.«
Luke wollte etwas sagen, aber die Worte blieben ihm in der Kehle stecken. Doch er zwang sich zu reden. Er mußte es wissen, sein ganzes Leben hing davon ab. »Ich kann bleiben?«
»Bis du von selbst gehen willst.«
Seine Dankbarkeit war so ungeheuer, daß er glaubte, er würde platzen. »Ich bezahle die Vase«, stieß er hervor. »Ich verspreche es.«
»Das hast du bereits. Jetzt lauf, und wasch dir das Gesicht. Wir machen hier am besten Ordnung, ehe LeClerc noch einen Wutanfall kriegt.«
Max blieb auf den Stufen sitzen, nachdem Luke die Treppe hinaufgelaufen war. Von ihrem Versteck im Wohnzimmer aus hörte Roxanne ihren Vater seufzen. Sie weinte.