DRITTES KAPITEL
In der kurzen Zeit, die Sam bei den Nouvelles war, hatte er bereitwillig jede erdenkliche Aufgabe übernommen, hatte ständig ein freundliches Lächeln zur Schau getragen und immer ein schmeichelndes Wort parat gehabt. Er hatte verständnisvoll zugehört, als Lily ihm von Lukes Vergangenheit erzählte, und ihr Herz gewonnen, indem er eine Geschichte über eine tote Mutter und einen brutalen Vater erfand – was seinen Eltern schlicht die Sprache verschlagen hätte, die in einem bescheidenen Haus in Bloomfield in New Jersey lebten und niemals in den sechzehn Jahren, die er unter ihrem Dach gewohnt hatte, eine Hand im Zorn gegen ihn erhoben hatten. Er hatte dieses spießige Leben gehaßt und seine Eltern nur verachtet. Sie hingegen waren ruhige, hart arbeitende Menschen, die sein Verhalten einfach nicht begreifen konnten. Seit er zum Teenager geworden war, hatte er ihnen mit seinem rebellischen Verhalten nur Kummer gemacht. Mit vierzehn stahl er zum erstenmal das Auto und fuhr Richtung Manhattan. Er hätte es vielleicht sogar bis dorthin geschafft, wenn er so klug gewesen wäre, die Maut für den Tunnel zu zahlen. Die Polizei hatte ihn zurück nach Bloomfield gebracht. Danach war er nur noch verstockter und aufsässiger geworden.
Sam entwickelte sich zu einem geschickten Ladendieb, stahl Uhren, Modeschmuck, Make-up und verkaufte dann anschließend alles billig an Schulkameraden.
Zweimal war er in die Schule eingebrochen und hatte dort aus reinem Vergnügen die Fenster eingeschlagen oder Wasserrohre zerstört. Er war klug genug, nicht mit seinen Heldentaten zu prahlen und stets so höflich zu seinen Lehrern, daß nie ein Verdacht auf ihn fiel.
Zu Hause führte er sich ganz anders auf und brachte seine Mutter regelmäßig zum Weinen. Seine Eltern wußten, daß er sie bestahl. Mal fehlte ein Zwanziger aus der Geldbörse, Nippsachen oder ein Schmuckstück verschwanden. Sie konnten nicht begreifen, warum er sich so benahm, da er doch alles hatte, was er brauchte. In Wirklichkeit ging es ihm auch gar nicht um das Stehlen selbst, er hatte seine Freude daran, andere zu quälen.
Seine Eltern wollten ihm von einem Psychologen helfen lassen, doch wenn sie es geschafft hatten, ihn dorthin zu schleppen, starrte er nur stumm vor sich hin. Als er sechzehn war, lehnte seine Mutter es ab, ihm das Auto zu geben. Da schlug er ihr ein blaues Auge, nahm die Schlüssel und fuhr davon. In der Nähe der Grenze zu Pennsylvania hatte er das Auto stehenlassen und war nie wieder zurückgekehrt.
Mittlerweile verschwendete er keinen Gedanken mehr an seine Eltern, es gab keine Erinnerungen an Weihnachten, an Geburtstage oder Reisen ans Meer. Sam war dies alles so gleichgültig, als ob es nie existiert hätte.
Die Nouvelles versorgten ihn mit Taschengeld und boten ihm einen erstklassigen Unterschlupf. So hatte er Zeit, in Ruhe seine nächsten Schritte zu planen. Da sie sich seiner Ansicht nach von ihm ausnutzen ließen, verachtete er sie genausosehr wie er die beiden Menschen verachtet hatte, denen er das Leben verdankte.
Am meisten haßte er Luke, obwohl er selbst nicht wußte, warum. Aber er wollte auch gar nicht darüber nachdenken. Doch da er spürte, daß Roxanne auf mädchenhafte Weise für Luke zu schwärmen begonnen hatte, setzte Sam alles daran, sie ihm abspenstig zu machen.
Außerdem hielt er sie für das schwächste Glied der Gruppe. Er widmete ihr Zeit und Aufmerksamkeit, hörte ihr zu, bewunderte ihre Geschicklichkeit beim Zaubern und schmeichelte ihr so lange, bis sie ihm ein paar Tricks zeigte. So gewann er allmählich ihr Vertrauen, und sie empfand immer mehr Zuneigung für ihn.
Gegen Ende seines zweiten Monats in New Orleans beschloß er, daß es Zeit war, sich ihre Einfältigkeit zunutze zu machen. Er ging ihr oft entgegen, wenn sie aus der Schule kam, wofür Max und Lily ihm besonders dankbar waren. So auch an einem kühlen, feuchten Wintertag, an dem die Menschen die Straßen entlanghasteten, um in ihre warmen Häuser zu kommen. Roxanne blieb zum Schutz vor dem Nieselregen unter den Markisen und betrachtete die Schaufenster. Viele Ladeninhaber kannten sie gut und freuten sich über ihre Besuche.
Sam entdeckte sie schon von weitem und machte sich in bester Stimmung daran, seinen Plan in die Tat umzusetzen. »Hallo, Rox, wie war's in der Schule?«
»Ganz okay.« Sie lächelte ihm zu.
Einer der Läden an der Royal Street war vollgestopft mit allerlei Trödel. Die Inhaberin besserte ihr Einkommen auf, indem sie nebenbei Tarotkarten legte und aus der Hand las. Sam hatte sich diesen Laden ausgesucht, weil Madame D'Amour nur selten Kundschaft hatte und Roxanne oft bei ihr hereinschaute.
»Willst du dir nicht mal wieder die Karten legen lassen?« grinste er. »Vielleicht kannst du herausfinden, wie du bei der letzten Arbeit abgeschnitten hast?«
»Ich frage nie solch dummes Zeug.«
»Du könntest fragen, wann du einen Freund kriegst.« Er betrachtete sie mit einem Blick, bei dem sie ein wohliger Schauder überlief, und öffnete die Tür, ehe sie weitergehen konnte. »Vielleicht verrät sie dir sogar, wann du heiratest.«
»Du glaubst doch gar nicht wirklich an die Karten«, meinte Roxanne unsicher.
»Sehen wir mal, was sie dir erzählt. Vielleicht tue ich's dann.« Madame D'Amour, deren kantiges Gesicht von großen dunklen Augen beherrscht wurde, saß hinter der Theke. Sie hatte wie üblich reichlich Rouge aufgelegt, trug einen purpurfarbenen Kaftan und eine ihrer vielen Turbane, unter dem nur ein paar Strähnen ihres tiefschwarz gefärbten Haares hervorlugten. An ihren Ohren baumelten schwere Ohrringe aus Bergkristall, und um den Hals hatte sie mehrere Silberketten geschlungen. An beiden Handgelenken klirrten Armreifen.
Sie war bestimmt über sechzig und behauptete, von Zigeunern abzustammen, was möglicherweise sogar stimmte. Roxanne war fasziniert von ihr.
Als die Türglocke läutete, blickte sie auf und lächelte. Bunte Tarotkarten lagen in einem Keltischen Kreuz vor ihr auf der Theke.
»Ich dachte mir schon, daß meine kleine Freundin mich heute besuchen kommt.«
Roxanne kam näher und betrachtete die Karten. Die übermäßige Hitze in dem kleinen Laden kümmerte sie nicht. Es roch immer so wundervoll nach dem Weihrauch, den Madame verbrannte, und nach ihrem Parfüm, das sie großzügig gebrauchte.
»Bist du gekommen, um etwas zu kaufen, oder weil du eine Antwort suchst?«
»Haben Sie Zeit für eine Lesung?«
»Für dich immer, Schätzchen. Vielleicht trinken wir dabei eine heiße Schokolade, oui?« Sie blickte hinüber zu Sam, und ihr Lächeln gefror ein wenig. Irgend etwas an dem Jungen gefiel ihr nicht, trotz seines freundlichen Lächelns und seiner hübschen Augen. »Und du? hast du auch eine Frage an die Karten?«
»Eigentlich nicht.« Er schien etwas verlegen zu sein. »Mir ist das ein wenig unheimlich. Laß dir ruhig Zeit, Rox. Ich muß noch was im Drugstore abholen. Wir sehen uns daheim.«
»Okay.« Während Madame nach den Karten griff und aufstand, ging Roxanne schon auf den Vorhang zu, der den Laden von einem Hinterzimmer trennte. »Sag Daddy, ich komme gleich.«
»Klar. Bis dann.« Ein höhnisches Grinsen überzog sein Gesicht, als der Vorhang sich hinter den beiden geschlossen hatte. Er öffnete die Ladentür ein Stück, damit die Glocke läutete, und huschte dann rasch an den Tischen vorbei zurück zur Theke. Darunter stand eine bemalte Zigarrenkiste, in der Madame die täglichen Einnahmen aufbewahrte. Die Beute war nicht sonderlich groß – das Geschäft ging an regnerischen Wintertagen schleppend –, aber Sam scharrte alles bis auf den letzten Cent in seine Tasche und blickte sich hastig um, ob er sonst noch etwas Lohnenswertes entdeckte. Am liebsten hätte er den ganzen Laden aus reiner Zerstörungslust kurz und klein geschlagen. Aber er stopfte sich nur die Jackentaschen mit einigen kleineren Nippsachen voll, ehe er wieder zur Tür schlich. Vorsichtig hielt er die Ladenglocke fest, schlüpfte hinaus und schloß die Tür leise hinter sich.
Im Laufe der nächsten Woche raubte Sam vier weitere Läden aus, häufig mit Hilfe der ahnungslosen Roxanne, die im Viertel bekannt war. Da alle sie gern mochten, konnte er damit rechnen, daß sich die Angestellten oder Ladenbesitzer mit ihr unterhielten und dadurch so abgelenkt waren, daß er sich bedienen konnte. Was immer gerade greifbar war, stopfte er sich in die Taschen, ganz egal, ob es sich dabei um wertvolle Porzellandöschen oder billige Souvenirs handelte. Es gelang ihm sogar noch einmal, eine Kasse auszuräumen, während Roxanne mit dem Ladenbesitzer im Hinterzimmer war, um eine Porzellanpuppe zu bewundern, die gerade aus Paris eingetroffen war.
Der Wert seiner Beute spielte für Sam keine Rolle, aber er hatte ungeheure Freude daran, die unschuldige vertrauensselige Roxanne als ahnungslose Komplizin zu mißbrauchen. Niemand würde jemals Maximilian Nouvelles kleinen Liebling beschuldigen, billigen Krimskrams zu klauen. Mit ihrer Hilfe konnte er sich also gewissenlos und nach Herzenslust die Taschen füllen.
Doch das beste in diesem Winter war, daß er Annabelle verführte.
Es ging ganz leicht. Er hatte nur Augen und Ohren offenhalten und die richtige Gelegenheit nutzen müssen. Wie die meisten Liebespaare hatten auch Luke und Annabelle hin und wieder Streit. Meistens ging es darum, daß sie der Ansicht war, Luke habe nicht genügend Zeit für sie. Sie quengelte zunehmend, er solle Proben ausfallen lassen oder bei den Vorstellungen früher verschwinden, weil sie mit ihm zu einer Party wollte, zum Tanzen, zu einer Ausfahrt. Trotz aller Verliebtheit war Luke jedoch viel zu professionell – sei es als Zauberer oder als Dieb –, um eine Vorstellung oder eine nächtliche Unternehmung abzusagen. Nicht einmal Annabelle zuliebe.
»Du weißt, daß ich nicht kann«, seufzte er ungeduldig und nahm den Hörer ans andere Ohr. »Ich habe dir das doch alles schon vor Tagen erklärt, Annabelle.«
»Du bist einfach bloß dickköpfig«, jammerte sie unter Tränen, und Luke fühlte sich wie der letzte Dreckskerl. »Mr. Nouvelle würde es bestimmt verstehen.«
»Weiß ich nicht«, erwiderte Luke – weil er Max gar nicht erst gefragt hatte. »Ich habe an diesem Wochenende Vorstellung, Annabelle. Soll ich etwa die Nummer platzen lassen?«
»Ich sehe schon, das Zaubern bedeutet dir mehr als ich.«
Luke hütete sich zu sagen, daß sie damit völlig recht hatte. »Es ist mein Job.«
»Lucys Party wird die größte des Jahres, und einfach alle gehen dorthin. Ihr Dad hat sogar eine richtige Band engagiert. Ich sterbe, wenn ich das verpasse.«
»Dann geh doch«, sagte Luke ungeduldig. »Ich habe dir doch gesagt, es ist okay. Ich erwarte nicht, daß du allein zu Hause sitzt.«
»Ja, klar«, schniefte sie empört. »Ohne meinen Freund auf der größten Party des Jahres aufkreuzen, wie sieht das denn aus? Ach, bitte, Schatz«, flehte sie, »könntest du dich nicht wenigstens nach der ersten Show kurz verdrücken und mich zu Lucy bringen? Dann kannst du ja wieder verschwinden.«
Die Versuchung war groß. Es würde sicher ein aufregender Abend werden. Doch Luke war klug genug, um zu wissen, daß es besser war, einer Versuchung von vornherein zu widerstehen.
»Tut mir leid, Annabelle. Ich kann nicht.«
»Du willst nicht«, erwiderte sie eisig und legte abrupt auf.
»Herrgott«, murmelte er verärgert.
»Zoff mit den Weibern?« Sam kam mit einem Apfel in der Hand aus der Küche. Zumindest schien es so. In Wahrheit hatte er das gesamte Gespräch belauscht und bereits seine Pläne geschmiedet.
»Sie kapiert es einfach nicht.« Vor lauter Wut vergaß Luke kurzfristig seine Abneigung gegen Sam. »Warum zur Hölle soll ich sämtliche Verpflichtungen über den Haufen werfen, nur weil Lucy Harbecker eine idiotische Party gibt?«
Sam biß verständnisvoll nickend in seinen Apfel. »Ach, sie wird schon drüber wegkommen.« Er versetzte Luke einen freundlichen Schubs. »Und wenn nicht, was soll's? Puppen gibt's schließlich jede Menge, stimmt's?« zwinkerte er und ging die Treppe hinauf. Heute abend würde er sich ganz sicher irgendeine Ausrede einfallen lassen, um sich vor seiner Arbeit zu drücken. Denn er wollte auf eine Party gehen.
Während Luke das Publikum im Magic Door anheizte, klopfte Sam, der angeblich Kopfschmerzen und Fieber hatte, bei Annabelle. Sie öffnete selbst mit verdrießlicher Miene und vom Weinen geschwollenen Augen.
»Ach, hallo, Sam«, schniefte sie und strich sich das Haar glatt. »Was machst du den hier?«
»Luke hat mich geschickt.« Lächelnd zog er hinter seinem Rücken einen Strauß bunter Margeriten hervor.
»Oh.« Sie nahm die Blumen und roch daran. Das war zwar nett, aber noch lange keine Entschädigung dafür, daß sie den tollsten Abend des Jahres versäumte. »Er will mich wohl damit trösten.«
»Es tut ihm wirklich leid, Annabelle. Er wäre gern auf die Party gegangen.«
»Ich auch«, fauchte sie, ehe sie seufzend die Schultern hochzog. Ihre Eltern waren heute ausgegangen, ihr selbst war der ganze Abend verdorben, und die einzige Entschädigung dafür sollte ein Strauß blöder Blumen sein. »Na ja, danke, daß du sie gebracht hast.«
»War mir ein Vergnügen. Einer hübschen Frau Blumen zu bringen, ist nicht gerade eine unangenehme Aufgabe.« Bewundernd und leicht begehrlich schaute er sie an und senkte dann hastig den Blick. »Ich gehe wohl besser wieder. Du hast sicher was vor.«
»Nein, eigentlich nicht.« Sie war geschmeichelt von seinem Blick und fand es rührend, wie er versuchte, seine Gefühle zu verbergen. Da nur ein endlos langer, öder Abend vor ihr lag, schien es albern, einen attraktiven Mann vor der Tür stehenzulassen. »Vielleicht möchtest du gern auf eine Cola reinkommen? Falls du nichts Besseres vorhast.«
»Das wäre nett. Wenn du sicher bist, daß deine Leute nichts dagegen haben?«
»Ach, die sind ausgegangen und kommen erst spät zurück.« Sie schaute kokett zu ihm auf. »Und ich freue mich über ein wenig Gesellschaft.«
»Ich auch.«
Er spielte zuerst den Schüchternen und hielt auf der Couch gebührlich Abstand, während sie zusammen Musik hörten. Allmählich ging er zu der Rolle des verständnisvollen Vertrauten über, vermied jedoch jede Kritik an Luke, da er fürchtete, daß Annabelle sonst auf ihn losgehen würde. Unter dem Vorwand, sie ein wenig für die entgangene Party zu entschädigen, forderte er sie schließlich – mit gut gespielter Unbeholfenheit – zum Tanzen auf.
Sie fand seine schüchterne Bewunderung süß und schmiegte ihren Kopf an seine Schulter. Als er sacht ihren Rücken zu streicheln begann, seufzte sie nur.
»Ich bin so froh, daß du vorbeigekommen bist. Jetzt geht's mir schon wieder viel besser.«
»Der Gedanke, daß du ganz allein und unglücklich bist, war schrecklich. Luke ist so ein Glückspilz, ein Mädchen wie dich zu haben.« Er sorgte dafür, daß seine Stimme immer unsicherer klang. »Ich … ich denke dauernd an dich, Annabelle. Ich weiß, das ist falsch, aber ich kann nichts dagegen machen.«
»Wirklich?« Ihre Augen leuchteten, als sie den Kopf hob, um ihn anzuschauen. »Was denkst du denn so?«
»Wie schön du bist.« Er näherte seinen Mund ihren Lippen und spürte, daß sie ihn nicht zurückstoßen würde. Wie dumm Frauen doch waren! Man brauchte ihnen bloß zu sagen, sie seien schön, und schon glauben sie jedes Wort. »Wenn du zu ihm nach Hause oder in den Club kommst, muß ich dich dauernd anschauen.« Er küßte sie ganz flüchtig und fuhr hastig zurück, als sei er über seine eigene Unverfrorenheit erschrocken. »Tut … mir leid«, stammelte er verlegen. »Ich sollte besser wieder verschwinden.«
Aber er rührte sich nicht von der Stelle, sondern schaute sie nur regungslos an. Und genau wie er es gehofft hatte, war sie es nun, die den ersten Schritt machte und ihre Arme um seinen Hals schlang. »Geh nicht, Sam.«
Er war süß, er war nett zu ihr, und er küßte gut. Er erfüllte also genau Annabelles Ansprüche.
Als er später mit ihr auf der Couch lag und sie nahm, erschauderte sein Körper vor Lust. Aber noch weit mehr Vergnügen bereitete es ihm, Luke auf diese Weise zu demütigen.
Während Sam sich mit der stöhnenden Annabelle auf dem rosengemusterten Sofa ihrer Mutter vergnügte, suchte Madame im Magic Door den Weg hinter die Bühne. Es war ihr mehr als unangenehm, die Überbringerin schlechter Nachrichten zu sein, und sie hatte diese Aufgabe nur übernommen, weil sie sich Sorgen um Roxanne machte. Die finanziellen Einbußen, die sie und die anderen Kaufleute im Viertel erlitten hatten, waren ihr dagegen eher gleichgültig.
»Monsieur Nouvelle?«
Max wandte sich um und erblickte Madame in der Tür seiner Garderobe. Ein freudiges Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Er stand auf, nahm ihre Hand und küßte sie. »Bonsoir, Madame, bienvenue. Ich bin entzückt über Ihren Besuch.«
»Ich wünschte, ich könnte sagen, ich sei nur gekommen, um mir die Vorstellung anzuschauen, mon ami, aber leider hat mein Besuch einen anderen Grund.«
»Gibt es ein Problem?« fragte er besorgt.
»Oui, und ich muß mich deswegen bedauerlicherweise an Sie wenden. Können wir hier reden?«
»Natürlich.« Er schloß die Tür und führte sie zu einem Stuhl.
»Anfang dieser Woche bin ich im Laden beraubt worden.«
Max fand es durchaus normal, daß ihn der Zorn packte, obwohl er selbst ein Dieb war. Madame war erstens eine Freundin und konnte sich zweitens solche Einbußen kaum leisten. »Wie hoch war Ihr Verlust?«
»Neben etlichen kleinen Schmuckstücken rund einhundert Dollar. Es ist nur eine Unannehmlichkeit, Monsieur, nicht gerade eine Tragödie. Ich habe es zwar gemeldet, aber das führt natürlich zu nichts. In unserem Beruf lernt man, Verluste zu akzeptieren. Ich hätte mich gar nicht weiter darum gekümmert, nur hörte ich ein paar Tage darauf, daß auch noch andere Läden – die Boutique in der Bourbon Street und das Rendezvous in der Conti Street – beraubt worden sind, und wieder waren es nur kleine Summen. Dann traf es den Laden nebenan, diesmal war der Verlust schon etwas beträchtlicher. Mehrere wertvolle Porzellanstücke wurden mitgenommen, dazu einige hundert Dollar Bargeld.«
Max strich sich über seinen Bart. »Hat irgend jemand die Täter gesehen?«
»Vielleicht.« Madame spielte mit dem Amulett, das sie um den Hals trug. »Als wir uns miteinander berieten, stellte sich heraus, daß jedesmal, wenn etwas verschwunden war, zuvor jemand, den wir gut kannten, im Laden gewesen war. Womöglich nur ein Zufall.«
»Ein Zufall?« Max hob eine Braue. »Das erscheint mir recht unwahrscheinlich. Warum kommen Sie damit zur mir, Madame?«
»Weil dieser Besucher Roxanne war.«
Madame preßte ihre Lippen zusammen, als sie sah, wie sich Max' Gesichtsausdruck veränderte. Verschwunden war die Besorgnis, das Interesse, der offenkundige Wunsch zu helfen. »Madame«, sagte er mit gefährlich leiser Stimme und blitzenden Augen. »Sie wagen es?«
»Ich wage es, Monsieur, weil ich das Kind liebe.«
»Trotzdem beschuldigen Sie es, sich in Läden zu schleichen und Menschen, die sie gern haben und die ihr vertrauen, zu bestehlen?«
»Nein.« Madame hob die Schultern. »Ich beschuldige sie nicht. Sie würde sich nichts heimlich einstecken, da sie genau weiß, daß sie nur zu fragen brauchte und ich ihr alles geben würde, was sie möchte. Aber sie war bei diesen Besuchen nicht allein, Monsieur.«
Max bekämpfte seinen Zorn und stand auf, um Brandy einzuschenken. Er reichte Madame ein Glas und nahm selbst einen Schluck, ehe er fragte: »Und wer war bei ihr?«
»Samuel Wyatt.«
Max nickte stumm. Betroffen merkte er, daß er gar nicht sonderlich überrascht war. Er hatte den Jungen aufgenommen und für ihn getan, was er konnte, aber die ganze Zeit über hatte er irgendwie gewußt, daß Sam es ihm nicht danken würde.
»Einen Moment, bitte.« Er ging zur Tür und rief nach Roxanne. Sie trug noch ihr Kostüm und küßte Madame strahlend auf die Wangen.
»Das ist aber wirklich schön, daß Sie heute gekommen sind. Sie müssen sich unbedingt die neue Nummer ansehen. Luke und ich haben sie in der Frühvorstellung zum erstenmal vor Publikum aufgeführt. Und wir waren gut, nicht wahr, Daddy?«
»Ja.« Er schloß die Tür und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Ich muß dich etwas fragen, Roxanne. Und ich bitte dich, mir die Wahrheit zu sagen, hörst du?«
Ihr Lächeln verschwand. Sie blickte ihn ernst und ein wenig erschrocken an. »Ich würde dich nie anlügen, Daddy. Nie.«
»Du warst Anfang dieser Woche in Madames Laden?«
»Am Montag nach der Schule. Madame hat mir die Karten gelegt.«
»Warst du allein?«
»Ja – als sie mir die Karten legte, meine ich. Sam ist mit mir hingegangen, aber dann wieder verschwunden.«
»Hast du etwas aus Madames Laden mitgenommen?«
»Nein. Ich möchte vielleicht die kleine blaue Flasche kaufen, die mit dem Pfau drauf. Für Lily zum Geburtstag. Aber am Montag hatte ich kein Geld dabei.«
»Ich habe nicht von kaufen geredet, Roxanne, sondern von mitnehmen.«
»Ich …« Ihre Lippen begannen zu zittern, als sie verstand. »Ich würde Madame nie bestehlen, Daddy. Das könnte ich niemals. Sie ist meine Freundin.«
»Hast du gesehen, daß Sam irgend etwas eingesteckt hat, bei Madame oder in einem der anderen Läden, die er in dieser Woche mit dir besucht hat?«
»Oh, Daddy, nein.« Der Gedanke trieb ihr die Tränen in die Augen. »Das hat er bestimmt nicht.«
»Wir werden sehen.« Er küßte ihre Wange. »Es tut mir leid, Roxanne, aber die Wahrheit ist manchmal nicht sehr angenehm. Trotzdem muß man sie akzeptieren. Nun vergiß das alles schnell wieder, und denk nur noch an die Vorstellung.«
»Er ist mein Freund.«
»Das hoffe ich.«
Es war schon nach eins, als Max die Tür zu Sams Zimmer öffnete. Sam war hellwach, aber er tat, als öffne er verschlafen die Augen.
»Fühlst du dich besser?« fragte Max.
»Ich glaube.« Sam lächelte müde. »Tut mir leid, daß ich heute abend nicht zur Stelle war.«
»Nicht so wichtig.« Max knipste das Licht an und ignorierte Sams überraschten Protest. »Ich entschuldige mich im voraus für mein Benehmen, doch es ist leider nötig.« Er ging zum Schrank.
»Was ist los?«
Max schob die Kleider beiseite. »Ich versuche nur herauszufinden, ob du uns alle wirklich derartig hintergangen hast, daß ich dich aus meinem Haus werfen muß. Wobei ich immer noch hoffe, daß ich dir Unrecht tue.«
»Du hast kein Recht, in meinen persönlichen Sachen herumzuschnüffeln.« Sam sprang aus dem Bett und packte Max am Arm.
»Komm schon, Sam.« Mit verlegen geröteten Wangen trat Mouse ins Zimmer und zog ihn zur Seite.
»Du verfluchter Depp, nimm deine Finger von mir«, brüllte Sam, und als er sah, daß Max nach einer Schachtel griff, verlor er endgültig die Beherrschung. »Du gottverdammter Scheißkerl, dafür bringe ich dich um.«
Ruhig nahm Max den Deckel ab und musterte den Inhalt. Das Bargeld war ordentlich mit Gummibändern gebündelt, und einige der Schmuckstücke, die Madame ihm beschrieben hatte, lagen ebenfalls in dem Kästchen. Andere hatte er vermutlich schon verkauft.
»Ich habe dich in meinem Haus aufgenommen«, sagte Max niedergeschlagen, »wofür ich keine Dankbarkeit erwarte, da du dich als Gegenleistung nützlich gemacht hast. Aber ich habe dir mein Kind anvertraut, und sie hat dich für ihren Freund gehalten. Du hast sie benutzt und zwar in einer Art, daß du zusammen mit diesen Sachen auch ein Stück ihrer Kindheit gestohlen hast. Wenn ich ein gewalttätiger Mensch wäre, würde ich dich allein deswegen umbringen.«
»Sie wußte doch genau Bescheid«, rief Sam. »Sie hat doch dabei mitgemacht. Sie …«
Er verstummte, als Max ihm kräftig ins Gesicht schlug. »Vielleicht bin ich am Ende gewalttätiger, als ich dachte. Du packst jetzt deine Sachen und verschwindest auf der Stelle. Doch du verläßt nicht nur dieses Haus, sondern das ganze Viertel. Ich kenne jeden Zentimeter des Vieux Carr. Wenn du bis zum Tagesanbruch noch irgendwo in der Nähe bist, werde ich es erfahren. Und dann Gnade dir Gott.«
Er nahm die Schachtel und wandte sich zum Gehen. »Laß ihn los, Mouse. Sieh zu, daß er seine Sachen packt – aber nur seine Sachen.«
»Das wirst du noch bereuen, du Bastard.« Sam wischte sich das Blut von den Lippen. »Ich schwöre dir, dafür sollst du bezahlen.«
»Ich habe bereits bezahlt«, entgegnete Max, »aber das wirst du wohl kaum verstehen.«
Sam riß seine Jeans von einer Stuhllehne und stieg hinein. »Macht's dich scharf, wenn du mir dabei zuschaust?« fuhr er Mouse an, während er sie überstreifte.
Mouse errötete nur, gab aber keine Antwort.
»Ich bin wirklich froh, von hier zu verschwinden.« Er zog ein Hemd über. »Die letzten Monate habe ich mich zu Tode gelangweilt.«
»Dann hau endlich ab.« Luke stand in der Tür. Seine Augen funkelten. »Und danach räuchern wir am besten erst mal das Zimmer aus. Hier stinkt's nach einer Drecksau, die ein kleines Kind für ihre miesen Tricks benutzt.«
»Genau das hat ihr gerade gefallen«, grinste Sam und stopfte seine Kleider in einen Rucksack. »So und nicht anders muß man nämlich mit den Weibern umspringen – frag bloß mal Annabelle.«
»Was soll das heißen?«
Sam schlüpfte in die Jacke, die Lily ihm geschenkt hatte. Sie würde ihn im Winter schön warm halten. »Na ja, vielleicht interessiert es dich, daß ich heute abend, während du brav deine Pflicht erfüllt hast, dein Mädchen bis zum Wahnsinn gevögelt habe.« Seine Lippen verzogen sich zu einem eiskalten Grinsen, als Luke ihn ungläubig anstarrte. »Mitten auf dieser häßlichen Couch im Wohnzimmer. In fünf Minuten hatte ich sie soweit, daß sie aus ihrem Höschen stieg. Sie mag's am liebsten, wenn sie oben ist, nicht? Damit man es ihr richtig besorgen kann. Das Muttermal unter ihrer linken Titte ist verdammt sexy, findest du nicht auch?« Kampflustig machte er sich bereit, als Luke mit wutverzerrtem Gesicht auf ihn zusprang. Aber Mouse war schneller. Er packte Luke und zerrte ihn zur Tür. »Das ist er nicht wert. Komm schon, Luke, laß ihn. Er ist's nicht wert.« Sams Lachen klang hinter ihnen her, als Mouse ihn die Treppe hinunterschob. »Geh nach draußen und kühl dich ab.«
»Laß mich los, verflucht!«
»Max will, daß er abhaut und mehr nicht.« Unerschütterlich stand Mouse auf der obersten Treppenstufe. Er würde Luke notfalls einen Kinnhaken verpassen, damit er Ruhe gab. »Geh raus und mach einen Spaziergang. Ich sorge dafür, daß er verschwindet.«
Na gut, dachte Luke, dann gehe ich eben nach draußen – und warte dort auf ihn. Er stürmte in den Hof. Von dort aus wollte er Sam folgen und ihn außer Sichtweite des Hauses nach Strich und Faden verprügeln.
Doch dann hörte er das Weinen. Roxanne lag zusammengerollt auf einer steinernen Bank bei den Azaleen und schluchzte herzzerreißend.
Luke brachte es nicht fertig, einfach weiterzugehen und so zu tun, als hätte er nichts gehört. Er hatte Roxanne nicht mehr weinen gesehen, seit sie vor vielen Jahren die Windpocken gehabt hatte.
»Komm schon, Roxy.« Luke ging zur Bank und strich ihr linkisch über den Kopf. »Hör auf damit.«
Sie schluchzte weiter, ohne aufzuschauen.
»Herrgott.« Widerstrebend setzte er sich neben sie. »Komm schon, du wirst doch nicht wegen dem Blödmann weinen. Er ist ein Dreckskerl, ein dummer Idiot.« Seufzend zog er sie in seine Arme und merkte, daß er ebenfalls allmählich ruhiger wurde. »Er ist es nicht wert«, sagte er halb zu sich selbst und erkannte, daß Mouse völlig recht gehabt hatte.
»Er hat mich benutzt«, stieß Roxanne hervor. »Er hat so getan, als sei er mein Freund, und dabei hat er mich bloß benutzt, um Leute zu bestehlen, die ich gern habe. Ich habe gehört, was er zu Daddy gesagt hat. Anscheinend haßt er uns und hat uns die ganze Zeit nur gehaßt.«
»Vielleicht. Was schert uns das?«
»Ich habe ihn mit hierhergebracht.« Sie preßte die Lippen zusammen. Sie wußte nicht, ob sie sich das jemals verzeihen konnte. »Hat er – hat er tatsächlich das mit Annabelle gemacht?«
Luke holte tief Luft und drückte Roxanne an sich. »Ich denke schon.«
»Es tut mir leid für dich.«
»Wenn sie sich so einfach mit ihm eingelassen hat, glaube ich nicht, daß ihr wirklich was an mir lag.«
»Er wollte dich verletzen.« Sie strich tröstend über Lukes Arm. »Er wollte uns alle verletzen, deshalb hat er auch gestohlen. Es ist nicht so wie bei Daddy.«
»Ja, ja«, erwiderte Luke geistesabwesend – und dann erstarrte er plötzlich. »Was?«
»Du weißt schon, das mit dem Stehlen. Daddy würde nie einen Freund bestehlen oder jemanden, den er dadurch schädigt.« Sie gähnte. Das Weinen hatte sie müde gemacht. »Er nimmt nur Juwelen und solche Sachen, die gut versichert sind.«
»Himmelnochmal.« Er schob sie ein Stück von sich. »Wie lange weißt du das schon? Wie lange weißt du schon, was wir machen?«
Das Mondlicht schimmerte in ihren verweinten Augen, doch sie lächelte verschmitzt. »Das habe ich schon immer gewußt.«
Sam verließ zwar das Haus, jedoch nicht das Viertel. Erst hatte er noch eine Rechnung zu begleichen. Es gab nur eine Erklärung dafür, daß man ihm auf die Schliche gekommen war. Roxanne mußte ihn verpfiffen haben.
Dabei hatte dieses kleine Luder genau gewußt, was er tat, davon war Sam fest überzeugt. Sie war schließlich mit ihm in die Läden gegangen, und jetzt schob sie ihm die ganze Schuld zu. Nur ihretwegen hatte man ihn aus dem warmen Nest geworfen und davongejagt. Das sollte sie ihm büßen.
Er versteckte sich auf dem Weg, den sie immer zur Schule nahm und suchte Schutz vor dem dünnen Nieselregen. Er haßte es zu frieren.
Ein Grund mehr, es ihr heimzuzahlen.
Stundenlang mußte er in der Kälte lauern, bis er sie endlich erblickte. Den Rucksack über dem Rücken, schlenderte sie mit gesenktem Kopf dahin. Er wartete, bis sie nahe genug herangekommen war.
Dann sprang er mit einem Satz auf sie zu und zerrte sie in eine schmale Gasse. Roxanne hob instinktiv die Fäuste, um sich zu wehren – und senkte sie wieder, als sie Sam erkannte.
Ihre Augen waren immer noch gerötet, aber sie schaute ihn ruhig und mit einem gefährlichen Funkeln an.
»Was willst du?«
»Mich ein klein wenig mit dir unterhalten …«
Der gehässige Ausdruck auf seinem Gesicht war ihr so unheimlich, daß sie am liebsten weggelaufen wäre. Er sah aus, als sei er zu allem fähig.
»Daddy hat dir gesagt, daß du verschwinden sollst.«
»Meinst du etwa, ich hätte Angst vor so einem alten Knacker?« Er gab ihr einen Schubs, daß sie gegen eine Mauer flog. »Ich tue, was ich will, und im Moment will ich mit dir abrechnen, Roxy.«
»Was?« fuhr sie ihn an. Sie vergaß vor Überraschung den Schmerz an ihrer Schulter. »Ich hab dich mit zu uns nach Hause genommen. Ich habe Daddy gebeten, dir einen Job zu geben. Ich habe dir geholfen, und du hast meine Freunde bestohlen. Was redest du da von abrechnen?«
»Wohin willst du?« Er packte sie, als sie an ihm vorbeigehen wollte. »Zur Schule? Heute nicht. Ich finde, du solltest mir etwas Gesellschaft leisten.« Er legte eine Hand um ihren Hals. »Du hast mich verpfiffen, Rox.«
»Nein«, stieß sie hervor. »Aber ich hätte es getan, wenn ich es gewußt hätte.«
»Bleibt sich wohl gleich, was?« Erneut versetzte er ihr einen Schubs, so daß ihr Kopf gegen die Mauer schlug – und heulte im nächsten Moment auf, da sie ihm mit den Fingernägeln das Gesicht zerkratzt hatte. Vor Schreck ließ er sie los.
Sie hatte fast das Ende der Gasse erreicht, ehe er sie erwischte. »Du kleine Schlampe«, keuchte er und riß sie zu Boden. Trotz seiner Schmerzen erfaßte ihn plötzlich eine merkwürdige Erregung. Er konnte mit ihr machen, was immer er wollte, niemand würde ihn daran hindern.
Benommen rappelte sie sich auf Hände und Knie hoch. Sie ahnte, daß er etwas vorhatte, daß er sie nicht nur schlagen würde, und war entschlossen, sich nach Kräften zu wehren. Doch das war gar nicht nötig. Roxanne hatte ihn nicht kommen sehen. Luke stürzte sich mit einem wütenden Aufschrei auf Sam.
Dann sah man nur noch Faustschläge. Ihre Beine zitterten, doch sie schaffte es aufzustehen und schaute sich nach irgendeiner Waffe um. Schließlich griff sich nach dem Deckel einer Mülltonne und lief zu den beiden Kämpfern zurück.
Luke brauchte jedoch keine Hilfe. Er hockte mit gespreizten Beinen auf Sam und schlug methodisch und gnadenlos auf ihn ein.
»Das ist genug!« Sie warf den Deckel zur Seite und hielt seine Arme fest. »Hör auf, du bringst ihn sonst noch um, Luke! Daddy würde nicht wollen, daß du dir die Hände verletzt.«
Ihre ruhige, sachliche Stimme brachte ihn wieder zur Besinnung. Er betrachtete seine aufgerissenen und blutigen Knöchel und mußte lachen. »Stimmt. Bist du in Ordnung?« Er war maßlos wütend über die Sache mit Annabelle gewesen. Doch als er sah, wie Sam über Roxanne herfallen wollte, war er regelrecht ausgerastet.
»Ja. Ich wollte ihn gerade in die Eier treten, aber trotzdem danke, daß du ihn für mich verdroschen hast.«
»War mir ein Vergnügen. Hol deine Schultasche, und warte am Bürgersteig auf mich.«
»Du willst ihn doch nicht noch weiter schlagen, oder?« Sie musterte Sams Gesicht. Falls sie sich nicht irrte, war seine Nase gebrochen, und er hatte einige Zähne verloren.
»Nein.« Er deutete mit dem Kopf zum Ende der Gasse. »Geh schon, Rox. Ich komme gleich.«
Mit einem letzten Blick auf Sam wandte sie sich um und ging davon.
»Ich könnte dich dafür umbringen, daß du sie angefaßt hast.« Luke beugte sich zu ihm hinab. »Und wenn du noch einmal in ihre Nähe oder in die Nähe meiner Familie kommst, bringe ich dich wirklich um.«
Sam stützte sich mühsam auf die Ellbogen, als Luke aufstand. Er hatte das Gefühl, als sei er von einem Laster überrollt worden. Sein Gesicht brannte wie Feuer. Noch nie hatte jemand gewagt, ihn zu schlagen.
»Das zahle ich dir heim«, krächzte er. Luke grinste nur verächtlich.
»Kannst du gern versuchen. Nimm es als Gratislektion, Wyatt, und mach dich davon, solange du noch fähig bist zu gehen. Das nächste Mal breche ich dir nicht bloß die Nase.«
Als Luke verschwunden war, sank Sam mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammen. Sein Haß aber war noch größer geworden. Eine Tages, gelobte er sich, eines Tages sollten sie alle dafür bezahlen.