SIEBZEHNTES KAPITEL
Luke wußte, daß es dumm und riskant war, aber was spielte das noch für eine Rolle? Er ließ den zweiten Mietwagen auf dem Hotelparkplatz stehen und fuhr von der Lobby aus mit dem Fahrstuhl hinauf in sein Zimmer. Dort zog er eine Flasche Jack Daniels aus einer Papiertüte, stellte sie auf die Kommode und starrte sie lange Zeit an.
Schließlich öffnete er sie und nahm drei tiefe Schlucke. Obwohl der Whiskey wie Feuer in seinem Leib brannte, half er ihm auch nicht weiter.
Er hätte es wissen müssen. Als Kind hatte er genügend abstoßende Beispiele dafür erlebt, daß Alkohol Unglück nicht vertrieb, sondern nur verschlimmerte. Aber es war einen Versuch wert gewesen.
Immer noch glaubte er, Cobb zu riechen. Der Schweiß, das Blut, der Gestank nach Tod haftete noch an seiner Haut. Es war grauenhaft gewesen, die Leiche im Fluß zu versenken. Er hatte ihm den Tod gewünscht. Wahrhaftig, er hatte ihm den Tod gewünscht. Aber er hatte nicht gewußt, was ein plötzlicher, gewaltsamer Tod bedeutete.
Luke konnte nicht vergessen, wie Sam den Schuß abgefeuert hatte – so lässig, als sei der Mord an einem Menschen vollkommen bedeutungslos. Er hatte es nicht aus Haß getan, nicht in blinder Leidenschaft oder aus Habgier, sondern so gedankenlos wie ein kleines Kind ein Bauwerk aus Holzklötzchen umstieß. Und alles nur, weil der tote Cobb ein klein wenig mehr von Nutzen für ihn war als der lebendige. Luke ließ sich kraftlos auf das Bett fallen. Die ganzen Jahre über hatte er gedacht, er hätte alles unter Kontrolle. Doch das war eine Illusion gewesen, denn in Wirklichkeit hatte ständig jemand hinter der Szene gestanden, die ihn beobachtet und sich einen boshaften Spaß daraus gemacht, die Fäden zu ziehen.
Und alles nur wegen irgendeiner verrückten Eifersucht und einem kindischen Haß. Jeder, der in dieser Nacht dabeigewesen wäre, hätte sofort gesehen, daß Sam nicht nur maßlos ehrgeizig und völlig kaltblütig war, er war regelrecht übergeschnappt.
Was konnte er tun? Luke rieb sich mit den Händen über die Augen, als wolle er die verstörenden Bilder wegwischen, um wieder klarer sehen zu können.
Er war in ein Privathaus eingebrochen. Wenn die Polizei einen entsprechenden Tip bekam, würde sie keine Mühe haben, die richtige Spur zu finden, und diese Spur führte direkt zu den Nouvelles. Und wenn er mit einer solch aberwitzigen Geschichte zur Polizei ging, wem würde man glauben dem Dieb oder dem ehrbaren Bürger?
Trotzdem konnte er es riskieren. Obwohl er nicht sicher war, ob er die Gefangenschaft aushalten würde, ohne durchzudrehen, konnte er es riskieren. Aber er mußte damit rechnen, daß Sam seine anderen Drohungen wahr machte. Max in einer Irrenanstalt, Lily am Boden zerstört, Roxanne hinter Gittern. Vielleicht hatte Sam sogar so viel Geschmack am Morden gefunden, daß er sie alle umbrachte – mit der Waffe, auf der sich Lukes Fingerabdrücke befanden.
Eine panische Angst überkam ihn bei diesem Gedanken. Hastig griff er zum Telefon und wählte. Seine Hand umklammerte den Hörer. Sie antwortete beim ersten Läuten, als habe sie auf ihn gewartet.
»Hallo? Hallo, ist da jemand?«
Sie saß vermutlich im Bett, hatte den Hörer am Ohr und ein offenes Buch im Schoß, während ein alter Schwarzweißfilm über den Bildschirm flackerte – er sah dieses Bild so deutlich vor sich, als sei er bei ihr im Zimmer.
Und in diesem Moment wußte er, daß er sie nie wiedersehen durfte.
»Hallo? Luke, bis du das? Ist etwas …«
Langsam legte er auf.
Seine Entscheidung war gefallen. Hätte er sich gemeldet und ihr alles erzählt, hätte er hilflos zusehen müssen, wie sie unter dieser Katastrophe litt. Doch wenn er sie ohne ein Wort, ohne ein Zeichen verließ, würde sie ihn mit der Zeit lediglich hassen.
Schwerfällig stand er auf und holte sich die Flasche ins Bett. Der Whiskey würde zwar sein Elend nicht lindern, aber vielleicht konnte er so wenigstens schlafen.
Nachdem er geduscht und sich wieder verkleidet hatte, verließ er am Morgen das Hotel und fuhr zum Flughafen. Er wollte leben. Und sei es auch nur, um von Ferne darauf zu achten, daß Sam die Nouvelles in Ruhe ließ. Vielleicht auch, um abzuwarten, bis seine Zeit gekommen war, und seine Rache zu planen.
Wohin er gehen sollte, wußte er allerdings noch nicht, und sein Leben erschien ihm genauso leer wie die Flasche, die er im Hotel zurückgelassen hatte.
»Er müßte schon seit Stunden zurück sein.« Roxanne rieb nervös ihre Hände aneinander und lief im Arbeitszimmer ihres Vaters auf und ab. »Irgendwas ist schiefgegangen. Er hätte die Sache nie allein machen dürfen.«
»Es war nicht sein erster Job, mein Kind.« Max hob eine buntbemalte Schachtel von einer Bank hoch. Darunter kam ein abgetrennter Kopf zum Vorschein, der Mouses grinsende Gesichtszüge trug. »Er weiß schon, was er tut.«
»Warum hat er sich dann noch nicht gemeldet?«
»Das kann tausend Gründe haben.« Nach einem Knopfdruck auf eine Fernbedienung, die in Max' Ärmel verborgen war, gab der Kopf ein langes tiefes Stöhnen von sich. Ein weiterer Druck, und die Augen rollten nach links und rechts und der Mund öffnete sich. »Ausgezeichnet, ganz ausgezeichnet. Sehr lebensecht, findest du nicht?«
»Daddy.« Ungeduldig schob Roxanne die Schachtel wieder über den Kopf. »Luke ist in Schwierigkeiten. Ich weiß es.«
»Woher?« Max schaltete die Fernbedienung ab.
»Weil niemand etwas von ihm gehört hat, seit er gestern nacht von hier weg ist. Weil er heute morgen um sechs Uhr zurück sein wollte, und jetzt ist es fast Mittag. Weil man mir am Flughafen gesagt hat, John Carroll Brakeman habe seinen Rückflugplan eingereicht, sei aber nicht angekommen.«
»Sicher, das alles scheint beunruhigend. Genauso wie es scheint, daß der Kopf immer noch in dieser Schachtel ist.« Mit einer schwungvollen Geste hob Max die Schachtel hoch. Der Kopf war verschwunden, statt dessen befand sich eine blühende Geranie darunter. »Du hast doch gelernt, daß vieles oft ganz anders scheint, als es tatsächlich ist.«
»Es geht hier nicht um einen Zaubertrick, verdammt.« Wie konnte er nur so ruhig bleiben?
Max legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Er ist ein gescheiter Junge, Roxy. Er ist bald wieder daheim.«
»Woher willst du das wissen?« rief sie heftig.
»Das steht in den Karten.« Um sie ein wenig abzulenken, zog Max ein Kartenspiel aus der Tasche und breitete es fächerartig aus. Doch als er den Trick vorführen wollte, versagten seine steifen Finger ihm den Dienst. Bestürzt beobachtetet er, wie die Karten zu Boden flatterten.
Roxanne spürte seinen Schmerz so deutlich, als sei ihr selbst dieses Mißgeschick passiert. Sie bückte sich, um das Spiel einzusammeln, und begann hastig zu reden.
»Ich weiß, daß Luke manchmal seine Pläne ändert, aber doch nicht so.« Sie verfluchte die Karten, verfluchte das Alter, verfluchte ihre eigene Hilflosigkeit. »Meinst du, ich sollte losziehen und ihn suchen?«
Max starrte noch immer zu Boden, obwohl Roxanne die Karten längst aufgehoben hatte. Doch seine Gedanken waren ganz woanders. Als er wieder aufschaute, lag ein Lächeln in seinen Augen, ein sanftes freundliches Lächeln, das ihr regelrecht ins Herz schnitt. »Wenn wir gründlich genug und lange genug suchen, finden wir immer, was wir brauchen. Weißt du, daß viele glauben, es gibt mehr als nur einen Stein der Weisen? Aber das erscheint in Wahrheit nur so.«
»Daddy.« Mit Tränen in den Augen wollt Roxanne nach seiner Hand greifen, aber Max war meilenweit weg.
Abrupt schlug er mit einem Buch auf den Tisch, so daß Roxanne zusammenfuhr. Sein Lächeln war verschwunden, und seine Augen glühten leidenschaftlich. »Ich habe ihn beinahe aufgespürt.« Er packte ein dickes Bündel Papiere und schüttelte es heftig. »Und wenn ich ihn endlich habe …« Behutsam legte er die Blätter wieder hin und strich sie glatt. »Nun, dann können sich alle von seiner Zauberkraft überzeugen, nicht wahr?«
»Ja, ganz bestimmt.« Sie schlang die Arme um ihn und drückte ihre Wange an sein Gesicht. »Komm doch mit nach oben, Daddy.«
»Nein, nein, lauf nur zu. Ich habe noch zu arbeiten.« Er setzte sich, um eifrig über uralten Büchern mit uralten Geheimnissen zu brüten. »Sage Luke, er soll Lester anrufen und sich erkundigen, ob die neuen Scheinwerfer angebracht worden sind.«
Sie öffnete den Mund, um ihn zu erinnern, daß der alte Manager des Magic Door sich vor drei Jahren zurückgezogen hatte, doch dann preßte sie nur fest die Lippen zusammen und nickte. »Gut, Daddy.«
Dann machte sie sich auf die Suche nach Lily.
Roxanne fand sie im Hof, wo sie Tauben mit Brotkrumen fütterte.
»LeClerc wird immer wütend, wenn er mich dabei erwischt.« Lily warf eine Handvoll in die Luft und lachte, als die Tauben sich darum zankten. »Sie machen alles voll, das stimmt, aber es ist so süß, wie sie mit den Köpfen nicken und einen mit diesen kleinen schwarzen Augen anschauen.«
»Lily, was ist los mit Daddy?«
»Wieso?« Lily erschrak. »Hat er sich weh getan?« Sie wollte aufspringen und ins Haus laufen, doch Roxanne hielt sie zurück.
»Nein, es ist nichts. Er sitzt im Arbeitszimmer und liest in seinen Büchern.«
»Oh.« Lily atmete erleichtert auf. »Du hast mir einen richtigen Schrecken eingejagt.«
»Ich bin eben auch erschrocken«, sagte Roxanne ruhig. »Er ist krank, nicht wahr?«
Lily schwieg einen Moment lang. Dann trat ein energischer Ausdruck in ihre blaßblauen Augen. »Wir sollten mal miteinander reden.« Sie schlang einen Arm um Roxannes Taille. »Setzen wir uns.«
Sie gingen zu einer Bank unter einem Baum am Springbrunnen, in dem munter das Wasser sprudelte.
»Laß mir eine Minute Zeit, Schätzchen.« Lily hielt Roxannes Hand, während sie mit der anderen den Tauben Brotkrumen zuwarf. »Ich liebe diese Jahreszeit«, sagte sie leise. »Ich finde den Frühlingsbeginn einfach zauberhaft. Die Narzissen und Hyazinthen blühen schon, die Tulpen kommen heraus. Dort im Baum ist ein Nest.« Sie blickte auf, aber ihr Lächeln war wehmütig und ein wenig verloren. »Jedes Jahr kehrt alles wieder. Die Vögel, die Blumen. Ich kann mich hier draußen hinsetzen, alles betrachten und weiß, daß manches für ewig ist.«
Die Tauben trippelten gurrend um ihre Füße. Von draußen vor den Toren hörte man das stetige Brausen des Verkehrs. Die Sonne schien, und eine leichte Brise raschelte in den ersten Blättern der Bäume. Irgendwo in der Nähe spielte ein Flötenspieler eine alte irische Melodie. ›Danny Boy.‹ Roxanne zitterte, da sie das Lied kannte. Es handelte von Tod und Verlust.
»Ich habe ihn zum Arzt geschleppt.« Lily drückte ihre Hand. »Max konnte sich noch nie ernsthaft gegen mein Genörgel zur Wehr setzen. Es wurden ein paar Test gemacht, und ich mußte ihn beschwatzen, noch einmal dorthin zu gehen, damit weitere Untersuchungen gemacht werden konnten. Er wollte nicht ins Krankenhaus, wo man alles auf einmal hätte erledigen können. Und ich … ich habe nicht darauf gedrängt. Ich wollte auch nicht, daß er in eine Klinik geht.«
»Welche Untersuchungen?« fragte Roxanne. Ihre Stimme klang ihr selbst ganz fremd.
»Alles mögliche. So viele, daß ich es gar nicht behalten habe. Sie haben ihn an Geräte angeschlossen und die Kurven studiert. Sie haben Blut- und Urinproben genommen und ihn geröntgt.« Sie zuckte hilflos mit den Schultern. »Vielleicht war es falsch, Roxy, aber ich habe sie gebeten, es mir zu sagen, wenn sie was herausfinden. Ich wollte nicht, daß man es Max mitteilt, falls es etwas Schlimmes sei. Ich weiß, du bist seine Tochter, aber ich …«
»Es war schon richtig.« Roxanne legte ihren Kopf an Lilys Schulter. Sie brauchte eine Minute, bis sie genügend Mut gefaßt hatte. »Es ist etwas Schlimmes, nicht? Du mußt es mir sagen.«
»Er wird immer vergeßlicher werden«, sagt Lily mit bebender Stimme. »An manchen Tagen wird alles ganz in Ordnung sein, und an anderen wird er sich selbst mit Medikamenten nicht konzentrieren können. Man hat mir gesagt, es könne sein, daß diese Erkrankung ganz langsam verläuft, aber wir sollten uns darauf einrichten, daß es Zeiten geben kann, an denen er sich nicht mal mehr an uns erinnert.« Tränen liefen ihr über die Wangen. »Es könnte passieren, daß er wütend wird und sich gegen unsere Hilfe wehrt. Genausogut kann es aber sein, daß er einfach stillschweigend tut, was man ihm sagt. Es könne vorkommen, daß er in den Laden um die Ecke geht, um Milch zu holen, und nicht mehr heimfindet. Er kann sogar vergessen, wer er ist, und wenn die Krankheit weiter fortschreitet, kann er sich eines Tages endgültig in seine eigene Welt zurückziehen, wo ihn niemand mehr erreicht.«
Ein solcher Zustand war schlimmer, viel schlimmer als der Tod, so erschien es Roxanne. »Wir … wir müssen mit ihm zu Spezialisten.«
»Der Arzt hat uns einen empfohlen. Ich habe ihn angerufen. Wir könnten Max nächsten Monat zu ihm nach Atlanta bringen.« Lily griff nach einem ihrer Spitzentücher und wischte sich die Augen. »Bis dahin will er sämtliche Untersuchungsergebnisse studieren. Die Krankheit heißt Alzheimer, Roxy, und ist unheilbar.«
»Dann werden wir selbst ein Heilmittel finden. Wir lassen nicht zu, daß das mit Max passiert.« Sie sprang hastig auf und wäre fast gestürzt, wenn Lily sie nicht festgehalten hätte.
»Schatz, du meine Güte, Liebling, was ist denn? Ich hätte es dir nicht so unverblümt sagen sollen.«
»Doch, ich bin nur zu rasch aufgestanden.« Aber das Schwindelgefühl hielt immer noch an, und die Übelkeit schnürte ihr den Magen zusammen.
»Du bist so blaß! Komm, wir gehen rein, und ich mache dir einen Tee.«
»Mir geht's gut«, behauptete Roxanne. »Es ist bloß irgendein blöder Virus.« Aber Lily zog sie energisch mit sich ins Haus. Kaum waren sie in der Küche, roch sie den Duft der herzhaften Suppe, die LeClerc gerade kochte. Sie wurde regelrecht grün im Gesicht. »Verdammt. Ausgerechnet jetzt«, stöhnte sie. Gefolgt von der aufgeregten Lily rannte sie zum Bad.
Nachdem sie sich übergeben hatte, war sie so erschöpft, daß sie nicht protestierte, als Lily sie ins Bett brachte und darauf bestand, daß sie sich hinlegte.
»Das sind nur diese ganzen Sorgen«, tröstete Lily.
»Es ist irgendein Virus.« Roxanne schloß die Augen und hoffte, daß ihr Magen jetzt leer war und nicht noch mehr hochkam. »Dabei dachte ich, es wäre wieder vorbei. Genau das gleiche ist mir gestern nachmittag schon passiert. Und abends ging es mir wieder prima. Heute morgen auch.«
Lily tätschelte ihre Hand. »Wenn du jetzt gesagt hättest, dir sei an zwei Tagen hintereinander morgens schlecht gewesen, hätte ich glatt gedacht, du wärst schwanger.«
»Schwanger!« Roxanne hätte am liebsten gelacht, aber die Sache schien ihr nicht besonders komisch. »Du kommst auf Ideen! Wenn man schwanger ist, wird einem nicht am Nachmittag übel.«
»Eigentlich nicht.« Trotzdem fragte Lily sicherheitshalber: »Ist mal eine Periode ausgeblieben?«
Roxanne bekämpfte den ersten Anflug von Panik, doch noch ein anderes Gefühl stieg in ihr auf – eine leise, ganz zarte Freude. »Ich bin ein wenig überfällig, das ist alles.«
»Wie lange?«
Roxanne zupfte unsicher an der Bettdecke. »Ein paar Wochen … drei vielleicht.«
»O Schätzchen!« Lily war außer sich vor Entzücken. »Ein Baby!«
»Jetzt mach mich bloß nicht verrückt.« Vorsichtig legte Roxanne eine Hand auf ihren Bauch. Wenn dort drinnen ein Baby war, dann war es ein ziemlich gemeines Geschöpf. Unwillkürlich mußte sie lachen. Bei einem Vater wie Luke konnte sie eigentlich kaum ein sanftmütiges, stilles Wesen erwarten.
»Besorg' dir doch einen Schwangerschaftstest. Dann weißt du wenigstens Bescheid. Das wird Luke einfach umhauen.«
»Wir haben nie über dieses Thema gesprochen.« Plötzlich überkam sie die Angst. »Lily, wir haben nie über Kinder gesprochen. Er will vielleicht gar keine …«
»Sei nicht albern. Er liebt dich. Du bleibst jetzt liegen, und ich hole dir ein Glas Milch.«
»Besser Tee. Ich glaube, etwas Tee könnte ich bei mir behalten – und ein paar Plätzchen vielleicht.«
»Keine Gelüste auf Erdbeeren und saure Gurken?« Sie kicherte, als Roxanne nur angewidert stöhnte. »Entschuldige, Schatz, aber ich bin so aufgeregt. Bin gleich wieder da.«
Ein Baby, dachte Roxanne. Warum hatte sie nicht daran gedacht, daß sie schwanger sein könnte? Oder hatte sie den Gedanken nur verdrängt? Seufzend drehte sie sich auf die Seite. Eigentlich war sie nicht besonders überrascht, und obwohl sie sich einbildete, regelmäßig die Pille genommen zu haben, tat es ihr auch nicht leid.
Lukes Baby. Was würde er dazu sagen? Wie würde er sich fühlen?
Es gab nur einen Weg, es zu erfahren. Sie mußte ihn finden. Entschlossen griff sie nach dem Telefon neben dem Bett und wählte.
Als Lily etwas später mit dem Tee, trockenem Toast und einer rosafarbenen Rosenknospe zurückkehrte, lag Roxanne wieder auf dem Rücken und starrte mit leerem Blick an die Decke.
»Er ist weg, Lily.«
»Wer?«
»Luke ist weg.« Sie richtete sich auf und schaute sie verzweifelt an. »Ich habe den Flughafen angerufen. Er ist heute morgen um fünf nach halb zehn in Tennessee gestartet.«
»Um halb zehn?« Lily stellte das Tablett auf die Kommode. »Aber jetzt ist es schon nach zwölf. Man braucht doch bloß eine Stunde bis nach New Orleans.«
»Er hat als Zielort nicht New Orleans angegeben. Ich mußte all meine Überredungskünste aufbieten, um seinen Flugplan zu erfahren, aber ich habe es geschafft.«
»Was meinst du damit, daß er nicht nach New Orleans wollte? Natürlich wollte er das.«
»Mexiko«, flüsterte Roxanne. »Er ist unterwegs nach Mexiko.«
Zweierlei wußte Roxanne am nächsten Morgen mit Sicherheit – erstens, daß sie wirklich schwanger war und zweitens, daß ein Mann tatsächlich spurlos vom Erdboden verschwinden konnte. Aber alles, was verschwinden konnte, ließ sich auch wieder herbeizaubern. Sie war nicht umsonst eine Zauberin in der zweiten Generation.
Sie schloß gerade ihre Reisetasche, als es klingelte. Luke! Das war ihr erster Gedanke. Sie stürmte aus dem Schlafzimmer zur Haustür.
»Wo bist du … o Mouse.«
»Entschuldige, Roxy«, sagte er sichtlich betreten.
»Schon gut«, lächelte sie mühsam. »Hör mal, ich bin praktisch schon weg.«
»Weiß ich. Lily hat gesagt, daß du nach Mexiko willst, um Luke zu suchen. Ich komme mit.«
»Das ist nett von dir, Mouse, aber es geht schon.«
»Ich komme mit.« Er war vielleicht ein wenig schwerfällig, aber auch genauso hartnäckig, wenn es nötig war. »Du sollst nicht allein … in deinem Zustand …«, stotterte er und wurde blutrot im Gesicht.
»Lily strickt also schon Schühchen, was?« meinte sie kopfschüttelnd. »Mouse, es gibt keine Grund, sich Sorgen zu machen. Ich weiß, was ich tue, und die Tatsache, daß ich etwas mit mir herumschleppe, das so groß ist wie ein Stecknadelkopf, ist kein Hinderungsgrund.«
»Ich kümmere mich um dich. Das würde Luke von mir erwarten.«
»Wenn Luke so verdammt besorgt wäre, wäre er nicht in Mexiko«, fauchte sie. Es tat ihr sofort leid, als sie Mouses betroffenes Gesicht sah. »Entschuldige. Ich glaube, wenn man schwanger ist und die Hormone verrückt spielen, geht man leichter mal in die Luft. Ich habe schon alles arrangiert und nehme den nächsten Flug nach Mexiko.«
»Nicht nötig«, erklärte er standhaft. »Ich fliege dich.« Roxanne wollte erneut protestieren, doch dann zuckte sie die Schultern. Vielleicht würde seine Gesellschaft ihr ganz guttun.
Nach der Landung auf dem Flughafen von Cancún schaffte Roxanne es gerade noch zur Damentoilette. Während sie sich übergab, fiel ihr auf, daß sie diese Übelkeitsanfälle fast so regelmäßig bekam, daß sie die Uhr danach stellen konnte. Vielleicht hatte das Baby ihren Ordnungssinn geerbt.
Als sie sich wieder einigermaßen im Griff hatte, kehrte sie zu Mouse zurück, der besorgt in dem winzigen, sonnendurchfluteten Terminal wartet. »Alles okay«, sagte sie. »Nur eine der Segnungen einer werdenden Mutter.«
»Und das geht jetzt neun ganze Monate so weiter?«
»Danke, Mouse«, seufzte sie. »Du bist sehr tröstlich.«
Fast eine Stunde lang versuchten sie, von der Flugaufsicht irgendwelche näheren Auskünfte über Luke zu bekommen. Ja, er sei zur Landung auf diesem Flughafen gemeldet gewesen. Nein, er sei nie angekommen, habe weder Funkkontakt gehabt noch die Erlaubnis beantragt, seinen Kurs zu ändern. Er sei einfach irgendwo über dem Golf verschwunden.
Oder, wie der fröhliche Fluglotse erklärte, im Golf.
»Er ist nicht abgestürzt, verdammt.« Roxanne marschierte wütend zurück zum Flugzeug. »Auf gar keinen Fall.«
»Er ist ein guter Pilot«, nickte Mouse. »Und ich habe vor dem Start das Flugzeug selbst überprüft.«
»Er ist nicht abgestürzt«, wiederholte sie. Sie rollte eine von Mouses Karten auf und begann die mexikanische Küste zu studieren. »Wohin könnte er geflogen sein, Mouse, wenn er beschlossen hätte, nicht in Cancún zu landen?«
»Das könnte ich dir vielleicht sagen, wenn ich wüßte, warum.«
»Aber das wissen wir eben nicht.« Sie drückte die kalte Flasche Cola, die Mouse ihr gekauft hatte, an ihre verschwitzte Stirn. »Vielleicht wollte er eine falsche Spur legen? Wir können wohl kaum Sam anrufen und uns erkundigen, ob zufälligerweise die Saphire seiner Frau geklaut worden sind. In den Nachrichten ist nichts von einem Einbruch gemeldet worden, aber man hält so etwas ja oft für eine Weile geheim. Falls er dabei in Schwierigkeiten geraten ist, hat er womöglich aus irgendwelchen idiotischen Gründen beschlossen, Kurs nach Westen zu nehmen, um John Carroll Brakeman verschwinden zu lassen.«
»Aber warum hat er sich nicht gemeldet?«
»Wie soll ich das wissen?« Sie hatte Mühe, nicht zu schreien. »Diese Inseln hier. Auf manchen gibt es Landebahnen. Offizielle und weniger offizielle. Für Schmuggler.«
»Ja, und?«
Sie reichte Mouse die Karte. »Dort schauen wir uns mal um.«
Sie verbrachten drei Tage damit, die ganze Küste nach Luke abzusuchen, drückten Geld in eifrig offengehaltene Hände und folgten zahllosen falschen Fährten.
Mouse kam sich bei Roxannes Übelkeitsanfällen ziemlich hilflos vor und wünschte, Lily wäre bei ihnen. Wenn er nur das geringste Aufhebens machte, ging Roxanne wie eine fauchende Katze auf ihn los. Andererseits beruhigten ihn ihre Wutanfälle. Ihm war klar, daß sie notfalls mutterseelenallein in den Dschungel marschieren würde. Bis sie Luke aufgespürt hatten, fühlte Mouse sich für sie verantwortlich. Wenn er fand, sie sei blaß oder zu erschöpft, zwang er sie, eine Pause zu machen und sich auszuruhen und ertrug ihre Wutausbrüche wie eine Eiche das Klopfen eines Spechts schweigend und würdevoll.
Nach einigen ergebnislosen Tagen, als beide allmählich schon die Hoffnung verloren hatten, fanden sie das Flugzeug.
Eintausend mexikanische Dollar kostete Roxanne das zehnminütige Gespräch mit einem einäugigen mexikanischen Unternehmer in einer Dschungelhütte in der Nähe von Mérida. Er schnipselte mit einem Taschenmesser an seinen Nägeln, während eine Frau mit müden Augen und schmutzigen Füßen Tortillas briet.
»Er sagt, er will verkaufen, ob ich kaufen will.« Juarez kippte etwas Tequila in einen Zinnbecher und bot Roxanne großzügig die Flasche an.
»Nein, danke. Und wann haben Sie das Flugzeug gekauft?«
»Vor zwei Tagen. Für einen guten Preis.« Es war beinahe geschenkt gewesen, und die Befriedigung über dieses Geschäft versetzte Juarez selbst jetzt noch in eine umgängliche Stimmung. Außerdem gefiel ihm die hübsche Señorita. »Er braucht Geld. Ich gebe ihm Geld.«
»Wo ist er hin?«
»Ich stelle keine Fragen.«
Sie hätte am liebsten lautstark geflucht, aber da sie merkte, wie nervös die Frau am Herd war, entschied sie sich diplomatisch zu sein. Sie lächelte ihm bewundernd zu. »Aber Sie würden es wissen, wenn er noch in der Gegend wäre. Ein Mann wie Sie weiß sicher alles.«
»Si«, nickte er geschmeichelt. »Er ist verschwunden. Er kampierte eine Nacht im Dschungel und dann weg.« Juarez schnippte mit den Fingern. »Ganz rasch und ohne eine Spur. Wenn er weiß, daß eine so hübsche Frau ihn sucht, wartet er vielleicht irgendwo.«
Roxanne stand auf. Luke weiß genau, daß ich ihn suche, dachte sie müde. Und trotzdem lief er davon. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich mir das Flugzeug mal anschaue?«
»Bitte, bitte.« Etwas in ihren Augen hielt ihn davon ab, eine weitere Bezahlung für diese Gefälligkeit zu verlangen. »Aber da ist keine Spur von ihm.«
Juarez hatte recht. Es gab nicht einmal Aschenreste von seinen Zigarren. Keinerlei Anzeichen deuteten darauf hin, daß Luke jemals in diesem Cockpit hinter dem Steuerknüppel gesessen oder durch das Glas die Sterne betrachtet hatte.
»Wir können es weiter nördlich probieren«, schlug Mouse vor. »Oder im Landesinnern.« Der leere Blick und der benommene Ausdruck auf ihrem Gesicht waren ihm beinah unheimlich. »Könnte sein, er ist weiter ins Landesinnere.«
»Nein.« Sie schüttelte nur den Kopf. Obwohl die Sonne auf das Dach des Flugzeugs knallte, war ihr so kalt, daß sie fröstelte. »Er hat hier seine Botschaft für uns hinterlassen.«
Verwirrt blickte sich Mouse im Cockpit um. »Aber Roxy, hier ist doch nichts.«
»Eben.« Sie schloß die Augen und gab endgültig jede Hoffnung auf. »Hier ist nichts, Mouse. Er will nicht gefunden werden. Fliegen wir wieder heim.«