Dreizehn

Dunkelmond

Die Finsternis deckt all unsere Taten

Und füllt unsere Seelen, durch und durch

Tod und Verderben bringen wir allen

Was Deveraux wollen, das nehmen sie sich

O Göttin, führt uns durch die Nacht

Gebt Eure Kraft und Wünsche uns ein

Stärkt unseren Willen, weiterzukämpfen

Den Aufgang der schrecklichen Sonne zu hindern

Der Cathers-Anderson-Coven: Paris, im November

In ihrem weißen Tempelgewand spazierte Holly im Licht des abnehmenden Mondes durch den Garten und genoss die Ruhe. Es erstaunte sie, dass ein so riesiger Komplex wie der Mondtempel in einer lauten, geschäftigen Stadt wie Paris liegen konnte. Doch das Gelände war sehr schön, mit Bannen gegen Lärm und Chaos abgeschirmt, und ein Teil von ihr wünschte, sie könnte Altardienerin werden und den Rest ihres Lebens hier verbringen.

Die haben keine Ahnung, wie es jenseits dieser Mauern zugeht, dachte sie. Sie haben vergessen, wie es draußen ist. Oder sind wir der Wirklichkeit stärker verhaftet, uns all des Bösen in der Welt mehr bewusst, weil wir gegen Michael Deveraux kämpfen müssen?

Jemand folgte ihr. Sie spürte eine Vibration in der Luft und hörte leise Schritte auf dem Weg aus glatt geschliffenen Platten, der sich wie eine Schlange durch den Garten wand. Sie schloss die Augen, murmelte einen Erkennenszauber und entspannte sich, als sie sah, dass es ihre Cousine war.

Sie ging langsam, damit Amanda zu ihr aufholen konnte. Amandas Gewand war ihr ein wenig zu lang, und sie hielt den gerafften Stoff in beiden Fäusten - sie sah aus wie ein kleines Mädchen, das das Kleid seiner Mutter anprobiert. Holly lächelte sehnsüchtig beim Gedanken an frühere, glücklichere Zeiten.

»Ich soll dich suchen«, sagte Amanda anstelle einer Begrüßung. »Sie bereiten ein Stärkungsritual für uns vor.«

Holly war erstaunt. Sie wissen also, dass wir gehen wollen. Sie hatten nur einen Tag und eine Nacht hier verbracht, doch sie wusste genau, dass sie sich nicht mehr Zeit gönnen konnten, um sich von der Schlacht gegen Michael und dem langen Flug nach Paris zu erholen.

»Tommy und Silvana sind schon drinnen«, fuhr Amanda fort und fügte dann mit einem leicht gehässigen Grinsen hinzu: »Kari sagt, sie will nicht daran teilnehmen, und verlangt von der Hohepriesterin, dass irgendjemand sie zum Flughafen fährt.«

»So gar kein Teamgeist«, bemerkte Holly, und dann fiel ihr auf, dass gerade sie nicht mit Steinen werfen sollte.

Ein wohlklingender Gong wurde dreimal geschlagen. Amanda wandte sich Holly zu, die sagte: »Dann los.«

Sie gingen zusammen den gewundenen Pfad entlang, bogen an einer langen Hecke ab und standen vor dem Mondtempel. Der Eingang war ein riesiger steinerner Bogen, das Dach des Gebäudes eine gedrungene Kuppel. Mehrere prächtige Platanen flankierten das Portal, und vor jedem Baum stand eine weiße Marmorstatue der Göttin in einer ihrer Erscheinungen, wie auch im Inneren des Tempels: Astarte, Diana, Isebel, Maria von Nazareth, Mutter Theresa.

Amanda blieb abrupt stehen. Sie legte eine Hand auf Hollys Unterarm und flüsterte: »Holly, schau.«

Die Statue der Hekate weinte. Tränen liefen in kleinen Rinnsalen über das steinerne Antlitz.

Holly schluckte. Bewegt kniete sie vor der Statue nieder und neigte den Kopf. Amandas Miene war weich vor Mitgefühl, und Holly sagte stumm:

Meine Cousine glaubt, ich würde dich um Vergebung bitten, Göttin Hekate. Doch ich habe nur deinen Willen getan, und ich weigere mich zu glauben, dass ich allein für den Tod des Hexentiers verantwortlich bin.

Die Tränen der Statue versiegten.

Holly hatte keine Ahnung, was das bedeutete, aber es war immerhin eine Art Antwort.

»Ach, Holly«, flüsterte Amanda, die die Statue anstarrte. Sie nahm Hollys Hand und half ihr auf. »Holly, es ... es tut mir leid, dass ich so gemein zu dir war.«

Holly tat es auch leid, aber nicht so, wie Amanda glaubte. Es tat ihr leid, dass Amandas Entschuldigung ihr nichts bedeutete und für sie nur ein weiterer Beweis dafür war, dass Amanda nicht stark genug war, den Coven anzuführen.

Ich habe mich so sehr verändert, dachte sie. Seit ich Hecate geopfert habe, bin ich entschlossener geworden, zäher. Und Kialishs Tod... hat mein Herz erhärtet.

Tja, dann ist es eben so. Wenn ich mich so verändern muss, um meinen Coven am Leben zu erhalten und Jer zu retten, dann habe ich nichts dagegen.

Zusammen betraten sie den Tempel, gingen durch das Foyer und blieben einen Moment lang unter der Kuppel aus Alabaster stehen, die das Mondlicht hindurchscheinen ließ. Dann betraten sie durch einen weiteren, kleineren bogenförmigen Eingang den eigentlichen Tempel und blieben wie angewurzelt stehen.

Gut zweihundert Frauen in weißen Gewändern saßen im Tempelsaal. Sie ruhten auf weißen Seidenkissen oder saßen an den Wasserbecken, in denen Rosen und Lilien trieben. Es gab keine Stühle, keine Sitzreihen oder Ähnliches - die Versammlung wirkte sehr locker, fließend und wie zufällig.

Sie sehen aus wie Katzen, dachte Holly.

In der Mitte des Tempels unter einer zweiten Kuppel, die von außen nicht zu sehen war, stand ein großer steinerner Tisch. Die Hohepriesterin erwartete sie dahinter und empfing Holly und Amanda mit ausgebreiteten Armen. Sie trug einen silbernen Kopfschmuck, auf dem eine mit Diamanten besetzte Mondsichel funkelte. Mondsicheln waren auch mit Henna auf ihre Handrücken und Wangen gemalt.

»Willkommen, Cahors. Wir grüßen euch.«

Amanda warf Holly einen Seitenblick zu und flüsterte: »Warum spricht sie uns mit der alten Version unseres Namens an?«

Weil wir für die Coventry so heißen. Wir sind hier keine Cathers und keine Anderson.

Wir sind das Haus Cahors. Nach allem, was wir wissen, sind du, Nicole und ich vielleicht die einzigen lebenden Nachkommen dieser Linie.

»Willkommen, Cahors«, sagten all die weiß gekleideten Frauen im Chor.

»Der Zirkel möge vortreten«, sprach die Hohepriesterin.

Silvana und Tommy, die neben einer der Statuen gesessen hatten, standen auf und gingen auf die Hohepriesterin zu. Wie alle anderen trugen sie weiße Tempelkleidung, aber Silvanas dunkles Haar hing ihr offen über die Schultern. Tommy wirkte in dem weißen Gewand und zwischen den vielen Frauen ein wenig verlegen, lächelte aber tapfer.

Holly stupste Amanda an, und sie traten ebenfalls vor.

Die Hohepriesterin streckte die Arme zur Seite aus und drehte sich einmal im Kreis, während sie rezitierte: »Meine Schwestern, wir sind hier, um diesen unseren Tochterzirkel zu stärken und zu schützen, ehe er diese Mauern verlässt.«

Holly konnte eine verächtliche Reaktion nicht unterdrücken. Sie reckte das Kinn und dachte stirnrunzelnd: Wir sind kein Tochterzirkel. Wir sind eine unabhängige, selbständige Einheit. Wir haben uns nicht bereit erklärt, uns von denen herumkommandieren zu lassen.

Doch die anderen Frauen im Raum murmelten: »Seid gesegnet«, um ihrer Zustimmung zu den Worten der Hohepriesterin Ausdruck zu verleihen.

Sie bedeutete Holly und den anderen, sich hinzuknien. Sie gehorchten, und Holly wappnete sich, denn sie wusste nicht, was als Nächstes kommen würde.

Ein schönes junges Mädchen mit asiatischen Gesichtszügen erschien an der Seite der Hohepriesterin. Sie trug eine Alabasterschale, die Lavendelduft verströmte.

»»Wir salben euch mit Öl«, sagte die Hohepriesterin. Sie tauchte die Fingerspitzen in die Schale und zog sie wieder heraus. Nach Lavendel duftendes Öl tropfte von ihren Fingern.

Die Hohepriesterin und das Mädchen traten zuerst vor Silvana.

»Göttin, schützt die Augen dieser jungen Frau.« Silvana schloss die Augen, und die Hohepriesterin strich mit den Fingerspitzen über ihre geschlossenen Lider.

»Göttin, schützt ihre Lippen.«

Sie tupfte Öl auf Silvanas Mund.

»Schützt ihr Herz.«

Hollys Gedanken schweiften ab.

Ich gehöre nicht hierher. Der Mutterzirkel hat den Anschluss verloren, den Bezug zum Hier und Jetzt. Ich muss mit einer stärkeren Gruppe zusammenarbeiten, mit Leuten, die sich nicht scheuen, auch mit härterer Magie gegen die Deveraux und den Obersten Zirkel vorzugehen.

Sie stellte sich härtere, zähere Frauen vor, nicht so weich, lieblich und besorgt.

Amazonen, dachte Holly. Vor ihrem geistigen Auge sah sie sich auf ihrem gespenstischen Schlachtross die Geisterarmee auf der Elliott Bay kommandieren.

Ich muss mehr Frauen finden - nein, mehr Menschen -, die den Mut haben, so zu kämpfen.

»... und helft ihnen, die dritte Lilienfürstin aus den Fängen unserer Feinde zu befreien ...«

Lilienfürstin?

»Seid gesegnet«, beteten die Frauen inbrünstig.

»Wenn sie also ausziehen, um ihre Hexenschwester Nicole Anderson zu retten ...«

»Nein.«

Holly stand auf, so dass das Mädchen mit der Alabasterschale ängstlich zurückweichen musste. Etwas Öl schwappte aus der Schüssel auf ihren Ärmel.

Alle im Saal schnappten nach Luft.

»Holly?«, raunte Amanda.

»Wir werden Nicole holen«, versprach Holly ihrer Cousine, »aber zuerst...«

»Nein«, unterbrach Amanda sie und stand ebenfalls auf. Sie wandte sich an die Hohepriesterin. »Ihr wisst, was sie vorhat.«

Die Priesterin nickte und sagte dann zu Holly: »Nicole ist von deinem Blut. Du bist ihr diese Pflicht schuldig.«

»Ich schulde niemandem eine Pflicht!«, donnerte Holly.

Dann war es, als hätte jemand eine Art schimmerndes, schützendes Energiefeld vor sie gelegt. Aus ihrer Perspektive war alles und jeder im Tempel in blaues Licht getaucht. Sie blickte auf ihre Hände hinab und sah, dass auch sie in Blau gehüllt waren.

»Isabeau«, sagte Amanda und starrte Holly mit offenem Mund an.

Hollys Lippen teilten sich, doch es war nicht ihre Stimme, die sprach.

»Alors, wir sind zu euch gekommen, weil wir Mut und Kraft brauchen. Aber ihr seid so schwach! Diese Hexe, allein diese, wird den Mutterzirkel retten und den Obersten Zirkel daran hindern, die gesamte Menschheit zu versklaven! Und der Sohn eures ärgsten Feindes wird ihr dabei helfen - Jeraud Deveraux!«

Die Hohepriesterin trat direkt vor Holly, als wollte sie alle anderen im Raum von ihr abschirmen.

Sie fürchtet uns, dachte Holly hämisch.

Amanda ergriff als Nächste das Wort.

»Isabeau«, sagte sie mit leiser, aber fester Stimme. »Ich weiß, warum du zu ihm willst. Dein Mann kann Besitz von ihm ergreifen, so wie du es bei Holly tust.«

»Schweig!« Isabeau stieß einen Wortschwall hervor, und Holly, die Isabeau hatte weichen müssen, konnte nur zusehen und vermuten, dass es sich dabei um mittelalterliches Französisch handelte.

Dann zwang Isabeau Holly, die Hände zusammenzupressen. Eine leuchtende Kugel aus blauer Energie bildete sich zwischen ihren Handflächen. Sie kribbelte und zischelte an ihrer Haut.

Die Frauen im Tempel reagierten sofort. Einige schrien auf, andere duckten sich zu Boden. Alle bis auf eine, die ein wenig abseits stand. Ihr Gesicht war unter der Kapuze ihres Gewands verborgen. Hollys Blick wurde zu ihr hingezogen. Sie hatte irgendetwas an sich ...

Ihre Aufmerksamkeit wandte sich wieder den anderen zu, als die Frauen die Flucht ergriffen. Holly jubelte innerlich über diesen Beweis ihrer Angst und ihres Respekts. Selbst die Hohepriesterin wich mindestens drei Meter weit zurück.

Ich bin dabei, Isabeau, ließ Holly ihre Ahnin stumm wissen.

Ma brave, entgegnete Isabeau. Du bist wahrhaftig eine prachtvolle Hexe!

»Bedrängt uns nicht!«, rief Holly und genoss den Augenblick. Pure Freude wallte in ihr auf, als sie drohend die Hand über den Kopf hob und auf die nächststehende Statue der Göttin zielte... Wieder Hekate!

Und wie vorhin im Garten, begann nun die Statue im Tempel zu weinen.

Holly wurde augenblicklich aus ihrer Euphorie gerissen.

Was tue ich denn da?

Tu es, tu es, drängte Isabeau. Doch ihre Herrschaft über Holly war gebrochen.

Mit flammenden Wangen ließ Holly den Arm sinken. Der Feuerball verschwand.

Dann war Isabeau fort. Holly spürte, wie die Verbindung abbrach, als hätte jemand nach einem Telefongespräch aufgelegt.

Entsetzt über das, was sie gesagt und getan hatte, eilte sie zu Amanda und murmelte: »Es tut mir leid, Manda. Es tut mir leid.« Sie brach in Tränen aus.

»Ist schon gut«, entgegnete Amanda. Doch die Angst, die in ihrer Stimme mitschwang, strafte ihre Worte Lügen.

Holly schmiegte das Gesicht an die Schulter ihrer Cousine und sagte: »Wir suchen nach Nicole. Wir werden sie retten.«

Sir William, James und Nicole:

Hauptquartier des Obersten Zirkels, im November

Sir William sah mit großer Freude - und wehmütigem Neid - zu, wie Nicole Anderson, zu stummem Gehorsam verhext, die Hand in die seines Sohnes legte. Sir William selbst umwickelte ihre Hände mit einem in Kräuteröl getränkten Stoffstreifen und schlitzte ihnen die Handflächen auf, damit sich ihr Blut vermischte.

Er wird mit ihr schlafen, sich ihre Macht nehmen und die restlichen Cathers-Hexen hierherlocken, und dann werde ich sie alle drei zum Yulfest bei lebendigem Leib verbrennen lassen.

Die Nachricht war soeben eingetroffen: Holly Cathers und der traurige Rest ihres Covens waren nach London gekommen, mit dem Ziel, Nicole zu retten.

Es amüsierte ihn, wie vorsichtig sie sich herumdrückten; José Luis Coven hatte es genauso gemacht. War ihnen denn nicht klar, dass London die angestammte Heimat des Obersten Zirkels war? Dass nichts, was hier vorging, unbemerkt bleiben konnte?

Nichts. Auch James muss bewusst sein, dass ich von seinen vielen Plänen und Intrigen weiß, mich zu stürzen, dachte er, während er seinen Sohn, den Bräutigam, strahlend anlächelte. Michael Deveraux muss das ebenfalls klar sein.

Die Deveraux sind ja so wunderbar hitzköpfig. Man weiß nur nie, in welche Richtung sie explodieren werden... und wenn ihre Lunte einmal angezündet ist, kann niemand sagen, wen es treffen wird.

Das macht das Leben interessant. Und wenn man so lange gelebt hat wie ich, ist diese Würze ein seltenes und kostbares Geschenk - kostbar genug, um gefährliche Gegner am Leben zu lassen, obwohl sie längst mit ausgestochenen Augen im Garten verfaulen sollten.

Die kleine Braut, die von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet vor ihm stand, schwankte leicht und blinzelte. Er sah das Grauen und die Verzweiflung in ihren Augen, als sie feststellte, dass sie nichts tun konnte, um diese Hochzeit zu verhindern. Sie konnte nicht sprechen und sich nicht weigern, James zu heiraten.

Sir William amüsierte sich damit, Salz in diese Wunde zu streuen. Er hob den Kelch, in den das Blut des Brautpaars getropft war, prostete ihnen zu und sagte: »Es ist vollbracht. Ihr seid verheiratet.«

Beinahe im selben Atemzug wandte er sich einem sehr jungen und sehr ehrgeizigen Hexer namens Ian zu, der vor allem danach strebte, ein bedeutender Hollywood-Regisseur zu werden, und sagte: »Sucht nach Holly Cathers und ihren Leuten, und schnappt sie euch. Wenn ihr sie nicht festhalten könnt, tötet sie auf der Stelle.«

Michael, Eli und Laurent: Seattle, im November

Der Mond hatte ab- und wieder zugenommen, und nun war er voll. Die Villa der Familie Anderson war verlassen. Vorsichtige Erkundigungen hatten ergeben, dass Richard Anderson umgezogen sei, zumindest vorübergehend, doch weder die dumme Gans von der Telefongesellschaft noch der Lakai der Versorgungswerke oder das Reisebüro, über das Richard normalerweise buchte, konnten Michael sagen, wohin er verschwunden war.

Spielt keine Rolle. Ich werde ihn schon finden... wenn ich ihn brauche.

Er stand im Garten hinter der prächtigen Villa, zusammen mit Laurent und Eli, der gerade erst aus London angekommen war und die Neuigkeit mitgebracht hatte, dass James und Nicole verheiratet waren.

Eli hatte deutlich gespürt, dass es wohl Zeit wurde, reichlich Distanz zwischen sich und die vielen Intrigen in London zu schaffen und seine Position neu zu überdenken. Er hatte Jer nicht töten können - noch nicht - und ihm war klar geworden, dass er das auch erst tun sollte, wenn er seinem Vater ein wirklich wertvolles Versöhnungsgeschenk bringen konnte, denn sonst könnte es ihn selbst das Leben kosten.

»Da ist er«, sagte Michael und deutete auf einen Rosenbusch im Garten. Rosen blühten normalerweise nicht im November, jedenfalls nicht in Seattle, und doch leuchtete der Strauch vor roten Blüten, obwohl Rot im Mondlicht normalerweise zu Grau verblasste.

Dann erschien Fantasme, der Bussard, am Himmel und flog zu ihnen herab. Michael begrüßte ihn mit einem Lächeln, und Eli nickte ihm zu. Laurent seufzte vor Freude und streckte den Arm aus. Zu seinen Lebzeiten war Fantasme sein Gefährte bei vielen prächtigen Jagden gewesen.

Dann kam Michael zur Sache. Er holte tief Luft, fand seine Mitte, breitete die Arme aus und sprach die Erde an.

»Ich befehle dir: Erhebe dich, und diene mir«, sagte er.

Donner grollte in der Ferne, und es begann zu regnen.

Michael rührte sich nicht, sondern wiederholte die Anrufung. »Ich befehle dir: Erhebe dich, und diene mir.«

Es regnete stärker.

»Wir hätten Regenschirme mitnehmen sollen«, brummte Eli. Laurent brachte ihn mit einem scharfen Blick zum Schweigen. Doch mehr tat er nicht. Der große Fürst der Deveraux passte sich allmählich an die Wirklichkeit dieses modernen Lebens an - und dazu gehörten auch freche Ur-Urenkel.

Ein Blitz zuckte herab.

»Ich befehle dir: Erhebe dich, und diene mir.«

Der Rosenstrauch bebte, und ein unirdisches, zorniges Jaulen drang aus dem Boden darunter.

Die drei beobachteten, wie die matschige Erde unter dem Rosenstrauch in Bewegung geriet.

Ein zorniges Miauen war zu hören, gefolgt von einem leisen, drohenden Fauchen.

»Ich befehle dir: Lebe«, schloss Michael und breitete die Arme aus.

Eine einzelne Pfote schoss aus dem Matsch hervor. Dann bäumte sich die Erde auf. Im prasselnden Regen stand das tote Hexentier Hecate wackelig auf allen vier Beinen und blinzelte.

»Ich gebe dir das Leben zurück«, sagte Michael zu ihr, »welches die Hexe Holly Cathers dir genommen hat. Wirst du mir dienen?«

Hecate öffnete das Maul.

»Ich habe dich aus dem Tod befreit«, erinnerte er sie. »Wirst du mir dienen?«

Sie schauderte.

»Ich diene«, sagte sie.

Das war erledigt. Michael drehte sich im Kreis, vom Unwetter durchweicht. Der Wind heulte und kreischte, Blitze zuckten und krachten.

»Wer noch?«, rief er.

Der Regen prasselte herab, und Wolken jagten vor dem Mond vorüber. »Wer tritt in meine Dienste? Wer schließt sich meinem Zirkel an?«

»Ich diene«, erklang ein ganzer Chor.

Hecate sprang auf seinen Arm. Er streichelte sie, während überall um ihn herum Gestalten auftauchten: tote Männer und Frauen, Gnome und Geister, missgestaltete Dämonen und Wichtel, die von der Folter gezeichnet waren.

Michael verstand. All diese Geschöpfe hatten die Cahors angegriffen und waren getötet worden, oft auf grausame Weise. Die Cahors hatten ihren Feinden gegenüber niemals Erbarmen gezeigt - eine Tatsache, über die Isabeau bei ihrem so genannten »Plan«, Jean vor dem Feuertod zu retten, geflissentlich hinweggesehen hatte. Der Rachedurst jener, die seinem Aufruf folgten, war so groß, dass er sie auf Erden zurückgehalten hatte - eine Art irdisches Leben nach dem Tod, wenn man die Definition etwas lockerte.

»Wir werden sie finden«, versprach er seinen neuen Anhängern. »Und sie und ihr Zirkel werden für alles bezahlen, was je eine Cahors einem von uns angetan hat.«

»Für alles«, wiederholte der graue Totenchor. Michael lächelte sie an, und dann Laurent, der anerkennend sagte: »Bien. Gut gemacht.«

Michael entgegnete: »Ich habe geschworen, sie bis Mittsommer zu töten. Und das werde ich auch tun.«

Jer: Avalon, im Dezember

Auf Avalon ging Jer in seiner Zelle auf und ab und lauschte seiner Informantin, die ihm berichtete: »Der Cathers-Anderson-Coven ist angeblich in London. Sir William und James suchen überall nach ihnen.«

Ich darf meinen Geist nicht nach Holly ausschicken, sonst führe ich sie womöglich zu ihr, dachte Jer, bestürzt über diese Neuigkeit. Ich habe ihr doch gesagt, sie soll sich von mir fernhalten ...

Aber sie ist ja nicht meinetwegen in London. Sie sucht nach ihrer Cousine.

Darüber war er zugleich froh und enttäuscht. Doch das spielte keine Rolle.

Sie muss überleben.

Isabeau und Jean: Jenseits von Zeit und Raum

Isabeau lief mit ausgestreckten Armen auf Jean zu, doch der Hass, der sich auf seinem Gesicht spiegelte, ließ ihre Beine erlahmen. Sie sank vor ihm nieder und murmelte: »Vergib mir, mein Liebster. Ich habe versucht, dich zu retten. Ich wollte nicht, dass du durch meine Hand stirbst.«

»Und doch hast du einer anderen offenbar geschworen, mich zu töten«, erwiderte er. »Und so jagen wir einander durch alle Zeiten hindurch, aneinander gefesselt von unserem Hass.«

»Non, non. Von der Liebe«, beharrte sie. »Von unserer Liebe, mon Jean.«

Der Ausdruck auf ihrem Gesicht hielt ihn gefangen, bezauberte ihn, verhexte ihn. Sie war seine Isabeau, seine Liebste ...

»Ma vie, ma femme!«, stieß Jean hervor. Mein Leben, meine Frau.

Er fiel vor ihr auf die Knie, schloss sie in die Arme und küsste sie.

Jer küsste Holly in seinen Träumen...

In ihren Träumen erwiderte Holly seinen Kuss.

»Jer«, murmelte sie im Schlaf. »Ich werde dich finden.«