Eins
Weinmond
Trotzig schreien wir in den Himmel
Zur Sonne, die in die Augen uns scheint
Mächtig ist das Haus Deveraux
Und wächst von Stund zu Stund mehr
Eilt herbei, Cahors, meine Schwestern
Durch Worte allein werden wir reich
Die Alte befiehlt uns stets zu lauschen
Denn Worte sind Wissen und Wissen ist Macht
Holly und Amanda: Seattle, nach Lammas
Im Jahr der Coventry, der Welt der Hexenzirkel ist der Herbst die Zeit, zu der man erntet, was man gesät hat, und zwar siebenfach. Das gilt für die Seelen der Toten genauso wie für Getreidegarben und Weintrauben.
Ein volles Jahr war vergangen, seit Holly Cathers Eltern und ihre beste Freundin Tina Davis-Chin bei einer Rafting-Tour auf dem Colorado-River ertrunken waren. Der Tod war auch ins Haus der Andersons in Seattle eingefallen und hatte sich Marie-Claire geholt, die Schwester von Hollys Vater. Marie-Claire Cathers-Anderson ruhte nun in einem der beiden Gräber, die sie und ihr Mann Richard einmal gemeinsam gekauft hatten - ein romantischer Traum von der Ewigkeit. Die Wirklichkeit, in der sie ihn betrogen hatte, machte es Onkel Richard schwer, auf eine andere, bessere Welt im Jenseits zu hoffen, wo sie auf ihn wartete. Davon erzählte er Holly oft, seit er sich angewöhnt hatte, spät abends zu trinken.
Tinas Mutter Barbara Davis-Chin lag noch immer im Marin County General Hospital in San Francisco. Früher hatten sie und Hollys Mom dort als Ärztinnen in der Notaufnahme gearbeitet. Jetzt, da Holly von der Welt der Hexerei erfahren und ihren Platz als Oberhaupt ihres eigenen Covens eingenommen hatte, wusste sie, dass Barbaras rätselhafte Krankheit kein Zufall war.
Barbaras Erkrankung war Michaels erster Angriff auf uns. Er wollte mich hier in Seattle haben. Ich hätte bei Barbara in San Francisco wohnen sollen, aber er brauchte mich hier - weil er mich umbringen wollte.
Blitze zuckten im strömenden, eiskalten Regen. Die starken elektrischen Ladungen fächerten sich auf wie Suchtrupps und rammten ihre vielen Arme mit ohrenbetäubendem Krachen in die Erde. Holly fühlte sich schutzlos in der Familien-Kutsche, einem Kombi, der wie ein lahmer Lockvogel durch die Pfützen watschelte. Drei Querstraßen von Kari Hardwickes Wohnung entfernt stieg sie aus und rannte den Rest des Weges dorthin.
Holly selbst war mit starken Schutzzaubern versehen und trug obendrein einen Umhang, der unsichtbar machte. Tante Cecile, eine Voodoo-Pries- terin, und Dan Carter, ein indianischer Schamane, hatten ihn gemeinsam geschaffen. Holly trug ihn jetzt immer, wenn sie das Haus verlassen musste. Er war alles andere als perfekt und verlor des Öfteren die Macht, sie zu verbergen, doch Holly hatte ihn brav getragen, seit die beiden ihr den Umhang geschenkt hatten - das war keine Woche nach dem Kampf um das Schwarze Feuer zu Beltane gewesen.
Der Coven erwartete sie in Karis Studentenwohnung in einer coolen, umgebauten Queen-Anne-Villa in der Nähe der University of Washington. Kari hatte diese Zusammenkunft des Zirkels gefordert. Gestern Nacht um drei Uhr - zur Dunklen Stunde der Seele - war sie aus einem schrecklichen Albtraum erwacht, an den sie sich nicht genau erinnern konnte. Etwas hatte sie zum Fenster hingezogen, und sie hatte voller Entsetzen zugesehen, wie Ungeheuer um ihr Turmzimmer herumflogen - riesige, pechschwarze Geschöpfe, bei denen es sich ziemlich sicher um übergroße Raubvögel handelte.
Bussarde waren das Totemtier der Familie Deveraux.
Falls Michael Deveraux nach Seattle zurückgekehrt war und obendrein eine Möglichkeit gefunden hatte, seinen verderbten Sohn Eli zu retten, dann steckte der Cathers-Anderson-Coven in gewaltigen und womöglich tödlichen Schwierigkeiten. Michael Deveraux gierte danach, die Fehde zu vollenden, die vor so vielen Jahrhunderten zwischen den Ahnen der Cathers und der Deveraux entbrannt war. Diese Blutrache forderte nicht weniger als den Tod jeder lebenden Cathers-Hexe - und das waren Holly und ihre Cousinen Amanda und Nicole.
Als Oberhaupt des Cathers-Anderson-Zirkels war es Hollys Aufgabe, sie alle und sich selbst zu beschützen.
Dabei standen ihr nur wenige Waffen zur Verfügung. Sie wusste noch nicht einmal seit einem Jahr, dass sie eine Hexe war, wohingegen die Deveraux nie vergessen hatten, dass sie wie ihre Ahnen zu den meistgehassten und -gefürchteten Hexern aller Zeiten gehörten. Hollys Nachname lautete zwar Cathers, aber ihre Vorfahren hatten im mittelalterlichen Frankreich dem adligen Haus Cahors angehört. Im Lauf der Zeit war ihre Identität zusammen mit ihrem richtigen Namen verloren gegangen. Holly glaubte, dass ihr Vater von dem Hexenblut in seinen Adern gewusst hatte, doch sie war nicht sicher. Sie wusste nur, dass er mit der Familie seiner Schwester in Seattle gebrochen hatte - erst nach seinem Tod hatte Holly von seiner Schwester erfahren, und dass sie selbst zwei Cousinen hatte.
Holly fragte sich, was er wohl davon halten würde, dass sie ihr Hexen-Erbe widerstrebend angetreten hatte und nun einen richtigen Zirkel leitete, auch wenn es sich dabei um eine bunt zusammengewürfelte Mischung von Traditionen und magischen Kräften handelte. Der Coven bestand aus Amanda, Amandas Freund Tommy Nagai, Cecile Beaufrere, der Voodoo-Mambo, und ihrer Tochter Silvana. Außerdem hatten sie den Rest von Jers Rebellen-Zirkel aufgenommen - Eddie Hinook und seinen Liebhaber Kialish Carter und Jers frühere Freundin Kari Hardwicke. Kialishs Vater war der Schamane, der an ihrem Umhang mitgewirkt hatte, doch er war dem Zirkel nicht offiziell beigetreten.
Der Cathers-Anderson-Coven war wie ein winziges Papierschiffchen auf einem Ozean, verglichen mit den Kräften des Bösen, die sich gegen ihn verschworen hatten.
Ein Blitz zuckte direkt über ihr und riss sie aus ihren sorgenvollen Gedanken. In letzter Zeit schien sie sich ständig Sorgen zu machen.
Ängstliche Gesichter, vom Regen verschwommen, spähten durch die Fenster, an denen Holly vorbeilief. Die Anwohner dieser Straße trösteten sich zweifellos damit, dass Blitzableiter ihre Häuser schützten. Doch Holly wusste: Wenn Michael Deveraux Blitze aussandte, würde kein gewöhnlicher Schutz ein Gebäude davor bewahren, bis auf die Grundmauern niederzubrennen.
»Göttin, hülle mich in deinen Segen«, murmelte sie. Sie hielt sich in den Schatten und bewegte die Finger unter dem Umhang. »Schütze meinen Zirkel. Beschütze auch mich.«
Das war zu ihrem Mantra geworden - und manchmal das Einzige, was sie davon abhielt, völlig in Panik zu geraten.
Jede Nacht frage ich mich vor dem Einschlafen, ob Michael Deveraux nach Seattle zurückgekehrt ist...
Und ob ich am nächsten Morgen wieder aufwachen werde.
Amanda Anderson wartete voller Sorge auf Holly. Sie presste Gesicht und Hände an die kalte Fensterscheibe des Turmzimmers von Kari Hard- wickes Wohnung. Die Narbe an ihrer rechten Handfläche würde sie jedem wissenden Auge, ob es einem Vogel oder einem Hexer gehörte, als Cathers verraten. Als ihr das einfiel, zog sie hastig die Hände von der Scheibe und drückte sie sich an die Brust.
Hinter ihr waren Cecile Beaufrere, die alle »Tante Cecile« nannten, und ihre Tochter Silvana damit beschäftigt, die schützenden Banne zu überprüfen. Gemeinsam mit Dan Carter hatten sie Holly und Amanda dabei geholfen, sie aufzubauen. Die beiden hatten ihr Haus in New Orleans verrammelt und waren nach Seattle gezogen, um Hollys Coven im Kampf gegen die Deveraux zu helfen. Zu ihrem persönlichen Schutz hatten Mutter und Tochter Amulette aus Silber und Glasperlen in ihr kunstvoll frisiertes, weiches schwarzes Haar geflochten - sie sahen aus wie nubische Kriegerinnen, die zur großen Jagd ausziehen wollten.
»Es wäre besser, wenn wir Nicole dabeihätten«, murmelte Silvana. »Die drei Cathers-Hexen erschaffen gemeinsam viel stärkere Magie als Holly und Amanda allein.« Zum Beweis dafür trug jede der drei einen Teil des Symbols ihrer Familie, der Lilie der Cahors, in die Handfläche eingebrannt. Gemeinsam verfügten die Cousinen über mehr magische Kräfte als jede für sich.
Doch zur gegenwärtigen Inkarnation des Cahors-Zirkels gehörten nur zwei. Die dritte fehlte seit dem Kampf um das Schwarze Feuer. Die ungeheuerliche Realität dessen, was sie da taten, hatte Amandas Schwester Nicole zu hart getroffen. Sie war davongelaufen, hatte Seattle verlassen, und die beiden verbliebenen Cathers-Hexen hatten keine Ahnung, wo sie sein könnte.
Amanda konnte es ihrer Schwester kaum verübeln, doch ihre Flucht hatte alle anderen geschwächt und sie möglichen Angriffen der Deveraux noch mehr ausgeliefert. Holly hatte den Coven davon überzeugt, sich den Sommer über in der magischen Kunst zu üben, zu wachsen und mit Jers Anhängern zusammenzuarbeiten. Und während des gesamten Sommers hatten sie keine Spur von Michael Deveraux gesehen - er war das Oberhaupt des Deveraux-Covens und Jers Vater, von dem Jer selbst sich losgesagt hatte. Ebenso wenig wussten sie über den Verbleib von Michaels älterem Sohn Eli, der im letzten Augenblick brennend von einem gewaltigen magischen Bussard aus dem Schwarzen Feuer davongetragen worden war.
Niemand hatte seither mehr einen Deveraux gesehen.
Das Kreischen eines Vogels hallte durch den Donner. Holly blickte auf und kniff gegen den Regen die Augen zusammen. Eine Schar schwarzer Vögel kreiste und flatterte im starken Wind. Ihre Augen blitzten, ihre blauschwarzen Flügel schlugen gegen den Sturm an.
Es waren Bussarde.
Holly eilte weiter und erreichte die Wohnung, ohne von den Vögeln entdeckt zu werden - zumindest hatte es den Anschein, als sei dieses Gebet erfüllt worden. Amanda öffnete die Tür, ehe Holly klopfen konnte. Wie Holly wirkte auch Amanda erwachsener, ihr Gesicht war schmaler, das mausbraune Haar von der Sommersonne mit blonden Strähnchen durchzogen. Sie war nicht mehr die »langweilige« Zwillingsschwester, die neben der lebhaften, dramatischen Nicole verblasste. Sie war stark und weise - in magischer Hinsicht eine Priesterin. Holly war zutiefst dankbar dafür, dass Amanda da war.
»Hast du... bist du sicher hergekommen?«, fragte Amanda, als sie die klatschnasse Holly sah.
»Das Auto war ein zu leichtes Ziel«, entgegnete Holly. »Ich bin zu Fuß gegangen.«
»Hast du immer noch keinen Besen?« Das war Kari, die ziemlich verängstigt wirkte. Holly verzieh ihr die spitze Bemerkung, aber sie hatte die vielen Spitzen satt, die Kari im Lauf der vergangenen Monate auf sie abgeschossen hatte.
Sie hasst mich, dachte Holly. Sie gibt mir die Schuld an Jers Tod.
Und sie hat recht. Ich habe ihn getötet.
Holly räusperte sich, als die anderen sich um sie versammelten. Alle sahen sie erwartungsvoll an, als wüsste sie, was jetzt zu tun war. In Wahrheit hatte sie keine Ahnung.
»Wir sollten einen Kreis bilden. Wer will heute Abend unser Arm des Gesetzes sein?«, fragte sie und sah die drei Männer in der Gruppe an. Wie in vielen Wicca-Traditionen übten auch in Hollys Zirkel die Frauen die Magie aus, während die Männer den Kreis vor Unheil schützten. Diejenige, die den Ritus anführte, war die Hohepriesterin des Covens. Ihr männliches Gegenstück nannte man den »Langen Arm des Gesetzes«. Im Cathers-Anderson-Coven wehrte er alles Böse mit einem prachtvollen alten Schwert ab, das Tante Cecile bei einem Antiquitätenhändler entdeckt hatte. Der Coven hatte es mit magischer Macht versehen.
Ich werde als Arm des Gesetzes dienen, sagte Tommy und neigte
den Kopf.
Dann knie nieder, wies Holly ihn an, und empfange meinen Segen.
Er ließ sich auf die Knie nieder. Amanda trat mit einer wunderschön
geschnitzten Holzkelle voller Öl vor, in dem Hollys magisches
Lieblingskraut schwamm: Rosmarin. Das Kraut wurde mit Erinnerung
und Gedenken assoziiert - Holly konnte immer noch kaum fassen, dass
das magische Blut der Cahors seit Jahrhunderten in den Adern ihrer
Familie floss, doch jede Erinnerung daran verloren gegangen
war.
Holly hielt die Hände über das Öl und rief stumm die Göttin an,
während Silvana dem Zirkel das Schwert präsentierte und es dann
Tommy in die Hände drückte. Es bestand aus Bronze und war sehr
schwer. Runen und Sigillen waren in das Heft getrieben und mit
Säure in die Klinge geätzt, doch niemand im Coven - nicht einmal
Kari, die als Doktorandin sehr viel über diverse magische und
volkskundliche Traditionen wusste - hatte auch nur eine davon
entziffern oder übersetzen können.
Tommy atmete tief ein und aus, wurde eins mit dem Schwert und mit
Hollys rhythmischen Atemzügen. Die Übrigen nahmen ihre Plätze um
Holly und Tommy herum ein und bildeten ein lebendiges, vereintes
magisches Wesen.
Wir sind eins, dachte Holly. Wir besitzen eine Macht, über welche die Deveraux nicht
verfügen. Wir versuchen, unsere Barrieren durch Liebe zu überwinden
und vollkommen als Gemeinschaft zu arbeiten. Ihr System beruht auf
Macht - darauf, sie anderen zu entreißen und um jeden Preis daran
festzuhalten. Und ich muss daran glauben, dass die Liebe stärker
ist als ihre Gier.
Ich segne deine Stirn, auf dass die Göttin dir Weisheit bringt,
sagte sie und malte mit Öl ein Pentagramm auf seine Stirn.
Ich segne deine Augen, auf dass dein Blick alles durchdringt. Sie
tupfte etwas Öl auf seine Lider.
Ich segne deine Sinne, auf dass du höllischen Schwefel witterst.
Sie strich Öl auf seine Nase.
Sie segnete seinen Mund, damit er den Zirkel im Falle eines
Angriffs warnte. Sie segnete sein Herz, um ihm Mut zu verleihen,
und seine Arme, damit er die Kraft besaß, Eindringlinge mit seinem
Schwert zu vertreiben.
Dann drückte sie den Daumen an die scharfe Klinge des Schwertes und
verzog das Gesicht, als sie sich in den Finger schnitt.
Blutstropfen rannen an der Klinge hinab und nährten sie.
Liebe mochte die Macht des Zirkels begründen, doch es war immer
noch das Blut, das dem Kreis Kraft verlieh. Das Haus Cahors war
nicht sanftmütig gewesen; früher waren die Cahors ebenso
erbarmungslos vorgegangen wie die Deveraux. Holly hoffte auf eine
Weiterentwicklung, eine Chance, ihrer Familie einen neuen Weg zu
eröffnen. Da in den vergangenen Jahrhunderten so viel verloren
gegangen war, versuchte sie die Balance zwischen neuen magischen
Formen und den Traditionen zu finden, an die ihr Coven sich halten
musste, damit die Magie funktionierte. Sie kam nur langsam voran,
durch Versuch und Irrtum ... aber wenn Michael zurückkehrte und sie
bedrohte, würde sie tun müssen, was nötig war, um ihren Zirkel zu
schützen, wie »rückständig« es auch sein mochte.
Doch jetzt war keine Zeit für solche Grübelei. Rasch beendete sie Tommys Salbung.
»Ich segne dich vom Scheitel bis zur Sohle, Tommy. Erhebe dich, mein Langer Arm des Gesetzes, und umarme deine Priesterin.«
Tommy richtete sich auf, während Holly Amanda die Kelle zurückgab. Dann schlang sie die Arme um ihn, wobei sie darauf achtete, das Schwert nicht zu berühren, und küsste ihn sacht auf den Mund.
Sie trat einen Schritt zurück, und Tommy sagte: »Ich werde alle Schlingen zerschneiden, die unsere Feinde für uns auslegen.«
»Sei gesegnet«, murmelte der Zirkel.
Amanda und Kari, die sich an den Händen hielten, ließen los, damit Tommy hindurchgehen konnte.
»Ich werde die Diener und Hexentiere unserer Feinde erschlagen, und seien sie unsichtbar oder verschleiert.«
»Sei gesegnet«, wiederholte der Zirkel.
Mühsam hob er das Schwert zur Decke. »Und ich ...«
Ein grässlicher Schrei zerriss den weihevollen Augenblick. Etwas blitzte auf und glimmte grün. Wind peitschte durch den Raum, so kalt und hart wie Eis. Schwefelgestank umwehte sie.
Tommy taumelte zurück. »Seht!«, schrie Kari und deutete mit dem Finger nach oben.
Stöhnend stieß Tommy die Schwertspitze bis fast an die Decke. Die glimmende Stelle wurde durchbohrt, ein phosphoreszierender, halb flüssiger Strom aus grellem Grün wirbelte um die Spitze der Klinge und tropfte auf den Boden. Kari sprang zurück, und die übrigen schafften es gerade so, einander an den Händen festzuhalten.
Das Glimmen vibrierte und verblasste.
»Oh Gott«, keuchte Kari.
Auf der Schwertspitze aufgespießt steckte das Abbild eines Bussards, der in Todeskrämpfen zuckte. Es war kein echter Vogel, nur eine magische Darstellung. Das grüne Glimmen verdichtete sich und wurde zu frischem, dampfendem Blut. Tommys Hände waren darin gebadet, und es tropfte auf den Fußboden.
Während Holly den Vogel mit gebanntem Grausen anstarrte, öffnete er den Schnabel, und eine körperlose Stimme hallte durch den Raum:
»Ihr Cahors-Huren, bis Mittsommer werdet ihr tot sein.«
Mit einem letzten Schaudern erlahmte der Vogel. Seine Augen starrten blicklos auf den Zirkel herab.
Es herrschte Schweigen.
Dann sagte Amanda: »Er ist zurück. Michael Deveraux ist wieder da.«
Holly schloss die Augen, von Grauen und nackter Angst gepackt.
Es geht los, dachte sie. Er hat die Fronten abgesteckt und den Krieg erklärt. Was haben wir ihm entgegenzusetzen?
Und vor allem - wie können wir hoffen, ihn zu besiegen?
Nicole: Köln, Deutschland, im September
Nicole warf einen angstvollen Blick über die Schulter, während sie den Korridor des Bahnhofs entlangrannte. Ein Zug rumpelte davon, und ihre Schritte hallten wie Stakkato-Klänge zum Bass der Abfahrt. Die rosigen und goldenen Strahlen des Sonnenaufgangs verjagten die Schatten, und sie war unglaublich dankbar dafür - die Nacht hatte schon viel zu lange geherrscht, und sie war erschöpft.
Ich hätte in Seattle bleiben sollen, dachte sie. Ich habe geglaubt, ich wäre sicherer, wenn ich davonlaufe... Es gibt doch so ein altes Sprichwort über das Teilen und Herrschen ... aber ich weiß nicht mehr genau, wie es geht...
Seit sie vor drei Monaten in London gewesen war, folgte ihr etwas. Es war keine Person, nicht im herkömmlichen Sinne; es war etwas, das an den Wänden von Gebäuden entlanggleiten und auf spitzen Giebeln hocken konnte - etwas, das ihr mit dem Rauschen von Schwingen und einem einsamen Ruf auf den Fersen blieb. Sie hatte es noch nicht sehen können, doch in ihrer Vorstellung war es ein Bussard, und damit Michael Deveraux' Augen und Ohren, und sie jagten sie wie die kleine Maus, die sie war.
Sie war nicht sicher, ob das Ding sie tatsächlich genau lokalisiert hatte. Vielleicht streifte es blind in ihrer Nähe umher und lauerte darauf, dass sie Magie gebrauchte und sich damit zu erkennen gab. Dieser Gedanke machte ihr Hoffnung, dass sie vielleicht lange genug überleben würde, um auf eine Idee zu kommen, was sie tun sollte. Ich habe solche Angst davor, Kontakt zu Holly und Amanda aufzunehmen ... Was, wenn ich mich damit an dieses Ding verrate, was auch immer es sein mag?
Sie war auf dem Weg zu geheiligtem Boden. Sie hatte sich quer durch Europa gearbeitet, von London über Frankreich nach Deutschland, indem sie wie ein Frosch von einer Kirche zum nächsten Friedhof, von einer Kapelle zur nächsten Kathedrale gehüpft war. Sie wusste nicht, ob ihr Instinkt, Zuflucht in Moscheen, Synagogen und Kirchen zu suchen, richtig war. Sie wusste nur, dass sie sich besser fühlte, wenn sie von Mauern umgeben war, die Menschen in festem Glauben errichtet hatten - als könnte deren Glaube sie vor dem Bösen schützen.
Sie hörte auf diesen Instinkt und den Drang, in Bewegung zu bleiben. Der Schatten verfolgte sie, und sie hatte das Gefühl, wenn sie nur immer in Bewegung blieb, würde er vielleicht nie auf sie herabstürzen - und sie davontragen, wie dieser riesige Bussard Eli davongetragen hatte.
Ist er tot?
Was ist mit Holly und Amanda? Ich habe sie im Stich gelassen. Ich schäme mich so dafür. Ich hatte solche Angst...
Sie war die Nacht über mit dem Zug gefahren. Ihr Ziel an diesem frühen Morgen war der berühmte Kölner Dom, eine mittelalterliche Kathedrale, die Reliquien der Heiligen Drei Könige beherbergen sollte. Sie hatte in einem Kunstführer etwas darüber gelesen - sie hatte mehr Reiseführer über religiöse Gebäude in Europa gekauft und auswendig gelernt, als in eine ganze Reisebuchhandlung passen würden. Sie war schon mit sehr vielen Zügen gefahren. Sie hatte haufenweise Geld ausgegeben.
Das Problem ist, dass ich fast kein Geld mehr habe... Was soll ich tun, wenn ich nicht mehr flüchten kann?
Am Kopf der Treppe blieb sie stehen. Gut dreißig Meter entfernt ragte am Rand eines Platzes das hohe gotische Bauwerk wie ein Monolith vor ihr auf. Die Turmspitzen reckten sich gen Himmel, und die Rosetten und Statuen am Eingang waren dunkelgrau und einladend.
Graue Magie, das ist die Magie der Cathers, dachte sie. Unsere Vorfahren, die Cahors, waren keine besonders guten Menschen. Sie waren nur... weniger böse als die Deveraux.
Wir sind wirklich nicht unbedingt »die Guten«.
Dennoch scheint der Himmel uns gern Zuflucht zu gewähren.
Nicole holte tief Luft, rannte über den offenen Platz und stieß das Portal des Doms auf.
Drinnen war es kühl. Mehrere Männer in braunen Kutten mit schwarzen Gürteln standen mit dem Rücken zu ihr und sangen auf Lateinisch. Ein Priester hob fragend den Blick. Sie wusste, dass er eine junge Frau in Jeans und Folklore-Bluse mit einem großen Rucksack sah. Sie hatte das lange, dunkle Haar hochgesteckt und trug kein Make-up. Ihr Gesicht war von der Sonne verbrannt, und sie hatte dunkle Ringe unter den Augen.
In den vergangenen drei Monaten hatte Nicole genau zweimal eine ganze Nacht durchgeschlafen.
Ich bin so müde, und ich habe Angst.
Der Priester sah sie finster an und wedelte ihr mit dem Zeigefinger vor dem Gesicht herum. »Hier darf man nicht schlafen, verstehen Sie?«, fragte er sie streng auf Deutsch.
»Ja«, antwortete sie atemlos. Tränen traten ihr in die Augen, und die Miene des Mannes wurde sofort weicher.
Er ging ein paar Schritte weiter und wies auf die Kirchenbänke. Niemand sonst war hier, außer den Mönchen, die zur Morgenmesse sangen.
Nicole neigte den Kopf und sagte: »Danke schön.« Das war eine der nützlichen Wendungen, die sie aus einem Reiseführer gelernt hatte.
Sie glitt auf die nächste Bank, lehnte sich zurück und starrte zur himmelhohen Gewölbedecke empor. Während sie die Atmosphäre der Kathedrale auf sich wirken ließ, stellte sie sich vor, wie die Sonne die Dunkelheit über den Türmen durchbrach.
Und dann flatterte vor ihrem inneren Auge ein Schatten zwischen ihr und der Sonne hindurch.
Sie schnappte laut nach Luft. Der flinke Schatten war die Silhouette eines Vogels. Und sie saß in dieser Falle wie eine hilflose Maus.
Dann verkündeten die Kirchenglocken ihre Botschaft: Alles ist gut, alles ist ruhig.
Und das war eine verdammte Lüge.
Jer: Insel Avalon, im Oktober
Die Lüge bestand darin, ihn als lebendig zu bezeichnen.
Jeder Augenblick dieses Lebens war eine Ewigkeit der Qual. Jeder Atemzug fühlte sich an, als heize ein Blasebalg in seiner Brust die Flammen des Schwarzen Feuers an, die sein Herz und seine Lunge verbrannten.
Wenn Jer Deveraux zu einem zusammenhängenden Gedanken fähig gewesen wäre, hätte er Gott angefleht, ihn sterben zu lassen. Und unter diesem Flehen hätte sich zitternd die Furcht verborgen, er sei schon tot... und in der Hölle.
Durch seinen schmerzenden Schädel hallten Worte, die er nicht verstehen konnte. Sie erzählten die restliche Geschichte seiner unerträglichen Existenz: »Wenn du Holly Cathers nicht bis zur Mittsommernacht getötet hast, Michael, dann töte ich deinen Sohn und verfüttere seine Seele an meine Diener.«
Und Michael Deveraux hatte geantwortet: »Ich folge Eurem Befehl in dieser Sache wie in allen anderen Dingen.«
Auf ihrem Platz im schimmernden blauen Nebel, aus dem die Magie der Cahors bestand, sträubte das Falkenweibchen Pandion das Gefieder und neigte lauschend den Kopf. Sie hörte einen flehenden Ruf wie von einem Gefährten und breitete die Flügel aus, um sich auf die Suche nach ihm zu machen.
Und in dem grün glimmenden Äther seines Horstes schärfte der Bussard Fantasme, das Hexentier der Deveraux, seine Klauen am Schädel eines längst verstorbenen Feindes.
Holly und Amanda: Seattle, im Oktober
Wir leben noch. Fast ein Monat ist vergangen, seit der Bussard in unserem Kreis erschien, und wir haben es geschafft, uns Michael Deveraux vom Leib zu halten.
Holly starrte aufs Meer hinaus und nahm dessen gewaltige Weite in sich auf, ließ sich davon verschlingen, bis sie sich wieder winzig klein fühlte. Ihre einsamen Strandspaziergänge verliehen ihr Kraft. Manchmal fragte sie sich, ob Isabeaus Geist mit ihr ging und sie in ihrem Bemühen unterstützte, den Coven zusammenzuhalten und vor Michael Deveraux zu beschützen. Im Herzschlag der Wellen, in Ebbe und Flut der riesigen See lag Macht. Der Ozean war Mutter, Geliebte und Feindin zugleich. Das sanfte, rhythmische Rauschen der Wellen klang wie der beruhigende Herzschlag einer Mutter, die ihr Kind an die Brust drückte.
Holly schloss die Augen und erlaubte sich, ganz diesem Geräusch zu lauschen. Sie atmete die frische, salzige Luft ein, und einen Moment lang hätte sie überall sein können - sogar in ihrer alten Heimat San Francisco statt ihrem neuen Zuhause, Seattle.
Tränen quollen unter ihren geschlossenen Lidern hervor und rannen ihr langsam über die Wangen. Dies war kein guter Tag gewesen. Jeder Tag, den man mit einem Anruf bei seinem Anwalt beginnen musste, konnte kein guter Tag sein.
Holly war erst neunzehn, und dennoch war der Kontakt zum Anwalt ihrer Eltern ein fester Bestandteil ihres Lebens geworden. Zusätzlich musste sie sich auch noch mit dem Finanzberater herumschlagen, der ihr half, ihr Erbe zu verwalten, und manchmal hätte sie am liebsten geschrien. Es gab immer noch mehr Fragen zu beantworten und Dokumente zu unterschreiben. Sie wollten Hollys finanzielle Lage und ihre Zukunftsplanung besprechen.
Was, wenn ich gar keine Zukunft habe? Was, wenn ich morgen sterbe?, dachte sie, und eine Woge von Bitterkeit raubte ihr den Atem. Ich kämpfe um mein Leben, um das Leben meiner Familie und meiner Freunde, und niemand kapiert es. Ich habe keine Zeit, mir Gedanken darum zu machen, was ich in fünf Jahren tun will. Bis dahin gibt es mich wahrscheinlich gar nicht mehr.
Trotzdem wusste sie, dass sie dankbar sein sollte. Wenn ihre Eltern nicht so vorausschauend geplant hätten, hätte sie keine Zeit, Zauber zu üben und all die praktischen Dinge zu lernen, die ihr halfen, am Leben zu bleiben. Sie wäre zu sehr damit beschäftigt, sich ihre Brötchen zu verdienen. Diese Unabhängigkeit war vor allem jetzt wichtig, da Onkel Richard nicht einmal mehr so tat, als ginge er zur Arbeit. Ein Glück, dass Tante Marie-Claire reich gewesen war, denn sonst würde auch Amanda in ernsthaften Schwierigkeiten stecken.
In gewisser Weise beneidete sie Kari. Die junge Frau konnte zumindest noch so tun, als hätte sie ein normales Leben, das nicht nur aus Magie und Zaubern bestand. Sie ging nach wie vor zur Uni. Tommy und Amanda versuchten ebenfalls zu studieren. Aber Holly wusste, dass Amanda hart zu kämpfen hatte. Holly nahm an, dass das College auch einer von vielen Träumen war, die sie selbst an dem Tag hatte begraben müssen, als sie von ihrem Hexen-Erbe erfahren hatte. Und davon, dass andere Leute mich umbringen wollen.
Sie seufzte schwer. Der Tag war sogar noch schlimmer geworden, als sie nach dem Anwalt das Krankenhaus angerufen hatte, um sich nach Barbara zu erkundigen. Die Auskunft lautete fast jede Woche gleich: keine Veränderung. Aber diesmal hatte sie etwas gespürt, eine gewisse Beunruhigung in der Stimme des Arztes, die sie vor sieben Tagen noch nicht gehört hatte. Irgendetwas stimmte nicht - sie konnte es fühlen. Sie war sicher, dass es Barbara irgendwie schlechter ging. Und die Ärzte wollen es nicht zugeben.
Sie spürte, wie sie zu zittern begann. Barbara war ihre letzte Verbindung zu ihrem wahren Zuhause, ihren Eltern, ihrer Kindheit. Schon ein halbes Dutzend Male hatte sie sie besuchen wollen, um sich zu vergewissern, dass Barbara wirklich noch lebte. Doch es gab immer weitere Zauber zu lernen, mehr schützende Rituale durchzuführen. Und in ihrem Hinterkopf steckte die tiefe, dunkle Furcht, dass Barbara sterben könnte, wenn Holly ihr zu nahe kam. Alles, was ich liebe, vergeht.
Also war sie ans Meer gegangen, um sich in seiner Weite zu verlieren und seinen Trost zu suchen. Die See hatte sie schon oft getröstet, und sie betete darum, dass es ihr auch heute gelingen würde.
Die Wellen griffen sacht nach ihr und kitzelten sie an den Zehen, zart und verführerisch. Das Wasser umgarnte sie, näher zu kommen, es zu erkunden, sich mit ihm und seiner Macht zu vereinen. Ein verlockendes Angebot von einem stürmischen Liebhaber. Doch Holly wusste, dass das Meer in einem Augenblick zärtliche Versprechungen flüstern und im nächsten über einen herfallen konnte. Es veränderte sich binnen Sekunden und tötete mit Leichtigkeit.
Kehre ihm niemals den Rücken zu. Das hatte ihr Vater ihr eingeschärft, als sie fünf Jahre alt gewesen war. Sie hatte seit einer Stunde in den Wellen herumgeplanscht, als ihre Mutter sie herausrief, um mehr Sonnencreme aufzutragen. Holly hatte sich umgedreht und versucht, auf den Strand zu laufen. Eine riesige Welle war wie aus dem Nichts erschienen und hatte sie umgeworfen. Der Sog hatte an ihrem Körper gezerrt und gedroht, sie mit hinaus aufs Meer zu ziehen. Sie erinnerte sich daran, wie sie sich dagegen gewehrt hatte, aber die Strömung war zu stark für sie gewesen. Sie hatte nicht aufstehen oder den Kopf aus dem Wasser heben können.
Daddy war in die Wellen gesprungen, hatte sie hochgerissen und vorsichtig aus dem Wasser getragen, wobei er die ganze Zeit über rückwärtsgegangen war. Er hatte sie verängstigt und weinend in die schützenden Arme ihrer Mutter gedrückt. Den Ausdruck in seinen Augen, als er sich zu ihr hinabgebeugt hatte, würde sie nie vergessen.
Du darfst dem Meer niemals den Rücken zuwenden, Holly. Es ist schön, aber es ist auch sehr gefährlich.
Sie erschauerte, als ein eisiger Wind ihr ins Gesicht schlug und eine Welle über ihre Knöchel schwappte. Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück. Eine weitere Welle erreichte sie, und sie machte einen Satz rückwärts. Das Geräusch des Ozeans veränderte sich - statt eines sanften Rauschens hatte sie auf einmal ein dumpfes Brüllen in den Ohren.
Sie war überrumpelt und hatte keine Zeit mehr zu reagieren, ehe eine neue Woge gegen sie krachte, sie augenblicklich hüfthoch in eiskaltes Wasser tauchte und mit unsichtbaren Händen an ihr zog.
Der Sog zerrte an ihr, und sie verlor beinahe den Boden unter den Füßen, als sie rücklings taumelte und ihr Schreck in Angst umschlug. Du bist nicht mehr fünf!, schrie ihr Verstand ihr zu, während sie versuchte, den Strand zu erreichen. Doch schon brach sich die nächste Welle an ihrer Brust. Sie riss sie von den Füßen und zog sie mehrere Meter vom Strand fort.
Ich werde aufs Meer hinausgespült! Oh Gott, das darf doch nicht wahr sein!
Ihr langer Rock wickelte sich um ihre Beine und fesselte sie wie zu einem Meerjungfrauenschwanz. Ihre Arme hingen wie tote Gewichte in der schweren Jacke. Sie konnte sich kaum rühren, von Schwimmen ganz zu schweigen.
Ein frischer Schwall Panik brachte endlich Konzentration. Ich muss aus den Klamotten raus.
»Göttin, verleih mir Kraft im Kampf und im Angesicht des Todes«, murmelte sie einen Schutzzauber. Ob der funktionierte oder ihr der Gedanke Auftrieb verlieh, dass sie niemals wirklich allein war - sie schaffte es, erst einen Arm und dann den anderen aus der schweren Jacke zu winden. Das Kleidungsstück schaukelte auf den Wellen wie eine aufgetriebene Qualle.
Als Nächstes nahm sie sich ihren Rock vor und fummelte an der Kordel herum. Sie bekam den Knoten nicht auf. Immer noch schwer behindert drehte sie sich um und versuchte, nur mit Hilfe der Arme zum Strand zurückzuschwimmen. Binnen Sekunden erlahmte ihre Kraft. Dann brach sich eine weitere Welle über ihr, und sie hustete krampfhaft, als ihre Lunge das Wasser ausstieß, das sie eben geschluckt hatte.
Doch kaum bekam sie wieder Luft, rollte die nächste Woge über ihren Kopf hinweg. Und noch eine. Ihr Hirn wurde allmählich taub und blieb an den grässlichen Bildern der Rafting-Tour hängen, die ihre Eltern und ihre beste Freundin das Leben gekostet hatte. Es ist ein Jahr vergangen, und jetzt kommt das Wasser auch mich holen, dachte sie benommen.
Aber ich bin nicht mehr das hilflose Mädchen von damals. Ich bin eine Hexe, und eine ziemlich mächtige obendrein. Ich sollte irgendetwas tun können, um mich zu retten.
Sie wandte sich um und blickte aufs Meer hinaus, während ihre erschöpften Beine mühsam Wasser traten. Wie machten die Bodysurfer das eigentlich? Sie ritten auf den Wellen.
Das kann ich auch.
Eine mächtige Welle rollte heran. Holly holte tief Luft. »Ich kann das!«, schrie sie, als die Welle sie erreichte.
Ihr Körper wurde hochgewirbelt, und dann lag sie auf dem Wasser, direkt vor dem Wellenkamm.
Mit atemberaubender Geschwindigkeit flog sie auf das Ufer zu. Als sie den Strand fast erreicht hatte, brach die Welle hinter ihr und schleuderte sie auf den Sand. Die scharfen Sandkörnchen drangen ihr in Mund und Augen, während sie auf allen vieren weiter vom Wasser wegkrabbelte.
Nun verließ sie auch das letzte bisschen Kraft, sie brach zusammen und schaffte es gerade noch, sich auf den Rücken zu drehen. Sie hustete schwach. Ihre Augen brannten, ihr Gesicht fühlte sich wund an, als hätte jemand Sand in jede Pore gerieben. Die Augen begannen heftig zu tränen, und sie gab sich dem Weinen hin – um ihre Augen auszuwaschen und das Grauen, das sie ausgestanden hatte.
Ich wäre beinahe gestorben. Genauso, wie ich vor einem Jahr hätte sterben sollen.
So was Albernes. Ich hätte nicht sterben »sollen«. Ich sollte überleben. Ich habe einen Coven zu leiten, Gefolgsleute zu beschützen.
Endlich versiegten ihre Tränen. Sie blinzelte rasch, um wieder klarer zu sehen. Langsam wurde der Himmel deutlicher... und er war dunkel und hing bedrohlich tief.
Die Luft war schwer und schien beinahe zu knistern. Sie sah sich hastig um. Nichts kam ihr bekannt vor. Hatte die Welle sie an einen anderen Strandabschnitt gespült?
Ein Kribbeln wie ein Stromstoß kroch an ihrem Rücken hinab, als sie sich langsam aufrichtete. Sie spürte Magie hier, und sie fühlte sich sehr, sehr alt an. Einem seltsamen Zwang gehorchend, drehte sie sich um und wandte dem Meer den Rücken zu.
Ach, du...