Vier

Dunkler Mond

Sei nun bereit, Haus Deveraux

An unseren Feinden Rache zu nehmen

Wir beten und fluchen und planen

Mit Umsicht, das Schlimmste zu verüben

Wir mauscheln unter dem Himmelszelt

In den Augen das Dunkel gespiegelt

Wir halten still und schmieden Ränke schon

Das Haus Deveraux zu stürzen

Holly und Amanda: Seattle, im Oktober

Holly und Amanda passten abwechselnd auf Onkel Richard auf, der sturzbetrunken zusammengesackt war und zu schnarchen begonnen hatte. Sie wussten nicht, was sie mit ihm machen sollten, also riefen sie Tante Cecile auf dem Handy an und baten um Hilfe. Sie kam sofort herüber, mit Silvana im Schlepptau.

Die Voodoo-Priesterin rief die Loa an, die Götter, die auch von Menschen Besitz ergreifen konnten. Sie rieten ihr, ihn in seinem Schlafzimmer einzuschließen, bis ein vollständiges Exorzismus-Ritual durchgeführt werden konnte. Da in Onkel Richards Adern kein Hexenblut floss, nahm Tante Cecile an, dass Michael deshalb von ihm hatte Besitz ergreifen können, weil Richard vom Alkohol geschwächt gewesen war. In okkulten Kreisen war bekannt, dass man in den Geist von Menschen mit verändertem Bewusstseinszustand leichter eindringen konnte als in die Köpfe von Leuten, die bei klarem Verstand blieben. Die Anhänger der alten Traditionen - die Druiden, Schamanen, Orphiker, mystische Kulte und selbst die frühen Christen - hatten sich bereitwillig ihren Geistern und Göttern dargeboten, um sich von ihnen benutzen zu lassen, vermittelt durch Kräuter, Fasten und sogar Schmerzen.

Richard hingegen war ein ganz anderer Fall.

»Michael könnte versuchen, ihn dazu zu zwingen, euch etwas anzutun«, erklärte ihnen Tante Cecile, als sie sich mit ihrer Tochter, Amanda und Holly im Wohnzimmer niederließ.

Amanda nickte dumpf. Sie tat Holly furchtbar leid. Amanda hatte schon so viel durchgemacht.

Dann murmelte ihre Cousine: »Er hat uns schon etwas angetan. Er hat tatenlos zugesehen, wie Mom... Sie hätte einen stärkeren Mann gebraucht.«

Holly tauschte einen schockierten Blick mit Silvana. »Amanda, du gibst deinem Vater doch nicht die Schuld an der... dass deine Mom zu Michael Deveraux gegangen ist.« Sie brachte das Wort »Affäre« nicht über die Lippen.

Silvana fügte hinzu: »Um Himmels willen, Amanda, Michael Deveraux hat deine Mutter behext!«

Amanda ballte die Fäuste. »Das wäre nicht nötig gewesen. Sie hätte...« Sie holte tief Luft. »Daddy weiß nichts davon, aber Michael war nicht der Erste.«

»Oh, Mandy, nicht doch«, sagte Holly leise.

»Doch. Doch.« Sie presste die Fingerspitzen gegen die Stirn. »Ich habe auch ihre anderen Tagebücher gefunden, gleich nach der Beerdigung. Ich habe sie gelesen und sie danach verbrannt. Aber Daddy hat das aktuelle Tagebuch, in dem es um Michael ging, vor mir gefunden.«

Die anderen waren sprachlos. Holly dachte an ihre Eltern und daran, wie unglücklich sie miteinander gewesen waren. Ist einer von beiden fremdgegangen?

Den Gedanken konnte sie nicht ertragen.

Plötzlich zerriss ein dreistimmiges, ängstliches Kreischen die Stille. Es waren die Katzen, die vor Entsetzen laut jaulten, wie der Blitz die Treppe heruntergesaust kamen und ins Wohnzimmer jagten, wo Bast Holly einen toten Vogel zu Füßen legte. Er war etwa sechzig Zentimeter lang, zu groß, als dass eine Katze mit Basts Statur ihn hätte erlegen können, und glänzend schwarz. Blut tropfte von seiner Brust auf den Teppich. Er lag auf der Seite, und ein totes Auge stierte zu Holly empor.

Amanda und Silvana sprangen auf. Tante Cecile beugte sich über die grausige Trophäe der Katze und murmelte eine Beschwörung. Sie zog eine Hühnerkralle aus der Tasche ihrer Jeans und führte sie durch die Luft über dem Kadaver, dann darum herum. Silvana kam ihr zu Hilfe. Sie murmelten in einer Sprache vor sich hin, die Holly nicht kannte, also nahm sie Amandas Hand und sagte: »Unsere Banne halten, wie innen, so auch außen. Der Kreis ist fest und sicher.«

Amanda fiel ein. »Wir sind Hexenschwestern, stark im Geist und tapfer im Herzen. Wir verlangen den Schutz der Göttin, denn wir sind ihre Kinder.«

Plötzlich flatterte und raschelte es im Kamin, als versuchten Vögel hinauszufliegen. Bast sprang auf Hollys Schoß, stellte sich auf die Hinterbeine und legte die Vorderpfoten auf Hollys Brust. Ihre gelben Augen blickten starr in Hollys. Holly starrte zurück. Hecate miaute kläglich, immer wieder.

Kälte kroch durch den Raum. Holly spürte beinahe eine Hand auf ihrer Schulter und zuckte leicht zusammen. Tante Cecile beobachtete sie aufmerksam und sagte: »Sie ist bei uns.«

»Sie?«, fragte Holly.

Tante Cecile starrte Amanda an, die sich im Wohnzimmer umblickte und rief: »Mom?«

»Nein, Amanda«, erklärte Tante Cecile traurig. »Isabeau.«

Holly schluckte. Amanda nickte enttäuscht, konzentrierte sich aber auf ihre Aufgabe und atmete tief durch. Sie murmelte: »Sei gesegnet.«

»Sei gesegnet«, sagte auch Holly.

Tante Cecile wies sie an: »Achtet nicht weiter auf den Vogel, Mädchen. Bildet einen Kreis mit mir.«

Die drei gingen vom Sofa weg und traten vor den Kamin. Tante Cecile bückte sich und legte Scheite auf den Feuerbock. Dann drehte sie sich zu Holly um und sagte: »Mach Feuer, Liebes. Es ist kalt.«

Holly nickte. Sie fand die richtige Stelle in ihrem Inneren und füllte sie mit der Hitze und Farbe von Feuer. Sie stellte es sich genau vor, sah orangerote und gelbe Flammen und roch den Rauch. Auf Lateinisch sagte sie: »Succendo, aduro!«, und im Kamin entbrannte Feuer.

Das überraschte niemanden mehr. Holly konnte schon seit Monaten durch einen Zauber Feuer machen. Schwarzes Feuer war eine ganz andere Geschichte.

Ich weiß nicht, was man sein oder können muss, um das zu beschwören, dachte sie, und ich bin auch nicht sicher, ob ich es wissen will.

Obwohl die anderen beim Anblick des Feuers erleichtert wirkten, spürte Holly immer noch keine Wärme vom Kamin. Sie fröstelte nach wie vor, und die Kälte drang ihr bis in die Knochen.

Amanda sagte plötzlich: »Holly, da ist so ein blauer Schimmer um deinen Kopf.«

Die anderen nickten. »Ich sehe es auch«, sagte Silvana.

Holly blickte auf ihre Hände hinab. Die schimmerten nicht. Dann hatte sie plötzlich das Gefühl, als hätte jemand ein kleines Loch mitten in ihren Schädel gebohrt und gieße kalten Pudding hinein. Das Gefühl sickerte durch ihren Kopf, sie bekam Kopfschmerzen von der Kälte, und ihr Gesicht war halb gefroren. Es war, als würde sie langsamer - ihre Atmung, ihr Herzschlag, ihre Gedanken. Ihr wurde bewusst, dass die drei anderen sich um sie versammelten und jemand sie sanft auf einen Sessel drängte. Dann legten alle die Hände auf ihren Kopf, und Tante Cecile begann auf Französisch zu sprechen.

Holly merkte, dass sie antwortete, ebenfalls auf Französisch.

»Je suis... Isabeau.«

Dann nahm Holly nicht mehr wahr, was um sie vorging. Sie war sich der Außenwelt nur noch vage bewusst, denn ihre Aufmerksamkeit wurde auf ein Bild vor ihrem inneren Auge gelenkt: eine schöne Frau - ihre Ahnin Isabeau - in einer leidenschaftlichen Umarmung mit Jer... nein, nicht Jer Deveraux, sondern mit dessen Ahnen Jean, Isabeaus Gemahl... Sie liegen in ihrem Ehebett. Die Bettvorhänge sind rot und grün, die Farben der Deveraux, und alles ist mit Mistelzweigen, Eichenblättern und Efeuranken verziert - es ist wie in einem Wald. Im Kamin verbrennen Kräuter, die die Fruchtbarkeit fördern. Der Mond ist voll, ihr Herz ist voll und seines ebenso. Sie haben einander verzaubert, Leidenschaft ist entflammt, sie haben sich Hals über Kopf verliebt... unerwartet... unerwünscht...

»Obgleich wir beieinanderliegen«, dachte Isabeau in Hollys Kopf, »sind wir Todfeinde, jeder bereit, den anderen just in diesem Bett zu ermorden. Wenn er es nicht tut...«

Und dann verschwamm das Bild, als hätte jemand auf einen anderen Sender umgeschaltet.

Jetzt stand Holly in einem fremden Badezimmer und blickte ruhig auf Nicole hinab, deren Kopf eben unter das Wasser in der Badewanne getaucht war. Blasen sprudelten an die Oberfläche.

»L'aide... aide Nicole«, sagte Isabeau in ihrem Geist. »Ich habe versucht, sie zu wecken, doch sie kann mich nicht hören. Dich wird sie hören können, Holly. Hilf ihr, wecke sie!«

Weitere Bläschen blubberten empor.

»Nicole!«, rief sie laut. »Nicole, wach auf!«

Nicoles Kopf schoss aus dem Wasser hoch, und sie blickte sich erschrocken um.

Das kalte Gefühl löste sich augenblicklich auf. Holly wurde der drei anderen Frauen gewahr, die sie voller Sorge anstarrten.

»Was ist mit ihr? Was ist passiert?«, rief Amanda aus. »Wo ist meine Schwester?«

»Isabeau«, befahl Tante Cecile, »sprich mit uns.«

Es kam keine Antwort. Holly fand es jetzt warm im Wohnzimmer, und sie fühlte sich allein und furchtbar schwindelig.

Isabeau war verschwunden.

Holly sagte: »Jetzt bin nur noch ich da.« Sie holte tief Luft und berichtete den anderen, was sie gesehen hatte.

Amanda packte Holly an den Schultern. Ihr Gesicht war verzerrt vor Angst, die Augen weit aufgerissen.

»Nicole ist doch aufgewacht, oder? Geht es ihr gut?«

»Soweit ich sehen konnte, ja«, antwortete Holly ehrlich.

»Kein Hinweis darauf, wo sie war?«, fragte Tante Cecile.

Holly schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid. Ich habe nur ein Badezimmer gesehen.«

»Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen«, warf Silvana ein. Die silbernen Perlen in ihrem Haar blitzten im Feuerschein, als sie den Kopf schüttelte. »Du hast Nicole wahrscheinlich das Leben gerettet.«

Holly nickte. »Das Gefühl habe ich auch. Ich bin ziemlich sicher.« Sie deutete auf den toten Vogel und murmelte einen kurzen Schwebezauber. Wie von unsichtbaren Händen getragen, hob sich der reglose Vogel in die Luft und schwebte zum Kamin. Dann wurde er verächtlich ins Feuer geschleudert und sofort von den Flammen verschlungen.

Die Katzen kamen eine nach der anderen zu ihnen herüber und schlossen sich ihrem Kreis an: Hollys Katze Bast, Amandas geliebte Freya und Nicoles Hecate. Alle drei waren nach Göttinnen benannt, und alle waren mehr als nur gewöhnliche Katzen.

»Den Segen der Göttin für dich, Bast«, sagte Holly. »Du hast einen Feind gefangen.«

Die Katze blinzelte zu ihr hoch und begann zu schnurren. Die beiden anderen setzten sich neben Bast und starrten erwartungsvoll zu Holly empor.

»Eure Gefährtinnen«, erklärte ihr Tante Cecile, »warten darauf, dass ihr ihnen sagt, was sie tun sollen.«

Holly und Amanda wechselten einen Blick und sahen dann die Katzen an. Amanda befahl: »Patrouilliert durchs ganze Haus. Tötet jeden Feind, den ihr findet.«

Holly sagte zu ihrer Cousine: »Das ist eine gute Idee. Wir sollten außerdem ...«

Ein scharfer Krampf durchzuckte sie. Ihre Augen verdrehten sich, und sie brach zusammen.

Sie begann heftig zu zucken, so dass sie mit Armen und Beinen um sich schlug. Sie hörte, wie Amanda ihren Namen schrie und Silvana und ihre Tante französische Schreckensrufe ausstießen.

Dann kämpfte sie unter schnell dahinfließendem, tosendem Wasser, das sie herumwirbelte. Sie war wieder im Grand Canyon, erlebte den Unfall noch einmal, zerrte an den Gurten, die sie in dem Schlauchboot festhielten. In ihrer tiefsten Seele wusste sie, dass ganz in der Nähe ihr Vater bereits tot war, ihre Mutter nur noch Sekunden zu leben hatte und Tina am längsten durchhalten würde - fast eine volle Minute länger als Ryan, ihr Rafting-Guide, der in diesem Augenblick das Bewusstsein verlor. Und sie selbst ertrank.

Dann erschien der blaue Schimmer, genau wie zuvor, und nahm als Isabeau Gestalt an, die durch das Wasser auf sie zutrieb. Ihre Finger lösten geschickt die Verschlüsse ...

... und ihre Stimme erfüllte einmal mehr Hollys Geist: Das ist der Fluch der Cahors, ma chère Holly. Jene, die uns lieben, sterben nicht im Feuer, sondern durch Wasser. Sie sterben durch Wasser.

Es waren die Deveraux, die uns mit diesem Fluch belegt haben. Sie haben uns durch Raum und Zeit verfolgt und versucht, uns alle zu vernichten.

Du musst überleben. Wir müssen diese Vendetta beenden ... ein für alle Mal.

Holly lag auf dem Boden, japste nach Luft, sog sie begierig ein und begann zu husten.

Tante Cecile klopfte ihr kräftig auf den Rücken. Wasser schoss aus ihrem Mund, und die beiden anderen Mädchen schrien auf.

Amanda war sofort bei ihr. Sie nahm Hollys Hand und sagte: »Deine Finger sind ganz nass.«

Holly platzte heraus: »Amanda, auf uns liegt ein Fluch. Menschen, die wir lieben, ertrinken. Das ist der Fluch der Cahors.« Sie schlug die Hände vors Gesicht. »Ich habe meine Eltern umgebracht, durch mein Hexenblut. Meinetwegen sind sie gestorben, weil ich verflucht bin!«

»Nicht doch«, erwiderte Tante Cecile energisch. »Du hast sie nicht umgebracht.«

»Aber es ist wirklich so«, beharrte Holly, ließ die Hände sinken und hob den Kopf. »Isabeau hat es mir gesagt.« Sie umklammerte Amandas Arme. »Was tun wir denn jetzt?«

»Wir nutzen dieses Wissen und arbeiten damit«, erklärte Tante Cecile. Ihr Gesicht drückte grimmige Entschlossenheit aus. »Silvana, hol eine große Schüssel mit Wasser aus der Küche. Wenn sie dieses Spiel wollen, spielen wir mit. Was auch immer Besitz von Richard Anderson ergriffen hat, wir werden es ertränken.«

Es war eine unangenehme Arbeit, und Holly war wirr vor Nervosität und Erschöpfung.

Die vier versammelten sich im Schlafzimmer, wo sie den bewusstlosen Onkel Richard ans Bett gefesselt hatten. Während Silvana Kerzen entzündete und einen kleinen Gong schlug, sang und sprach Tante Cecile zu den loa. Die Katzen fielen ein und jaulten mit. Dann stieg etwas Dunkles aus Richards Körper empor, und auf Tante Ceciles Anweisung hin packte Holly es mit beiden Händen und drückte es in der Schüssel unter Wasser.

Es zappelte in ihren Händen und erschlaffte dann. Sie zog die Hände zurück, und vor ihr lag ein seltsames, winziges Geschöpf, das Holly an eine Kreuzung aus Frosch und Elfe erinnerte.

»Das ist ein Wichtel«, erklärte Tante Cecile zufrieden. »Du hast ihn getötet.«

Holly nickte. Sie war dem Zusammenbruch nahe. Tante Cecile schickte sie ins Bett.

Holly schlief rasch ein, aber das erholsame Vergessen währte nicht lange. Bald träumte sie, und sie stand wieder in der Kammer bei Jer. Sie versuchte mit ihm zu sprechen, brachte aber kein Wort heraus, und er lag zusammengekrümmt auf der Seite und schlief. Eine Minute lang sah sie zu, wie sich seine Brust hob und senkte, und wünschte, er würde aufwachen und sie sehen.

Es nützte nichts.

Plötzlich streifte eine Hand ihren Nacken. Sie zuckte zusammen und fuhr mit klopfendem Herzen herum, bereit zum Kampf.

Da stand eine Frau in einem langen weißen Gewand. Rotes Haar fiel ihr in weichen Wellen bis zu den Knien. Ihr Gesicht war von unirdischer Schönheit, aber sie hatte traurige, bewegende Augen, die Holly bis in die Seele blickten.

Sie schüttelte langsam den Kopf, als wollte sie Holly daran hindern, ihre Fragen auszusprechen. Dann hob sie die Hand und bedeutete Holly, ihr zu folgen. Holly ging mit ihr durch die Wand der Zelle und dann scheinbar endlos viele gewundene Flure entlang, die nur hier und da von einer Fackel erhellt wurden.

Weder die Schritte der Frau noch Hollys Füße machten auf dem Steinboden das leiseste Geräusch, und die Stille verstörte Holly. Schließlich versuchte sie sich zu räuspern, irgendein Geräusch zu machen, um diese überwältigende Stille zu brechen. Ihre Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt, und ihre Angst wuchs. Sie musste sprechen, musste etwas sagen...

Die Frau drehte sich um und legte einen blassen Finger an die rubinroten Lippen. Wieder schüttelte sie den Kopf und deutete langsam auf eine dunkle Nische in der Wand. Holly konnte in den pechschwarzen Schatten nichts erkennen und schüttelte frustriert den Kopf. Die Frau glitt zurück zu ihr und bedeutete Holly, die Augen zu schließen. Sie tat es, und die Frau drückte sacht die Finger auf ihre Lider.

Als sie sie wieder fortnahm, öffnete Holly die Augen. Ihre Sicht war schärfer, klarer, und in der Nische sah sie zwei riesige Bestien, die sie direkt anstarrten. Sie fuhr zurück, doch die Frau legte ihr beruhigend eine Hand auf den Arm. Sie wies auf die Untiere, dann auf ihre eigenen Augen und schüttelte den Kopf.

Aus irgendeinem Grund konnten die Bestien sie nicht sehen, doch was Holly von ihnen sah, machte ihr entsetzliche Angst. Beide waren so groß wie Löwen, hatten aber eher die Gestalt von Hunden. Ihre Augen glühten rot, und ihr schwarzbraunes, zottiges Fell war gesträubt, so dass es am ganzen Körper abstand wie Stacheln. Ihre Reißzähne waren sieben Zentimeter lang, und Geifer tropfte unablässig aus ihren offenen Mäulern. Höllenhunde, dachte Holly schaudernd. Sie können mich nicht sehen, aber vielleicht hören.

Die Frau wandte sich um und ging weiter, und Holly beeilte sich, ihr zu folgen. Nach einiger Zeit betraten sie einen Raum, in dem die Frau stehen blieb. Sie drehte sich langsam zu Holly um und bewegte den Arm, als wollte sie ihr den Raum zeigen. Holly blickte sich um und erkannte mit ihrem neuen, schärferen Gesichtssinn alles fast schmerzlich deutlich.

Flaschen voll seltsam aussehender Flüssigkeiten waren auf modrigen Regalen aufgereiht. Weitere Flaschen und Phiolen standen auf sechs riesigen Tischen verteilt. Überall lagen uralte Handschriften, Bücher in einem halben Dutzend Sprachen, offen herum. In der Mitte eines Tisches nahm ein hoher, spitzer Hut mit Sternen einen besonderen Platz ein.

Sie lächelte unwillkürlich. Der Hut sah genauso aus wie der, den Micky Maus als Zauberlehrling in Fantasia trug. Sie trat vor, um den Hut zu berühren, und musste sich das Lachen verkneifen. Ihre Finger waren nur noch eine Handbreit davon entfernt, als die Frau fest ihr Handgelenk packte.

Holly unterdrückte einen erschrockenen Aufschrei und starrte die andere Frau an. Aus deren Augen blitzte eine finstere Warnung, und sie schüttelte heftig den Kopf. Verwundert drehte Holly sich wieder nach dem Hut um. Die Sterne daran waren plötzlich zum Leben erwacht und glitzerten und drehten sich auf dem Hut wie in einem verrückten Kaleidoskop. Der Hut strahlte Hitze aus, und Holly zog hastig die Hand zurück.

Voller Staunen sah sie zu, wie der Hut sich langsam wieder in den leblosen Gegenstand verwandelte, der er zuvor gewesen war. Was wäre passiert, wenn ich ihn tatsächlich berührt hätte? Jetzt konnte sie die Macht spüren, die von dem Ding ausging. Vorher war sie zu belustigt gewesen, um sie zu bemerken. Die Frau schenkte ihr ein halbes Lächeln, ehe sie auf eine der Wände zeigte.

Holly folgte ihrem Blick zu einem verwitterten und mit Wasserflecken übersäten Wandbehang. Er sah aus wie aus uraltem Pergament, oder vielleicht auch Leder, mit verblassten grauen Umrissen und Buchstaben bemalt.

Das ist eine Landkarte.

Kribbelnde Erregung erfasste sie.

Sie versucht mir zu sagen, wo Jer ist!

Holly überflog die Karte. Alle Worte waren lateinisch, und das dargestellte Land erkannte sie überhaupt nicht. Hektisch studierte sie die Umrisse und verfluchte ihren Geographielehrer, weil der so langweilig gewesen war, dass Holly in jeder seiner Stunden eingeschlafen war.

Da!

Sie bemerkte eine kleine Insel mit einem x darüber. Sie tippte mit dem Zeigefinger darauf und sah die andere Frau, die lautlos herüberglitt, fragend an.

Die Erscheinung nickte zustimmend. Holly wandte sich wieder der Karte zu und suchte verzweifelt nach irgendetwas, das sie erkannte. In der Nähe schien eine weitere, viel größere Insel zu liegen. Der Umriss löste in Hollys Hinterkopf eine leise Erinnerung aus.

England! Das muss England sein.

Triumphierend drehte sie sich zu der Frau um, doch die starrte mit ängstlicher Miene auf die gegenüberliegende Wand.

Da kommt jemand. Ich spüre es auch.

Der Hut auf dem Tisch begann zu leuchten ...

Die Angst der Frau war beinahe greifbar, als sie mit der Hand über dem Kopf herumwedelte. Alles wurde schwarz. Dann platzte jemand in den Raum und brüllte: »Sasha!«

Holly schrie auf und saß plötzlich kerzengerade im Bett.

Amanda kam mit weit aufgerissenen Augen in ihr Zimmer gestürmt. Das Haar stand ihr wild vom Kopf ab. Sie packte Holly bei den Schultern und schüttelte sie.

»Holly, alles in Ordnung?«

Holly schaffte es zu nicken. Sie sammelte sich, wischte sich Tränen aus den Augen und schluckte gegen ihre zugeschnürte Kehle an. Da sie nicht sprechen konnte, bat sie pantomimisch um ein Glas Wasser, und Amanda lief hinaus. Sekunden später war sie mit einem Zahnputzbecher aus dem Bad wieder da. Holly kippte das Wasser dankbar hinunter, und endlich lockerte sich ihre Kehle.

Als Holly ausgetrunken hatte, blickte sie zu Amanda auf, um ihr von dem Traum zu erzählen, und unterdrückte einen Aufschrei. Amandas Gesicht kam ihr riesengroß vor. Sie konnte jede Pore und jedes Pickelchen auf ihrer Haut sehen und deutlich jedes einzelne Haar erkennen. Sie blinzelte heftig, um das gesteigerte Sehvermögen loszuwerden.

Es blieb. Stöhnend ließ sie sich auf ihr Kissen zurücksinken und kniff die Augen zu.

»Was ist denn?«, fragte Amanda.

»Ich habe geträumt. Da war eine Frau. Jemand ... eine Verwandte, glaube ich.«

Amanda klang besorgt. »Isabeau?«

Holly schüttelte den Kopf. »Nein. Ich weiß nicht, wer sie war. Sie hat mich in einen Raum mit einer alten Landkarte geführt. Darauf habe ich eine Insel gefunden, in der Nähe von England.«

Holly riskierte es, die Augen ein wenig zu öffnen. Amanda wirkte verwirrt.

»Warte hier«, murmelte sie und stand wieder auf.

»Nur zu gern«, entgegnete Holly und schloss die Augen erneut. Ihr war schlecht und schwindlig, als schaukelte ihr Bett. Beinahe unbewusst streckte sie die Hand nach Bast aus, die sich von ihrem Sitzplatz am Fuß des Bettes erhob und zu ihrer Herrin spazierte.

Amanda blieb mehrere Minuten lang verschwunden. Holly begann zu dösen. Bast schob sich unter ihren Arm und schnurrte.

Holly fühlte sich ein wenig besser und murmelte: »Danke, süßes Kätzchen.«

Bast stupste sacht ihre Nase an und schmiegte dann die Schnauze an Hollys Wange.

»Entschuldigung«, sagte Amanda, als sie zurückkam und sich vorsichtig wieder aufs Bett setzte.

»Wo sind Tante Cecile und Silvana?«, fragte Holly.

»Sie sind nach Hause gegangen«, erklärte Amanda. »Tante Cecile wollte nach ihren Bannen schauen.«

»Und dein Dad?«

»Schläft immer noch«, berichtete Amanda. »Oder er ist bewusstlos. Ich weiß nicht, wie man den Unterschied erkennt, wenn jemand betrunken ist.« Sie klang traurig und verbittert. Dann hellte sich ihre Miene auf. »Also, Geographie. Ich habe meinen alten Atlas aus der Junior Highschool ausgegraben. Hätte nicht gedacht, dass ich den noch mal brauchen würde.«

»Wem sagst du das«, erwiderte Holly und öffnete vorsichtig ein Auge.

Sie konnte die Textur des Papiers erkennen, als Amanda ihr den Atlas vor die Nase hielt. Sie stöhnte und versuchte sich stattdessen auf die Bilder zu konzentrieren. Da war England.

»Siehst du sie? Die Insel aus deinem Traum?«

»Nein«, gestand Holly, und sie konnte das kaum darauf schieben, dass das Bild zu klein wäre. »Aber sie war genau hier«, sagte sie und zeigte auf die Stelle, an die sie sich erinnerte.

Amanda schloss den Atlas. »Holly, das war nur ein Traum.«

»Nein, war es nicht.«

»Okay, nehmen wir an, es war mehr. Du hast gesagt, die Karte sei alt gewesen. Vielleicht gibt es die Insel nicht mehr.«

Holly runzelte verwirrt die Stirn. »Willst du damit sagen, sie könnte untergegangen sein? Wie Atlantis?«

Amanda zuckte mit den Schultern. »Könnte doch sein. Wenn sie magisch ist.«

Holly schlug das Buch wieder auf, und ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. Sie fand die richtige Seite und starrte darauf.

»Vielleicht ist sie unsichtbar«, sagte sie langsam. »Oder in Vergessenheit geraten.« Sie richtete ihre neue Sehkraft auf die Seite, als könnte sie ihr irgendwelche verschwundenen Landstriche enthüllen.

»Aber... würde sie einfach von den Landkarten verschwinden? Das ist unwahrscheinlich.«

»>Unsichtbar< bedeutet >verborgen<«, erinnerte Holly sie.

Bast pfötelte an ihrem Arm, und Holly gähnte. Ihr fielen die Augen zu. Sie spürte, wie der Schlaf sie lockte, und hatte nicht mehr die Kraft, ihm zu widerstehen.

Sie schlief so schnell ein, dass sie nicht mehr mitbekam, wie Amanda das Zimmer verließ.

Morgen.

Und keine weiteren Träume.

Bast hatte das Zimmer verlassen, und Holly war aufgestanden. Nun stand sie vor dem Badezimmerspiegel, kniff die Augen zusammen, um nicht in ihre eigenen Poren zu starren, und endlich wusste sie, was sie zu tun hatte. Sie band sich das Haar mit einer keltischen Silberspange zurück und verließ das Bad. Sie ging hinunter und übte unterwegs, was sie zu Amanda sagen würde.

Sie fand ihre Cousine vor einer Schüssel Rice Krispies am Tisch. Amanda blickte zu ihr auf.

»Du hast lange geschlafen«, bemerkte sie. »Ich habe neue Schutzzauber über meinen Dad gelegt und alle Banne am Haus überprüft.« Ihr Blick wanderte zu der Stelle an der Decke, über der das Schlafzimmer ihres Vaters lag.

Holly holte sich eine Schüssel und setzte sich zu ihr an den Tisch.

»Mit meinem Gesichtssinn stimmt was nicht«, erzählte sie Amanda. »Es ist, als würde ich alles aus nächster Nähe sehen, wie mit einem Super- zoom. Das ist überhaupt nicht lustig.«

»Wir versuchen es mit einem Zauber«, schlug Amanda vor.

»Wenn ich etwas gegessen habe«, erwiderte Holly. »Mir ist ziemlich schlecht.«

»Hast du letzte Nacht noch mehr geträumt?«

»Nein«, antwortete Holly. Sie goss Milch in die Schüssel, starrte darauf hinab und schob sie von sich. Sie würde nichts bei sich behalten können. »Aber ich habe über den Traum mit der Insel nachgedacht.«

Etwas in ihrem Tonfall musste Amanda alarmiert haben, denn sie hielt inne und starrte Holly argwöhnisch an. »Warum habe ich das Gefühl, dass mir das nicht gefallen wird?«

Holly legte die gefalteten Hände auf den Tisch. »Amanda, ich werde mich auf die Suche nach Jer machen.«

Amanda griff nach ihrem Glas Orangensaft und trank es langsam aus. Als es leer war, stellte sie es mit einem energischen Knall auf den Tisch. Sie sah Holly fest in die Augen. Holly kniff die Augen zusammen, um nicht die Blutgefäße in den Augäpfeln ihrer Cousine sehen zu müssen.

Amanda sprach mit ruhiger, fester Stimme. »Auf gar keinen Fall.«

»Was?«

»Michael könnte uns jeden Moment wieder angreifen, und wir müssen vorbereitet sein. Das bedeutet, dass wir uns nicht in alle vier Himmelsrichtungen zerstreuen können.«

Holly holte tief Luft. »Ich muss ihn finden. Er lebt, er ist irgendwo, und ich muss zu ihm.«

Amanda gab nicht nach. »Sagst du das, oder spricht Isabeau aus dir?«

»Ich sage das«, antwortete Holly hitzig. »Jer hat uns schon einmal geholfen und uns vor seinem Vater gerettet, und er kann uns auch jetzt helfen.«

»Das ist also eine rein altruistische Geste«, erwiderte Amanda sarkastisch. »Uns fehlt schon Nicole, und du willst losziehen, um Michael Deveraux' Sohn zu retten, natürlich zum Wohl des Zirkels, als Unterstützung im Kampf gegen das Böse.«

»Ganz genau.« Holly nickte.

»Lügnerin.«

Das Wort hing zwischen ihnen in der Luft. Holly spürte, dass ihre Wangen noch heißer flammten. Sie wusste nicht, was sie wütender machte - der Vorwurf oder die Tatsache, dass er der Wahrheit entsprach. Langsam stand sie auf, und Energie kribbelte in ihren Fingerspitzen.

»Ich werde gehen, und deine Erlaubnis brauche ich dazu nicht.« Sie wandte sich ab.

Amanda sprang auf. »Holly, bist du schon mal auf die Idee gekommen, dass Michael so etwas absichtlich tun könnte, um uns zu trennen? Ohne Nicole sind wir schwach. Wenn du gehst, sind wir noch schwächer. Soweit wir wissen, ist Jer tot. Wie hätte er das Schwarze Feuer überleben können? Wir haben doch beide gesehen, wie es ihn verbrannt hat.«

Holly schlug mit der Faust auf den Tisch, denn sie konnte ihre Verzweiflung nicht länger zügeln. »Und wer war daran schuld? Uns ist nichts passiert, bis ihr mich von ihm weggezerrt habt!«

»Hast du den Verstand verloren?«, fragte Amanda, die nun ebenfalls laut wurde. »Das Gebäude ist um uns herum eingestürzt. Das Feuer hat alles vernichtet. Was hätte ich denn tun sollen, dich einfach zurücklassen?«

Tränen liefen Holly über die Wangen. »Zusammen wäre uns nichts passiert. Unsere gemeinsame Magie ...«

»Das ist Isabeaus und Jeans gemeinsame Magie«, fiel Amanda ihr ins Wort. »Das hat mit euch beiden nichts zu tun. Ihr seid nur die ahnungslosen Wirtskörper. Das wart ihr an jenem Abend, und so wollen sie es wieder haben. Sie wollen euch beide benutzen, für ihren eigenen abartigen kleinen Tanz.«

Hollys Finger krümmten sich, und sie sah kleine Funken an ihren Fingerspitzen tanzen. »Jer und ich haben unsere eigene Magie, die nichts mit ihnen zu tun hat.«

»Ach, tatsächlich?«, schleuderte Amanda ihr entgegen. »Oder bist du vielleicht einfach scharf auf einen Deveraux?«

»Aber ich habe geträumt, dass ...«

»Manchmal sind Träume eben nur Träume!«, schrie Amanda. »Nicht jeder deiner Träume bedeutet etwas! Du machst dir was vor, weil du ihn unbedingt haben willst, Holly! Werd endlich vernünftig!«

»Ach ja? Wie kommt es dann, dass ich jetzt ein Sehvermögen habe wie Superman?«

Amanda zögerte verblüfft. Dann sagte sie widerstrebend: »Okay. Das weiß ich auch nicht.«

Holly holte tief Luft. »In meinem Traum hat die Frau meine Augen berührt, und ich konnte alles schärfer sehen, klarer. Als könnte ich einfach alles sehen. Und ich kann >sehen<, dass ich ihn suchen soll.« Sie griff nach der Krispies-Schachtel und hielt sie Amanda hin. »Geh da rüber«, befahl sie ihrer Cousine.

Amanda betrachtete sie einen Moment lang. Dann ging sie auf die andere Seite der Küche und hielt die Schachtel in Hollys Richtung. »Lies mir die Zutaten vor.«

Holly konzentrierte den Blick auf die Schachtel und begann die Zutatenliste abzulesen. »Reis, Zucker, Salz, Fruktose, Maissirup, Malzaroma.«

Langsam kehrte Amanda an den Tisch zurück und stellte die Schachtel wieder hin. Sie musterte Hollys Augen. Holly bemühte sich, sie nicht zusammenzukneifen. Dann seufzte Amanda und setzte sich. »Was zum Teufel ist Malzaroma?«

Holly zuckte mit den Schultern. »Woher soll ich das wissen? Zumindest hast du jetzt gesehen, dass ich nicht lüge.«

Amanda wollte darauf offenbar lieber nicht eingehen. »Trotzdem, Holly, ich will nicht, dass du gerade jetzt Jer suchen gehst. Hab ein bisschen Geduld. Wir überlegen uns gemeinsam etwas.«

»Ich kann keine Geduld haben. Jer bleibt vielleicht nicht mehr viel Zeit«, sagte Holly leise.

Sie wandte sich ab und ging hinaus. Es hatte keinen Zweck, länger darüber zu streiten.

Sie würden sich nicht einigen.

»Du kannst mich hier nicht alleinlassen!«, schrie Amanda ihr nach. »Er wird uns umbringen, Holly! Er benutzt dich nur!«

Bekümmert lief Holly in ihr Zimmer, knallte die Tür zu, griff nach der Vase auf ihrem Nachttisch und schleuderte sie durchs Zimmer.

Tommy.

Amanda schnappte sich ihre Handtasche, stapfte zur Tür hinaus, erwiderte Hollys Türenknallen und den Krach von oben - die blöde Kuh hat wahrscheinlich diese Vase zerschmissen. Das macht nichts, die war sowieso hässlich - und schwang gerade die Beine in den Kombi, als ihr etwas einfiel. Ihr Vater lag noch immer oben in seinem ohnmächtigen Zustand.

Soll Holly sich darum kümmern, entschied sie.

Sie wählte Tommys Nummer, während sie aus der Ausfahrt zurücksetzte. Es klingelte, und Erleichterung überkam sie, als er abnahm.

»Hallo?«

»Ich bin's«, sagte sie. »Es ist alles so verrückt.« Sie begann zu weinen. »Tommy, ich habe solche Angst, und es ist grässlich, und sie redet davon, uns alleinzulassen, und ...«

»Half Caff«, unterbrach er sie. »Ich würde dir ja vorschlagen hierherzukommen, aber meine Eltern veranstalten eine Art Fundraiser-Party für die Demokraten, und man hat hier einfach keine Ruhe. Reiche, geistlose Liberale legen ihre Pelzmäntel auf mein Bett und drängen mich, für das neue Gewässerreinhaltungsgesetz zu stimmen.«

Trotz ihrer jämmerlichen Laune musste sie lächeln. Tommy Nagai war ihr ganzes Leben lang ihr bester Freund gewesen. Sie waren zusammen durch dick und dünn gegangen, und er hatte immer hinter ihr gestanden. Sie fand es schade, dass sie in letzter Zeit ein bisschen auseinandergetrieben waren, weil die Magie jetzt so viel Zeit in ihrem Leben beanspruchte.

»Ich weiß, es ist riskant, sich in der Öffentlichkeit sehen zu lassen«, fuhr er fort, »aber wir haben das Half Caff ganz ordentlich mit Bannen gesichert, findest du nicht? Und da Eli und Jer sich nicht mehr dort herumtreiben, halte ich das Café für einigermaßen sicher. Michael ist zu alt, um es zu kennen, außer, die Jungs haben ihm davon erzählt. Und von dieser Familie habe ich nicht den Eindruck, dass sie abends am Esstisch sitzen und sagen: >Soll ich euch von meinem aufregenden, spaßigen Tag erzählen?<«

Es fühlte sich gut an, sogar normal, seinen Witzchen zuzuhören und zu wissen, dass er wieder einmal den edlen Prinzen für sie spielen würde.

»Ich komme«, sagte sie.

»Kann's kaum erwarten, Amanda«, entgegnete er.

Amanda.

Tommy kämmte sich auf der Herrentoilette im Half Caff noch einmal die Haare. Er sah ganz gut aus... für seine Verhältnisse, und wenn einem Amerikaner asiatischer Abstammung gefielen, sogar sehr gut. Er hatte sich von der Party seiner Eltern entschuldigt, indem er aus dem Fenster gedeutet und einem Grüppchen Gäste erklärt hatte, da es seit kurzem regnete, gebe es zumindest für heute reichlich sauberes Wasser, und seine Arbeit hier sei getan. Die Gäste hatten leise gelacht.

Tommy wusste, wie man einen Raum voller Leute unterhielt.

Und ich glaube, dieser Raum hier ist sauber, dachte er, als er sich wieder durch den Lärm des Saals arbeitete, der den wichtigsten Treffpunkt cooler junger Leute in Seattle darstellte. Das Café war mit überdimensionalen Marmorstatuen und Wandgemälden von Wäldern dekoriert und hatte einen Balkon, von dem aus er und Amanda oft ihre Freunde und Feinde aus der Highschool observiert hatten. Ihr erstes Jahr am College war so ziemlich ruiniert, dank Michael Deveraux. Nur Tommy hatte es geschafft, seine Noten zu halten, und auch nur deshalb, weil das leichter war, als sich mit seinen Eltern auseinanderzusetzen, die ihm gewaltigen Druck machen würden, falls seine Leistungen nachließen.

Er stieg die Treppe zum Balkon hinauf und fand einen Tisch für zwei - den Stumpf einer Gipssäule mit einer kreisrunden Glasplatte darauf. Durch den Regen draußen war es ziemlich düster, also hatte das Personal Kerzen in kleinen Kürbissen auf den Tischen verteilt. Fast alle hier trugen irgendein Halloween-Accessoire - Skelett-Ohrringe, T-Shirts mit aufgedruckten Blutflecken -, und Tommy spürte einen Stich der Sehnsucht nach den alten Zeiten, als er und Amanda noch soziale Außenseiter gewesen waren, Nicole ein unerträglicher Snob, und als er Amanda am liebsten geschüttelt und ihr gesagt hätte: »Ich will, dass du meine Freundin bist, Amanda, nicht mein bester Kumpel.«

Ach ja, die Jugend.

Sein Kellner, der als Graf Dracula kostümiert war, nervte ihn so lange, bis er endlich etwas bestellte, und zwar Sachen, die Amanda mochte: Chai Tea Latte und ein Zimtbrötchen. Damit war der Kellner zufrieden, stellte noch zwei Gläser Wasser auf den Tisch und ließ Tommy in Ruhe auf Amanda warten.

Und da ist sie.

Sie eilte nervös herein, schloss den Regenschirm und schüttelte sich ein paar verirrte Regentropfen aus dem lockigen, hellbraunen Haar. Sie hatte es in letzter Zeit nicht mehr so oft schneiden lassen - für so etwas blieb kaum Zeit, wenn böse Zauberer versuchten, einen zu ermorden -, und ihm gefielen die weicheren Konturen um ihr Gesicht.

Sie sah ihn, winkte und kam die Treppe herauf. Sie umarmten sich, weil sie das immer taten, doch diesmal hielt Tommy sie ein paar Herzschläge länger fest.

Sie begann an seiner Schulter zu schluchzen. Erschrocken wich er zurück und erkannte dann, dass sie sich an ihn lehnen wollte. Er schlang die Arme um sie und sagte: »Psst, schon gut, ich hab ein Zimtbrötchen für dich.«

Sie kicherte leise und ging zu ihrem Stuhl.

Das fand er schade, doch er setzte sich an den Tisch und zog die Augenbrauen hoch, bereit, sich alles anzuhören.

»Sie will sich von uns trennen. Sie hatte so einen Traum. Jer ist auf irgendeiner Insel, und sie will zu ihm gehen«, stieß Amanda hastig hervor.

»Auf einer Insel«, wiederholte er.

Sie verdrehte die Augen. »In England, oder irgendwo in der Nähe.«

»Aha.« Er verschränkte die Arme. »Da gibt es nämlich ganz wenige. Nur die Orkneys und, ach ja, die kleine britische Insel selbst, und dann noch ...«

»Hexer versuchen uns umzubringen, und sie kann an nichts anderes denken als ihre große Liebe, die zufällig auch ein Hexer ist.«

»Diese Filme heutzutage...«, bemerkte er geistesgegenwärtig, als der Kellner mit zwei Chai Latte und dem Zimtbrötchen an den Tisch trat.

Sie kapierte es sofort. »Ja, nicht?«, stimmte sie zu.

Sie warteten, während ihre Bestellung auf dem Tisch verteilt wurde. Dann lehnte Amanda sich auf ihrem Stuhl zurück und seufzte schwer.

»Also, dieser Traum«, half er nach.

»Er ist da eingeschlossen. Oder so ähnlich. Ich weiß es nicht. Sie kann uns doch nicht hier alleinlassen. Wir werden einfach massakriert...«

Er war ihrer Meinung, sagte aber nichts. Er ließ sie erst einmal reden.

»Das ist nicht fair. Es ist nicht in Ordnung, und ich finde, wir sollten ihr alle sagen, dass sie nicht gehen kann. Sie ist unsere Hohepriesterin, Herrgott noch mal.«

»In demselben Film«, sagte er, als der Kellner vorbeikam, um ihnen Wasser nachzuschenken.

Zu seiner Überraschung brach Amanda in Lachen aus. Sie legte plötzlich beide Hände auf seine linke Hand, die ganz unschuldig auf dem Tisch ruhte, und sagte: »Ach, Tommy, man muss dich einfach lieben!«

Sein Herz setzte einen Schlag aus. Ach, wenn du mich nur lieben würdest, sagte er ihr stumm. Amanda, noch nie hat ein treueres Herz sauerstoffgesättigtes Blut gepumpt...

Er griff nach seinem Becher und erklärte: »Wir sollten einen Zirkel abhalten. Mit ihr reden. Du hast recht - sie kann nicht so tun, als sei sie nicht Teil eines größeren Ganzen. Wir sind ja schon auf Nicole sauer genug.«

Sie ließ seine Hand los, und das bedauerte er sehr. Doch ihre Augen hatten einen neuen Glanz, als betrachte sie ihn nun ein wenig anders, und er wagte zu hoffen...

Wie er schon seit über zehn Jahren hoffte ...

»Du hast recht. Wir halten einen Zirkel ab. Ach, Tommy, was würde ich nur ohne dich machen?«, zwitscherte sie.

Er lächelte sie zärtlich an. »Das finden wir lieber nicht heraus.«

Ihre Lippen kräuselten sich, ihre Wangen färbten sich rosig, und ja, da war tatsächlich ein neuer Ausdruck in ihren Augen.

»Lieber nicht«, stimmte sie zu.

Michael: Seattle, im Oktober

Es war Samhain - Halloween -, und oben klingelte es andauernd an der Tür. Michael wusste, dass die Kinder, die von Haus zu Haus zogen und nach Süßem verlangten, verwirrt und enttäuscht waren. Das Haus der Deveraux war für gewöhnlich eine ihrer ergiebigsten Quellen. Da Michael Wert auf gutes Ansehen in der Nachbarschaft legte, war er beim Verteilen von Süßigkeiten sonst immer sehr großzügig.

Doch dieses Jahr hatte er in dieser Nacht, einem der wichtigsten Sabbate der Hexenwelt, etwas Besseres zu tun.

Im schwarzen Herzen seines Hauses - der Zauberkammer - hatte er sein besonderes Samhain-Gewand angelegt, das mit hässlich grinsenden roten Kürbissen, grünen Blättern und Blutstropfen verziert war, und besondere arkane Gegenstände für ein Ritual hervorgeholt: grün-schwarze Kerzen, in die Menschenblut eingerührt war, eine Schale aus dem Schädel einer in Salem gehenkten Hexe und sogar einen besonderen Athame, den sein Vater ihm geschenkt hatte, als er zum ersten Mal einen Toten hatte auferstehen lassen.

Der Wichtel saß da, beobachtete die Vorbereitungen und starrte Michael mit seinem typisch spitzbübischen Blick an. Michael holte tief Luft, zwang sich zur Ruhe und zentrierte sich für das Ritual. Doch er war von kribbelnder Erregung erfüllt. Er hatte die Runen befragt und in den Eingeweiden mehrerer kleiner Opfertiere gelesen und tatsächlich die Bestätigung für den Fluch der Cahors erhalten. Wen eine Cahors liebte, der starb gewöhnlich durch Ertrinken.

Er hatte eine wunderbare neue Waffe gegen die Cahors in der Hand.

Er stimmte einen Zauber auf Latein an, griff in einen großen Tank und zog ein Haibaby an der Schwanzflosse heraus. Er hielt das zappelnde Geschöpf über den Altar und hob mit der anderen Hand den Dolch. »Oh, gehörnter Gott, nimm dieses Opfer von mir an. Erwecke alle Dämonen und Kreaturen des Meeres, auf dass sie mir helfen, die Cahors zu vernichten.«

Er erstach den sich windenden Hai und ließ das Blut auf den getrockneten Koriander und Bitterwurz auf den Altar tropfen. Als das Tier endlich zu zucken aufhörte, legte er auch den Kadaver auf den Altar. Er nahm eine Kerze und setzte die Kräuter in Brand. Binnen weniger Augenblicke fing auch der Hai Feuer und begann zu qualmen.

Michael beugte sich vor, um den Rauch einzuatmen. Der Gestank war entsetzlich, das Gefühl der Macht jedoch beinahe überwältigend. Er schloss die Augen. »Mögen die Untiere des Meeres meine Stimme hören und mir gehorchen. Tötet die Hexen. Tötet auch die letzte der Cahors.

Mögen alle Dämonen meinem Ruf folgen. Heute müssen die Cahors-Hexen sterben. Emergo, volitate, perficite nutum meum!«

Im Rauch über dem Altar erschienen langsam Bilder, die plötzlich deutlich hervortraten ... und Realität wurden. Vor der Küste schwammen Haie suchend hin und her, als erhaschten sie Blutgeruch im Wasser. Sie wurden immer wilder, während sie sich zum Ufer vorarbeiteten.

Weiter draußen begann das Meer zu kochen. Tote Fische trieben an die Oberfläche, binnen eines Augenblicks vollständig durchgekocht. Das

Wasser brodelte, und langsam regte sich etwas in den Tiefen des Meeres und erwachte.

Es tastete sich aus seinem nassen Grab hervor, hungrig und suchend. Es hatte so lange in der Schwärze am Grund des Ozeans gelegen, dass es erblindet war, doch konnte es noch jede Bewegung in seiner Nähe spüren. Alle Lebewesen flohen voller Grauen vor ihm. Es öffnete das Maul und entblößte grässliche Zähne, gezackt und jeder fast eine Elle lang.

Stachelige Schuppen bedeckten seinen aalähnlichen Kopf. Es schob ihn hin und her auf der Suche nach Beute. Langsam streckte es den zusammengerollten Schlangenleib und stieß sich mit starken Beinen ab. Lange Klauen mit bösartigen Krallen durchschnitten das Wasser, als das Wesen der Oberfläche zustrebte und alles auf seinem Weg verschlang.

Nur die Wassergeister, die wie lautlose Gespenster durchs Meer zogen, flohen nicht vor ihm. Sie lachten stumm und umtanzten es.

»Am frühen Abend hat ein Killerwal ein kleines Fischerboot zum Kentern gebracht. Zeugen auf einem nahen Schiff sahen, wie das Tier das Boot so heftig rammte, dass es umkippte. Die beiden Insassen des Bootes werden noch vermisst. Ob die Männer ertranken oder von dem Tier getötet wurden, ist bisher nicht bekannt. Und nun weitere aktuelle Meldungen ...«

Holly schaltete das Autoradio aus.

Sie hielt an der Klippe, von der aus sie gern aufs Meer blickte, und stieg aus dem Auto, wobei sie immer noch die Augen zusammenkniff. Autofahren war mit dieser verstärkten Sehkraft gar nicht einfach gewesen, doch sie glaubte, dass sie allmählich nachließ.

Das wäre jedenfalls eine Erleichterung.

Seufzend trat sie an den Rand der Klippe und schaute auf die Wellen hinunter. Irgendetwas stimmte nicht. Da war ein dunkler Fleck nicht weit von der Küste entfernt. Sie runzelte die Stirn und starrte angestrengt mit ihren Super-Augen dorthin. Eine Flosse durchbrach die Wasseroberfläche am Rand des Flecks, dann noch eine und noch eine, bis sie mindestens zehn sah: Haie.

Sie tauchten immer wieder in den dunklen Fleck hinein. Schaudernd begriff Holly, dass das Blut sein musste. Sie hatten etwas getötet und dem vielen Blut nach zu schließen etwas Großes. Sie sah zu, wie die Meeresraubtiere kreisten und tauchten, und obwohl sie Furcht und auch ein wenig Ekel empfand, konnte sie sich nicht zwingen, den Blick abzuwenden.

Schließlich erlahmte die Hektik dort unten, und die Haie wandten sich ab und schwammen wie ein Rudel die Küste hinauf. Der Fleck blieb zurück, und statt sich im Wasser zu verteilen, bildete er einen dunklen Schatten.

Ihr Handy klingelte, und sie schrak zusammen. Ihre Hand zitterte leicht, als sie das Telefon aus der Handtasche zog.

»Ja?«

Es war Amanda. Holly hörte ihrer Cousine nur mit halbem Ohr zu, während sie beobachtete, wie die Rückenflossen langsam in der Ferne verschwanden. Der Coven wollte ein Treffen, ein Gespräch über ihren Wunsch, Jer zu retten.

»Also gut«, sagte sie kühl. Sie fühlte sich in die Defensive gedrängt. Sie haben kein Recht, mich daran zu hindern, wenn es nun einmal das ist, was ich tun muss.

»Wir treffen uns auf der Fähre nach Port Townsend«, fuhr Amanda fort. Port Townsend war eine hübsche Enklave alter viktorianischer Villen auf einer Insel in der Bucht.

»Fähre?«, fragte Holly, denn dieses Wort drang durch alle anderen Gedanken in ihrem Kopf. »Aber Amanda ...«

»Tante Cecile hat Schutzzauber gesprochen. Und sie sagt, das sei der einzige Ort, wo wir über alles reden können, ohne belauscht zu werden. Er hat seine Spione überall.«

»Aber ...«

»Komm einfach, Holly«, fauchte Amanda.

Amanda legte auf.

»Das ist gefährlich«, murmelte Holly in den Wählton hinein. »Ich weiß, dass wir dort nicht sicher sind.«

Holly drehte sich um und ging zu ihrem Auto zurück, und Michael, der in seine Kristallkugel starrte, lächelte.

Der Wichtel saß neben ihm in seiner Zauberkammer und grinste noch breiter. Er öffnete den Mund und imitierte perfekt Amandas Stimme: »Komm einfach, Holly.«

Michael lachte. »Und jetzt mach Tante Cecile nach.«

»>Auf der Fähre seid ihr am sichersten, Amanda<«, imitierte er sie.

»Das ist großartig. Perfekt.« Er tätschelte der Kreatur den Rücken.