Zwanzigstes Kapitel

Callias Herz fühlte sich an, als wollten ihm Flügel wachsen, auf denen es geradewegs in den Himmel schweben konnte. Als Zander seinen Kopf auf ihre Brust legte und zitternd Atem holte, dachte sie sogar, dass es passieren könnte.

Ihr Leib bebte noch vom überwältigenden Orgasmus, und ihre Gedanken kreisten um das, was Zander ihr gesagt hatte. Zu gern würde sie glauben, dass sie sogar nach allem, was zwischen ihnen vorgefallen war, noch eine Zukunft hatten.

»Zander«, sagte sie leise und strich ihm übers Haar. »Wir müssen aufstehen.«

»Werden wir«, murmelte er an ihrem Hals. »Sobald ich mich wieder bewegen kann.«

Wärme durchströmte sie, als sie daran dachte, weshalb er seinem Körper momentan nicht zutraute, ihm zu gehorchen. Und sie dachte an das, was sie getan hatten, wie es sich anfühlte und wie sehr sie es wieder und wieder täte. Unwillkürlich schlossen sich ihre Schoßmuskeln um jenen wunderbaren Teil von ihm, der nach wie vor tief in ihr war, und Zander stöhnte.

»Das wäre eine Art, wieder in Bewegung zu kommen.«

Sie lächelte. Ja, Sex mit Zander war immer berauschend gewesen. Aber natürlich war ihr klar, dass es hier nicht bloß um Sex ging. Da war mehr. Sie fühlte es, auch wenn sie sich nicht dazu bringen konnte, es auszusprechen.

Ihr Lächeln erstarb, denn die Wirklichkeit mit ihren zahllosen Problemen wartete auf sie.

Sie stürmte auf Callia ein und brachte ihr hübsches Fantasiegespinst zum Einsturz. Ihr Sohn war noch nicht gefunden, und sie hatten hier wertvolle Zeit vergeudet, indem sie sich dem Liebesspiel hingaben, statt nach ihm zu suchen. Überdies wartete Isadora – Callias Halbschwester und Zanders Verlobte – in diesem Moment unten und fragte sich wahrscheinlich schon, was hier vor sich ging.

Sie drückte sanft gegen seine Schultern. »Ich muss aufstehen, Zander. Ich brauche eine Dusche.«

Träge stützte er sich mit beiden Händen auf. Als er seinen Kopf hob, wirkten seine Augen schläfrig, und sein Haar war verwühlt. Doch obwohl es überhaupt keinen Sinn ergab, schien etwas an ihm … anders, ruhiger, ja, friedvoller, als sie ihn je gesehen hatte. »Willst du mich schon wieder von dir runterwaschen?«

Sie überlegte immer noch, was sich in den letzten paar Minuten an ihm verändert hatte, konnte es aber nicht benennen. Sie hatten schon häufig miteinander geschlafen, und, ja, Sex entspannte ihn. Aber nicht so. Dies hier war anders.

Als er die Stirn runzelte, verdrängte sie den Gedanken und wand sich unter ihm heraus. »Nein, mir fällt nur gerade wieder ein, warum ich ins Menschenreich gekommen bin.«

Er rollte sich auf die Seite und beobachtete sie, einen Ellbogen angewinkelt und den Kopf auf seine Hand gelehnt. »Wie bist du eigentlich hergekommen?«

»Wir sind durch ein geheimes Portal gegangen, von dem Isadora wusste.«

»Wo?«

»In den Bergen.«

Seine Mundwinkel bogen sich nach unten. »In den Bergen leben Hexen.«

Das Missfallen in seinem Tonfall war unüberhörbar, dennoch wusste sie, dass er sie deshalb nicht zurechtweisen würde. Was irgendwie nicht passte, denn Zander erzählte anderen eigentlich laufend, was sie tun und was sie lassen sollten.

Komisch.

Sie fragte sich wieder, was an ihm verändert war und wieso, wurde jedoch von ihren Sachen auf dem Boden abgelenkt und bückte sich nach ihnen. »Die anderen wundern sich wahrscheinlich schon, wo wir sind. Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee wäre, nach Sex riechend hinunterzugehen, denn sie alle denken, dass ich nach oben wollte, um dich in Stücke zu reißen. Und vor allem möchte ich nicht, dass Isadora mitbekommt, was hier gerade war.«

Mit diesen Worten ging sie zum Bad. »Ich beeile mich.«

Sie schloss die Tür hinter sich und atmete tief ein. Ihre Hände wie ihre Nerven flatterten. Rasch stellte sie die Dusche an, zog sich das Bustier über den Kopf und stieg unter den heißen Strahl.

Die Hitze entspannte sie sofort. Die Augen geschlossen, neigte sie ihren Kopf nach hinten und ließ das Wasser auf ihre Brüste prasseln. Derweil bemühte sie sich, an nichts zu denken, was ihr leider unmöglich war. Der Schmerz ob dem, was ihr Vater ihr eröffnete, raubte ihr den Atem. Sie tauchte ihr Gesicht unter den Strahl. Ihre Gedanken schweiften zu dem Gespräch mit Casey und Isadora, dann zur Begegnung mit Zander hier und der Art, wie sie all ihre Wut und Enttäuschung an ihm ausgelassen hatte.

Sie würde es nicht wieder tun, nicht die Fehler wiederholen, die sie schon einmal beging. Er hatte sie geliebt? Was spielte das noch für eine Rolle? Das Einzige, was jetzt zählte, war, ihren Sohn zu finden. Der Rest war unwichtig.

Ein kühler Luftzug wehte über ihre Haut, und zu spät begriff sie, dass die Duschkabinentür auf- und zugegangen war, während sie vor sich hingrübelte. Sie drehte den Kopf und sah Zander, der direkt hinter ihr stand.

»Was hast du vor?«, fragte sie.

»Ich dachte mir, ich sollte auch duschen.«

Ihr wurde flau, und sie machte einen Schritt zurück, um Abstand von ihm zu bekommen, aber er schien die ganze Kabine einzunehmen. »Okay, dann warte draußen. Ich bin in einer Minute fertig.«

Zander schmunzelte. »Warum plötzlich so schüchtern? Ich habe dich schon nackt gesehen, Thea

»Ich bin nicht schüchtern«, entgegnete sie und wich noch weiter zurück, so dass sie mit dem Rücken an die Fliesen stieß. »Ich möchte nur etwas Privatsphäre haben, sonst nichts. Wie gesagt, ich bin gleich fertig. Dann hast du die Dusche ganz für dich.«

»Ich teile sie gern mit dir«, sagte er und wollte nach ihrem Arm greifen.

Callia wich ihm aus. »Zander, bitte.« Sie presste ihren Rücken fest an die Fliesenwand. »Warte draußen.«

Er stutzte. »Was ist los?«

»Nichts.«

Seine Finger strichen über ihren Oberarm. »Dreh dich um, Callia.«

Sie wollte nicht, starrte auf seine breite Brust, über deren sonnengebräunte Haut Wasserrinnsale liefen. »Nein.«

Er zog behutsam an ihrem Arm, und obwohl sie wusste, dass es zwecklos war, sträubte sie sich. Natürlich hatte er sie binnen weniger Sekunden umgedreht. Nun war ihr Rücken an ihn gedrückt, und seine Arme umfingen sie. »So ist es besser, nicht?«, flüsterte er.

Nein! Wasser sprühte auf ihre Brust und die Schultern. Sie schloss die Augen. Zu gern würde sie die letzten zehn Jahre aus ihrem Gedächtnis löschen, aber das konnte sie nicht. »Zander, bitte …«

»Ich habe die Narben gesehen, als du verletzt wurdest«, sagte er leise. »Du musst deshalb keine Angst haben.«

»Habe ich nicht.«

»Was ist es dann?«

Sie wünschte, sie müsste diese Unterhaltung nicht führen. »Ich mag es eben nicht, wenn jemand sie sieht. Sie sind hässlich.«

Er neigte sich zu ihrer Schulter und küsste sie. »Nichts an dir könnte jemals hässlich sein.« Als er den Kopf wieder hob und seine Umarmung lockerte, wusste sie, dass er die Narben betrachtete. Obgleich sie längst zu dünnen weißen Linien verblasst waren, fühlte Callia sie bis heute. Und sie wusste, wie sie aussahen. »Wenn ich daran denke, was sie mit dir gemacht haben …«

»Sie haben nichts getan, worum ich sie nicht bat. Es war meine Entscheidung.«

Sein Schweigen bestätigte ihre Vermutung, und genau deshalb wollte sie jetzt nicht dieses Gespräch mit ihm führen. Der Schmerz, mit dem sie tagtäglich lebte, den sie unterdrücken musste, um durchzuhalten, kehrte mit voller Wucht zurück.

»Keiner hat mich gezwungen, Zander.« Zumindest das musste sie ihm verständlich machen. »Ich habe das Reinigungsritual freiwillig gemacht.«

»Warum?«, fragte er entsetzt.

In ihrem Kopf ergab es so viel mehr Sinn als in Worten. »Weil es mir richtig schien. Weil ich dachte, ich schuldete es meinem Vater dafür, dass er seine Stellung riskierte, um sich um mich zu kümmern. Weil …« Sie verstummte und blickte hinab auf seine Arme. »Ich wollte vergessen.«

Er schwieg so lange, dass sie schon glaubte, er hätte sie nicht gehört. Dann lehnte er seine Stirn an ihren Kopf und flüsterte: »Thea.«

Thea. Das Wort traf sie wie ein Messerstich ins Herz. Wieso konnte sie ihn selbst nach so langer Zeit nicht gehen lassen? Nicht einmal heute, da sie wusste, dass sie keine Zukunft hatten und das hier selbstzerstörerisch war. Warum konnte sie ihn nicht aufgeben, wie sie es sollte?

»Dies«, sagte er, nahm einen Arm von ihrer Taille und glitt mit der Hand über ihren Rücken, »ist nun mein.« Er legte seine flache Hand auf die Narben, und Wärme strömte von seiner Haut in ihre. »Ich kann nicht machen, dass du vergisst, aber ich kann dir die Last abnehmen. Es ist meine, Thea, nicht deine.«

Seine Wärme übertrug sich sogar auf die kältesten Stellen in ihrem Innern, aber sie schüttelte den Kopf. »Du verstehst das nicht. Ich wollte nicht vergessen, was passiert war, Zander. Ich wollte dich vergessen und meine Gefühle für dich.«

Die folgende Stille hatte etwas Bedrückendes.

»Ist das deine Art, mir zu sagen, dass du es geschafft hast?«, fragte er nach einer Weile.

»Nein. Ich konnte nicht, nie. Das ist das Problem. Es hat nicht funktioniert.« Tränen, die sie sehr gern unterdrückt hätte, stiegen ihr in die Augen. »Schmerz ist nicht befreiend. Er ist nur eine weitere Erinnerung an das, was man verloren hat. Und nun habe ich nichts als diese scheußlichen Narben. Sie werden mir bleiben, wenn alles andere vorbei ist. Ob wir unseren Sohn finden oder nicht. Nachdem du dich gebunden hast …«

Sie brach ab, als ihr bewusst wurde, wie verbittert sie klang. Hätte sie doch nur den Mund gehalten! Oder ihr Bustier anbehalten.

Er drehte sie wieder zu sich, so dass ihr das Wasser über den Rücken lief, strich mit den Fingern durch ihr Haar und neigte ihren Kopf nach hinten, damit sie ihn ansah. »Thea, mach die Augen auf.«

Sie tat es und erkannte all die Gefühle, die in ihr tobten, in seinem Blick. Seine silbernen Augen wirkten nicht mehr gewitterumwölkt und grau, sondern schimmerten und hatten einen leuchtend blauen Kranz um die Iris.

»Zander, deine Augen …«

»Ich binde mich nicht an Isadora. Wenn dies hier vorbei ist, wirst du mich haben. Ich bin dein, solange du mich willst. Auch wenn du mich nicht mehr willst, gehöre ich immer noch dir. Ich habe mich nur freiwillig zur Heirat mit Isadora bereiterklärt, weil ich dachte, ich hätte dich verloren. Denkst du wirklich, wenn ich geahnt hätte, dass wir noch eine Chance haben, hätte ich solch eine Vereinbarung getroffen?«

Er nahm ihre Hand, bevor sie antworten konnte, legte sie an seine Brust und ließ Callia sein Herzklopfen spüren. Dann nahm er ihre andere Hand und legte sie auf ihr Herz. »Fühlst du das?«, fragte er. »Wir sind einander verbunden, du und ich. Es geht tiefer als die Tatsache, dass ich dich liebe, ist mehr als bloß der Umstand, dass du meine Seelenverwandte bist. Hier geht es um uns und den Grund, weshalb ich dich auch nie gehen lassen konnte.« Er kam näher, umfing sie mit seiner Wärme, während sie fühlte, wie ihr Herz im Takt mit seinem schlug. »Es ist mehr, Thea. Egal was heute oder morgen geschieht, vor uns liegt viel mehr. Du bist mein Leben, und darum endet die Geschichte nicht hier. Nicht solange wir es nicht erlauben.«

Seine Worte berührten sie tiefer als sein früheres Geständnis, dass er sie einst geliebt hatte. Tränen liefen ihr über die Wangen, gegen die sie nichts tun konnte. Sanft neigte Zander seinen Kopf und streifte ihre Lippen mit seinen – einmal, zweimal, so zart, als wäre sie aus feinstem Glas. »Thea«, flüsterte er an ihrem Mund. »Lass es nicht hiermit enden.«

Oh Götter, sie war schon immer machtlos gegen ihn gewesen. Er hatte recht: Das Band zwischen ihnen war unbegreiflich tief, und sie war es leid, dagegen anzukämpfen, gegen sie beide und das, was sie immer gewollt hatte.

Sie erwiderte seinen Kuss trotz der Stimme in ihrem Hinterkopf, die sie warnte, dass es falsch war, sie wieder verletzt würde. Obwohl sie wusste, dass es für sie niemals gut ausging, konnte sie nicht anders. Sie schlang die Arme um ihn, neigte ihren Kopf nach hinten und stellte sich auf die Zehenspitzen, während sie ihn kostete und er sie dicht an sich zog. Stöhnend schob er sie mit dem Rücken an die Fliesenwand. Wasser sprühte um sie herum auf, als seine Hand zu ihren Po wanderte und sie noch näher an sich zog.

»Thea, ich kann nie genug von dir bekommen.«

Sie von ihm auch nicht. Sie reckte sich noch höher, küsste seine Nase, seine Wange, seinen Mund. Zwar sollten sie beide eigentlich unten bei den anderen sein, die gewiss eine Strategie besprachen, doch hier und jetzt brauchte sie ihn.

Sie hob ein Bein um seine Hüfte. »Zander …«

Sein tiefes Raunen verriet ihr, dass er dasselbe brauchte wie sie. Er knabberte an ihrem Ohrläppchen und wiegte spielerisch die Hüften an ihren. »Thea …«

Plötzlich flog die Badezimmertür auf und krachte gegen die Wand. Zander erstarrte, nahm Callias Bein herunter und stellte sich vor sie, um sie abzuschirmen.

»Mann, Z., da bist du ja!«

Callia erkannte Titus’ Stimme, konnte jedoch nicht an Zanders breiten Schultern vorbeisehen.

»Raus hier, Titus«, knurrte Zander.

»Oh, Mist.« Schuhsohlen quietschen auf dem Fliesenboden, dann klang Titus’ Stimme gedämpfter, als hätte er sich umgedreht. »Ich dachte nicht, dass du so, ähm, schmutzig bist und mehr als eine Dusche brauchst«, sagte er amüsiert. »Hi, Callia.«

Zander blickte finster zu ihr, und aus irgendeinem Grund empfand sie diese absurde Situation als beinahe wohltuend. »Hi, Titus.«

Zander verdrehte die Augen. »Okay, du hattest deinen Spaß, Titus. Jetzt raus hier!«

Auch wenn er unübersehbar verärgert war wegen der Störung, hörte er sich nicht wütend an. Von seinem aufbrausenden Temperament, das sonst vollkommen unberechenbar zu sein schien, war keine Spur zu entdecken.

»Ich geh ja schon«, sagte Titus. »Aber ich dachte, ihr zwei wollt vielleicht wissen, dass Nicks Scouts einen Menschen hergebracht haben. Er ist Truck-Fahrer, und sie haben ihn weiter im Norden gefunden, schwer verletzt von einem Dämonenangriff. Allerdings konnte er noch was von einem Jungen murmeln, der ihm geholfen hat, den Typen zu entkommen. Er hatte ihn als Anhalter in British Columbia aufgelesen.«

Callias Lächeln schwand, und eine seltsame Vorahnung überkam sie. Zanders Miene nach fühlte er dasselbe.

Er drehte sich zu Titus um, schirmte Callia jedoch weiter ab. Und da bemerkte Callia die Narben oben an seinem Rücken: dünne, blasse Linien, von denen sie sicher war, dass er sie noch nicht gehabt hatte, als sie ihn verarztete. Noch dazu waren sie ihr unheimlich vertraut.

Moment mal. Was ist hier los?

»Wie alt?«, fragte Zander.

»Ungefähr zehn.«

Callia hörte nur Titus’ Antwort, und sofort blickte Callia von Zanders Narben in sein Gesicht, denn er drehte sich zu ihr. Es konnte doch nicht …

»Und Z.«, fuhr Titus fort, »zieh dir das rein. Der Typ, dieser Mensch, sagt, der Junge hatte Zeichnungen auf seinen Armen, genau solche wie wir.«

Zander rannte mit Callia den langen Korridor entlang. Nachdem Titus gegangen war, hatten sie sich in Windeseile angezogen. Callia sprach kein Wort, aber ihre Angst war ihr deutlich anzumerken gewesen.

Seine Stiefel donnerten auf dem Steinboden, als sie die Treppen zur Hauptebene hinunterliefen und von dort zur Hintertreppe, die nach unten zur Klinik führte. Da die Kolonie tief in den großen Höhlen der Cascade Mountains lag, war die Luft hier kühl. Kerzen im Abstand von etwa zehn Schritt beleuchteten den breiten Gang, um Energie zu sparen, und der Fels schluckte sämtliche Geräusche, so dass die Höhlengänge verlassen anmuteten.

Unten an der Treppe wandte Callia sich nach links zu den Konferenzräumen, wo Nick mit seinen Soldaten eine Strategie besprach, doch Zander zog sie zurück. »Hier entlang.«

»Wie kommst du darauf? Ich habe sie zuletzt da hinten gesehen.«

»Die Behandlungsräume sind in dieser Richtung.«

Ihre Miene war leicht zu lesen. Die steile Falte zwischen ihren Brauen sagte, dass sie nicht verstand, wie er das wissen konnte. Und als ihr klarwurde, dass er die Räumlichkeiten von ihrem Aufenthalt hier kannte, nahmen ihre Züge einen weicheren Ausdruck an.

Was merkwürdig war, denn sie hatte die Tage, die er nicht von ihrer Seite gewichen war, bislang kein einziges Mal angesprochen. Überhaupt wusste er früher nie, was sie dachte oder fühlte. Doch nun endlich öffnete sie sich ihm.

»Ich glaube, ich habe dir noch nicht gedankt, dass du mir das Leben gerettet hast«, sagte sie leise.

Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht und küsste sie auf die Stirn. »Es wird alles wieder gut, Thea«, sagte er. »Das verspreche ich dir, egal was geschieht.«

Eine neue Entschlossenheit spiegelte sich in ihren Augen, und sie nickte.

Zander drückte ihre Hand und führte sie zu den Behandlungsräumen. Leises Stimmengewirr wies ihnen den Weg, nachdem sie um eine Ecke gebogen waren. Eine Tür vorn links stand offen, aus der Neonlicht auf den dunklen Korridor fiel. Gleich drinnen in dem Zimmer blockierten Therons breite Schultern die Sicht.

Der Anführer der Argonauten wandte sich um, als er Schritte hörte. »Z.« Sein düsterer Blick huschte kurz zu Callia, die mit Zander zusammen ins Zimmer kam, und Zander ließ ihre Hand bewusst nicht los. »Wir wollten gerade einen Suchtrupp losschicken.«

»Wo ist er?«, fragte Zander, der nicht auf Therons Sarkasmus einging. Er sah zur offenen Tür rechts von ihnen, aus der das Sirren und Piepen von medizinischen Geräten drang.

»Im anderen Zimmer«, antwortete Theron. »Die hiesige Heilerin ist bei ihm.«

»Ich will ihn sehen«, sagte Callia. »Vielleicht kann ich helfen.«

Zander sah zu ihr und wieder zu Theron. »Ist er bei Bewusstsein?«

Theron nickte. »War er eben noch.«

Callia entwand sich Zanders Hand, lief durch das Zimmer in den angrenzenden Raum, und Zander folgte ihr in das mit aller erdenklichen Technik ausgestattete Krankenzimmer.

Kabel und Schläuche führten von den Armen des Mannes zu den Maschinen hinterm Bett. Eine Sauerstoffmaske bedeckte sein halbes Gesicht, und so gut wie alle sichtbaren Teile von ihm waren mit Verbänden umwickelt. Offenbar konnte man von Glück reden, dass der Kerl noch am Leben war.

Callia ging nahe ans Bett. Nick stand auf der einen Seite und beobachtete den Menschen, während Lena von der anderen aus die Maschinen überwachte.

»Wie geht es ihm?«

Nick verschränkte die Arme vor der Brust. »Wie würde es dir denn gehen, nachdem dich jemand als Zwischenmahlzeit benutzt hat?«

Lena warf ihm einen vernichtenden Blick zu, ehe sie Callia ansah. »Er ist stabil, vorerst. Aber ich fürchte, ihr könnt nicht mit ihm reden. Er ist gerade wieder bewusstlos geworden, und die Drogen haben ihn ziemlich erwischt. Selbst wenn er reden könnte, würde euch nichts von dem, was er sagt, helfen.«

»Was hat er erzählt? Was hat er über den Jungen gesagt?«, fragte Callia spürbar frustriert.

Tatsächlich huschte ein Anflug von Mitgefühl über Nicks Züge. »Er hat den Jungen irgendwo oben in British Columbia aufgegabelt. Dann hielten sie an einem Truck Stop gleich hinter dem Mount-Hood-Gipfel.« Er sah zu Zander. »Dort gibt es eine kleine Misos-Siedlung, deshalb patrouillieren wir die Gegend. Wie es aussieht, sind sie unwissentlich mitten in einen Überfall geraten.«

»Was ist mit dem Jungen?«, fragte Callia. »War er bei ihm?«

Die Panik in ihrer Stimme setzte Zander zu. Er stellte sich hinter sie und legte seine Hände an ihre Arme.

»Nach dem, was meine Soldaten aus ihm herausbekommen konnten«, erzählte Nick, »hat der Junge ihm gesagt, die Monster wären seinetwegen da.«

Callia drehte sich entsetzt zu Zander um, und was er in ihren Augen sah, entsprach exakt dem, was er fühlte. Furcht, die sich mit verzweifelter Dringlichkeit an einen letzten Hoffnungsfunken klammerte. Nur dass er dunkel ahnte, es würde nicht gut ausgehen.

»Also konnte er entkommen«, sagte Callia, die sich wieder Nick zuwandte. »Konnte der Junge fliehen?«

»Nein«, antwortete Zander, bevor Nick es konnte, und ihm wurde das Herz bleischwer. Er blickte in das vernarbte Gesicht des Halbbluts, das den Argonauten näher zu sein schien, als irgendeiner von ihnen bisher begriff, und las die Wahrheit.

»Das kannst du nicht wissen!«, widersprach Callia. »Er kann entkommen sein, als die Dämonen auf diesen Mann losgingen.«

»Nein«, wiederholte Zander, der es hasste, ihr wehzutun, nur musste er ehrlich zu ihr sein. »Falls er es war, Callia, falls es unser Sohn war, wäre er nicht weggelaufen. Er hätte diesen Menschen nicht wehrlos zurückgelassen.«

Sie sah zu ihm auf. »Woher willst du das wissen? Er ist doch noch ein Kind.«

»Er ist ein Argonaut. Es liegt ihm im Blut.« Zander wandte sich zu Theron und Titus um, die ihnen ins Krankenzimmer gefolgt waren. Hinter ihnen standen Gryphon, Phineus und Cerek in der Tür, die das Geschehen beobachteten. Und Zander musste an seinen Dreckskerl von Vater denken, daran wie er selbst als Kind gewesen war, wie er aufgezogen und trainiert wurde und welche Instinkte ihm unwiderruflich angeboren waren.

»Wir waren alle nicht wie gewöhnliche Jugendliche. Man kann einem Argonauten beibringen, ein Krieger zu sein, ihm die Gefühle austreiben, die Träume nehmen und ihn zum Mörder drillen. Und falls es unser Sohn war und er wirklich bei Atalanta gelebt hat, bin ich sicher, dass sie genau das tat. Trotzdem wäre sie nicht imstande gewesen, seinen Instinkt zu verändern. Er gehört ebenso fest zu ihm wie sein Haar, seine Haut. Sollte er sich irgendwie von ihr befreit haben und bei diesem Mann gewesen sein, als die Dämonen angriffen, hätte er gekämpft. Und er hätte ihn beschützt.«

Tränen schwammen in ihren Augen. Sie drehte sich zu dem Mann um, der reglos im Bett lag, und der Kummer, den sie ausstrahlte, ging Zander durch und durch.

Niemand sagte ein Wort, als sie sich benommen im Zimmer umschaute. Die einzigen Geräusche waren das Piepen und Surren der Apparate. Dann entwand sie sich langsam Zanders Hand und ging zu einem Stuhl, über dessen Armlehne eine kleine Jacke hing.

»Ist das … war das seine?«

»Der Mensch hielt sie, als sie ihn herbrachten«, sagte Lena leise. »Alle persönlichen Gegenstände, die er bei sich hatte, sind dort.«

Callia hob die Jacke an ihr Gesicht und atmete tief ein. Das Kleidungsstück war zerrissen, voller Blut und Schmutz, doch das schien sie nicht zu kümmern. Sie schloss die Augen und presste sich die Jacke an die Brust. Mehr konnte Zander nicht aushalten, denn auch ihm brach das Herz. Eben noch waren sie voller Hoffnung gewesen, und jetzt blieb nichts als Trauer.

Er schritt um das Bett herum zu ihr, nahm sie in die Arme und hielt sie, während sie weinte. Hinter ihm flüsterten die anderen, aber ihm war gleich, was sie sagten. Callias Schluchzen schüttelte ihren Leib, als er sie an sich drückte, die Jacke zwischen ihnen. Er hatte nicht einmal die Kraft zu beten, dies hier wäre nicht, was er befürchtete. Denn er wusste es. Ein sechster Sinn in ihm sagte ihm, dass die Jacke seinem Sohn gehört hatte und dieser Sohn irgendwie den Menschen rettete.

»Thea …«

Sie sah ihn an, ihre Wangen tränennass, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und bewegte die Jacke zwischen ihnen. Auf einmal erstarrte sie und runzelte die Stirn.

»Was ist?«, fragte er.

Sie zog ihre Hand aus der Jacke. Das Neonlicht über ihnen spiegelte sich in der runden Silberscheibe, der Zeit und Witterung eine graue Patina verliehen hatten. Sie hing an einer schweren Kette und bestand hauptsächlich aus vier leeren Kammern mit einem kleinen eingestanzten Kreis in der Mitte, der das Siegel der Titanen zeigte.

»Heilige Hera«, flüsterte Zander.

Callias Augen weiteten sich. »Das sieht aus wie …«

»Das Krónossiegel«, sagte Theron erstaunt.

Zander und Callia drehten sich beide zu Theron. Neben ihm standen Casey und Isadora, gleichfalls gebannt auf das Medaillon in Callias Händen starrend.

Zander hatte überhaupt nicht bemerkt, wie die beiden Frauen ins Zimmer kamen, doch als er Isadoras veränderte Erscheinung sah – die kurzen Haare, die neue Kleidung, ihr fragender Blick, der zwischen ihm und Callia hin- und herhuschte –, regten sich Schuldgefühle in ihm. Er musste dringend mit der Prinzessin sprechen, ihr erklären, was passiert war, und ihr sagen, dass es keine Bindungszeremonie geben würde. Was das für die Monarchie bedeutete, konnte er nicht sagen. Aber wenn dies hier – er blickte wieder auf die Scheibe – war, wofür er es hielt, dann war es auch nicht mehr wichtig.

»Okay«, sagte Casey zögerlich. »Ihr guckt das Ding an, als wäre es der Antichrist. Kann bitte mal jemand eine ahnungslose Misos aufklären?«

Theron, durch Caseys Stimme aus seiner Trance erwacht, zog sie an seine Seite. »Krónos war der Vater von Zeus, Hades und Poseidon. Ein Titan, und die Titanen waren …«

»Die herrschenden Gottheiten, bevor die Götter des Olymps übernehmen«, ergänzte Casey. »Ja, die Mythologie kenne ich, aber das war nicht meine Frage.«

»Es ist bloß ein weiterer Mythos«, sagte Nick.

Theron warf ihm einen strengen Blick zu. »Mythen wurzeln gewöhnlich in der Wirklichkeit. Was dies – findest du nicht auch, Krieger? – beweist.«

Nick zog die Brauen zusammen und nahm eine trotzige Verteidigungshaltung ein. In die spürbare Spannung hinein sagte Zander zu Casey: »Der Sage zufolge hat Krónos, als er erkannte, dass Zeus und seine Brüder ihn stürzen wollten, dieses Siegel geschaffen. Er gab die chthonischen Kräfte hinein, jene von dieser Welt, und die vier Elemente Luft, Wasser, Feuer, Erde. Vor der letzten Schlacht im Kampf der Titanen, dem Krieg zwischen Titanen und Olympern, gab er Prometheus das Siegel, damit er darauf aufpasste. Und er befahl ihm, es nur im äußersten Notfall zu benutzen.«

Casey stutzte. »Aber Prometheus war doch selbst ein Titan.«

»War er«, antwortete Isadora. »Allerdings nahm er nicht an dem Kampf teil, und er und einige andere wurden nicht mit den übrigen Titanen nach Tartarus verbannt. Als der Krieg vorbei war, ließ Zeus die unterlegenen Titanen in die unteren Ebenen von Tartarus sperren, wo sie in alle Ewigkeit gefoltert wurden.«

»Und Prometheus hat das Siegel nicht benutzt, um sie zu befreien«, riet Casey.

»Nein«, bestätigte Theron. »Prometheus war ein Verfechter der Menschheit. Er wollte nicht, dass einer der Götter das Siegel benutzte, deshalb verteilte er die vier Elemente auf die Erde, und der Sage nach versteckte er das leere Siegel irgendwo, wo Zeus und seine Brüder es nie finden würden.«

»Etwas von großem Wert«, murmelte Callia. »Er hat es in den Aegis-Bergen versteckt, in Argolea.«

Zander sah wieder zu der Scheibe. Sogar er konnte die pure Kraft fühlen, die von dem uralten Metall ausging. Falls sein Sohn dieses Ding gehabt hatte, als er von den Dämonen angegriffen wurde, könnte er möglicherweise stark genug gewesen sein, ihnen doch zu entkommen.

Ein Blick in Callias Augen verriet ihm, dass sie sich an denselben Hoffnungsfetzen klammerte.

»Okay, jetzt komme ich nicht mehr mit«, sagte Casey, die Theron losließ und zu Callia kam. »Warum hat Prometheus das Siegel versteckt?«

»Weil der Legende nach derjenige, der das Siegel mitsamt den Elementen trägt, nicht bloß die Macht hat, die Titanen aus Tartarus zu befreien«, erklärte Isadora, »sondern außerdem über diese Welt herrscht.«

Nun schien Casey zu begreifen. »Sie wollte es, um der Prophezeiung zu entgehen.« Sie sah von Isadora zu Zander. »Meint ihr das? Wenn Atalanta dieses Siegel mit den vier Elementen darin hat, kann sie das Menschenreich beherrschen?«

»Ja«, antwortete Zander. »Und das Menschenreich ist das Einzige, das die Götter nie kontrollieren konnten. Die Himmel, die Unterwelt, die Meere werden von ihnen beherrscht, aber das Menschenreich war ihnen immer versperrt. Solange sie das Siegel hat, ist sie wieder unsterblich und mächtiger als sie alle. Und fordert sie jemand heraus«, er sah zu seinen Wächtergefährten, die allesamt angespannt waren, weil sie genau wussten, was die kleine Scheibe vermochte, »kann sie die Titanen loslassen, die dann einen Krieg beginnen, wie ihn noch niemand erlebt hat.«

»Oh Gott«, hauchte Casey. »Dann ist es wohl gut, dass sie das Ding nicht hat, was? Aber ich verstehe immer noch nicht, wie es von Argolea aus in die Hände eures Sohnes gelangen konnte.«

Sie schaute sich fragend um.

»Es muss rausgeschmuggelt worden sein«, sagte Isadora. »Jemand muss es gefunden haben.« Plötzlich riss sie die Augen weit auf. »Orpheus.«

»Dieser kleine Drecksack«, murmelte Nick.

»Es ist unerheblich, wie es rauskam«, sagte Theron. »Wenn der Junge das Siegel hatte, muss er es von Atalanta haben.«

»Er hat es ihr gestohlen.« Callia blickte zu Zander. »Deshalb war er mit diesem Menschen zusammen, und deshalb jagen ihn die Dämonen.«

Ja, das hatte er sich auch schon gedacht. Und sie würden ihn töten, sobald sie ihn fanden. Falls sie es nicht bereits getan hatten.

»Wartet mal«, sagte Isadora. »Da gibt es einen Haken. Atalanta kann das Siegel nicht allein einsetzen.«

»Wieso nicht?«, fragte Casey.

»Weil sie in ihrer Gottform als Olymperin gilt, nicht als Titanin. Und ein Olymper – selbst einer der Zwölf – braucht dazu einen Schlüssel. Sie müssen etwas aus der Menschenwelt mit etwas aus ihrer zusammenbringen. Sie müssen …«

»Jemanden haben, der halb Gott, halb Mensch ist, vollkommen ausgewogen«, beendete Casey den Satz für sie.

»Ja«, stimmte Isadora ihr leise zu und sah ihre Halbschwestern an. »Jetzt ergibt alles einen Sinn, diese Male, die wir haben. Die Horen wachen über Gleichgewicht, Takt und Ordnung. Casey und ich, als die Erwählten, sind solche perfekten halbgöttlichen, halbmenschlichen Wesen, aber wir sind nur mit dir zusammen im Gleichgewicht, Callia.«

»Also braucht sie uns, um das Siegel zu benutzen«, flüsterte Callia.

»Ja«, hauchte Isadora. »Oder eines unserer Kinder. Und da Casey und ich noch keine haben …«

Callia berührte das Mal hinten in ihrem Nacken. »Hat sie sich meines geholt.«

Isadora nickte. »Atalanta hat deinen Sohn nicht gestohlen, weil sein Vater ein Argonaut ist, sondern weil sie vor uns allen wusste, was du bist. Und dass unser Vater, der König, irgendwie mit Themis verbunden ist, dem Titan, der die Horen zeugte, und damit wir also auch. Nun braucht sie eine von uns oder eines unserer Kinder, um das zu kriegen, was sie eigentlich will.«

Callias Blick huschte zu Zander. »Dann tötet sie ihn nicht.«

»Warte«, sagte Zander, der nicht wollte, dass sie sich falsche Hoffnungen machte. »Wenn es stimmt, was Isadora sagt, und ihr drei wirklich die neuen Horen seid, Stunden, was auch immer, und sie euch braucht, um das Siegel zu benutzen, warum hat sie dich dann an jenem Tag nicht einfach mitgenommen? Und wie hat sie euch beide gefunden?«

»Weiß ich nicht«, antwortete Callia kopfschüttelnd. »Ich habe keine Ahnung, wie sie uns gefunden hat, aber sie hätte mich nicht gewollt, weil ein Kind leichter zu manipulieren ist als eine dreißigjährige Argoleanerin, die ihr Leben der Krone verschrieben hat. Sie muss gewusst haben, dass ich ihr niemals helfen würde. Lieber wäre ich gestorben.«

»Und vielleicht hatte sie da das Siegel noch gar nicht«, fügte Casey hinzu. Als alle zu ihr sahen, sagte sie: »Vor zehn Jahren war Atalanta noch unsterblich, lebte in Tartarus und baute ihr Heer auf, richtig? Ihr habt alle gesagt, dass sie eine Intrigantin ist und ständig auf der Suche nach neuen Wegen, um sich zu rächen. Wenn das stimmt, wäre es nur logisch, dass sie einen Plan B hat, falls die Prophezeiung eintritt.« Sie sah zu Isadora. »Sprich: Wenn wir uns finden und sie doch wieder sterblich wird. Sie hat sich überlegt, wie sie sonst noch kriegt, was sie will.«

»Rache«, sagte Theron, dessen Züge sich verhärteten. »Die Frauen müssen zurück nach Argolea. Sofort.«

»Was?«, fragten alle drei Halbschwestern im Chor.

»Theron«, begann Casey.

»Ich gehe nicht zurück, Zander«, sagte Callia. »Ich habe ein Recht, hier zu sein.«

Das hatte sie, und dennoch hatte Theron recht. Falls Atalanta ihren Sohn verloren hatte, hätte sie keinerlei Skrupel, sich eine oder alle Schwestern zu holen, solange sie sich überlegte, wie sie das Siegel zurückbekam. In der Menschenwelt war es für keine von ihnen sicher.

»Die Frauen haben recht, Held«, sagte Nick, der neben dem Bett stand.

Theron bedachte ihn mit einem finsteren Blick. »Halt den Mund, Nick. Das geht dich nichts an.«

Nicks Wangenmuskel zuckte. »Tut es sehr wohl, Klugscheißer. Wahrscheinlich mehr als euch alle zusammen, denn meine Leute leben hier, während ihr euch in eurem Nimmerland versteckt.« Er sah zu Callia, Isadora und Casey. »Ihr Ladies könnt so lange in der Kolonie bleiben, wie ihr wollt. Hier habt ihr eine sichere Zuflucht.«

»Mistkerl«, knurrte Theron. »Nick …«

Doch Nick achtete nicht auf ihn, sondern fragte Isadora: »An der Legende ist noch mehr dran, stimmt’s? Erzähl ihnen den Rest.«

Isadora blickte zur Seite, und ihre Miene verriet deutlich, dass sie Nick nicht mochte und sich erst recht nicht von ihm diktieren lassen wollte, was sie tun sollte. »Ich weiß nicht, was du meinst.«

Was gelogen war, wie Zander ihr ansah.

Sie hatten keine Zeit für diesen Unsinn. Zander wandte sich wieder Nick zu. »Kannst du mich zu dem Truck Stop bringen, wo deine Leute den Menschen gefunden haben?«

»Ja, am schnellstens geht’s mit dem Hubschrauber.« Nick rieb sich übers Kinn. »Wir haben einen am Landeplatz, gleich vor den Silver Hills. Ich kann über Funk Bescheid geben, dass sie ihn klarmachen.«

»Gut.« Zanders Pläne nahmen allmählich Gestalt an. Aus dem Augenwinkel bemerkte er Callias verärgerten Gesichtsausdruck, ignorierte ihn aber. Er war ganz und gar auf Kampf eingestellt, und diesmal war es nicht bloß Pflicht, es war eine persönliche Angelegenheit.

»Eine Frage noch«, sagte Nick. »Was zur Hölle kann ein Argonaut gegen eine Horde von Dämonen ausrichten?«

»Er ist nicht einer«, erklärte Theron. »Falls Atalanta einen von uns hat, gehen wir alle.«

»Und ich«, sagte Callia.

Zander sah sie nicht an. »Nein.«

»Ich …«

»Dieses Mal nicht, Thea«, fiel er ihr ins Wort. Sein Adrenalinpegel stieg bereits bei dem Gedanken daran, was vor ihnen lag, und er konzentrierte sich weiter auf Nick. »Wir brauchen Karten für das Gebiet, Waffen und einen Tipp, wo sie sich deiner Meinung nach am ehesten mit meinem Sohn versteckt.«

»Wird erledigt. Aber ihr braucht mehr als das, Held. Mein Gefühl sagt mir, dass ihr vor allem das Wohlwollen der beknackten Götter nötig habt.«