Vierzehntes Kapitel
»Ihm fehlt nichts.«
»Was heißt hier, ihm fehlt nichts? Er sieht aus, als würde er jeden Moment den Löffel abgeben.«
Stimmen drangen zu Zander durch, holten ihn aus der Finsternis, die ihn wie ein Schleier umgab. Er hatte das Gefühl, sich durch einen Nebel kämpfen zu müssen, der einfach nicht aufklaren wollte.
»Physisch fehlt ihm nichts«, wiederholte die weibliche Stimme. »Ich kann nichts finden, das seinen Zustand erklärt. Aber eines kann ich dir sagen: Wenn ihre Vitalfunktionen abschwächen, tun es seine auch.«
»Wie bitte?«, fragte eine tiefe Männerstimme, die Zander nicht kannte.
»Ich meine«, erklärte die Frau seufzend, »dass sie miteinander auf eine Weise verbunden sind, wie ich es noch nicht erlebt habe. Nichts, was wir mit ihm tun, hat irgendeine Wirkung auf sie, aber andersherum ist es eindeutig der Fall.«
Zander strengte sich an, ihre Worte zu begreifen.
»Willst du mir erzählen, dass wir nichts für ihn tun können?«, fragte eine andere Männerstimme, die Zander schon einmal gehört hatte. Aber wo? Er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern. Was war denn nur mit seinem Kopf los?
»Genau das will ich dir erzählen«, antwortete die Frau. »Wir müssen uns auf sie konzentrieren.«
»Dann mach das, verdammt«, sagte die vertrautere Männerstimme.
»Tun wir ja.« Nun klang die Frau gereizt. »Das Problem ist bloß, dass du mir nicht zuhörst. Ihre Verletzungen sind es nicht, was sie umbringt.«
»Und was dann?«, fragte eine andere Frau. Auch die Stimme kam Zander bekannt vor. Im Gegensatz zu den anderen war sie vollkommen ruhig. Zander bemühte sich, seine Augen zu öffnen, um endlich Bilder zu den Stimmen zu haben und die Verbindungen herstellen zu können, die ihm sein Gehirn nicht liefern wollte. Er blinzelte, sah aber leider nur verschwommenen Nebel.
»Sie scheint keinen Lebenswillen mehr zu haben.«
»Skata!«
Okay, diese Stimme erkannte Zander sofort. Theron.
Stöhnend rollte Zander sich auf die Seite und stützte sich auf. Ihm tat alles weh, doch das ignorierte er. Das Bett unter ihm war fest, mehr wie eine Liege als eine Matratze. Er blickte auf, doch alles wurde abwechselnd klar und diesig, so dass er eine Weile brauchte, bis er die weißen Wände und das Verbandszeug auf dem langen Tresen rechts von ihm ausmachen konnte und begriff, dass er in einer Art medizinischer Einrichtung war.
Die Halbblutkolonie. Was bedeutete, dass Titus ihn und Callia hergebracht hatte.
Erinnerungsfetzen huschten ihm durch den Kopf, von der Höhle, der Hütte, alles durcheinander. Callia. Seine Füße schlugen auf den Boden auf, und fast wären seine Beine eingeknickt. Er hielt sich mit einer Hand am Bett fest, bis er einigermaßen stabil stand, dann folgte er vorsichtig den Stimmen hinaus auf den Korridor.
Mann, war er schwach! Schwächer als jemals zuvor, denn allein der Weg vom Bett zur Tür kam ihm wie eine Besteigung des Olymps vor.
Er kämpfte sich durch den Schmerz. Als er durch die Tür kam und den langen Flur hinunterschaute, stellte er fest, dass er recht gehabt hatte. Eine kleine Gruppe stand dort und unterhielt sich: Theron, Casey, Nick und eine Frau in einem blauen OP-Anzug, die ein Klemmbrett in der Hand hielt.
»Zander, oh, mein Gott!« Casey kam zu ihm gelaufen und wollte einen Arm um ihn legen, um ihn zu stützen, doch er wehrte sie ab und lehnte stattdessen eine Hand an die Wand nahe ihrem Kopf. »Du darfst noch nicht aufstehen.«
Die Königstochter, die niemals Königin werden würde, weil ihre Mutter menschlich gewesen war, schien besorgt. Womit Zander sich indes nicht aufhielt. Er sah zu Theron. »Wo ist Callia?«
»Sie ist auf der Intensivstation«, sagte die Frau, ehe Theron antworten konnte.
Für ein Halbblut war sie durchschnittlich groß. Ihr dunkles Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, und ihr ungeschminktes, unscheinbares Gesicht schrie förmlich »Trottel.« Sie hielt offensichtlich nicht viel von ihm, denn ihre Miene war alles andere als freundlich.
Zander blickte über ihren Kopf hinweg zu Nick, der hinter ihr stand und aussah, als hätte er eine üble Migräne. Willkommen im Club. Nick überragte die Ärztin deutlich, sowohl an Größe als auch an Selbstbewusstsein. »Ich will zu ihr.«
»Zander.« Casey legte eine Hand auf seinen Arm. »Das ist keine so gute Idee.«
Nun sah er Therons Frau an und bekam das ungute Gefühl, dass sie ihm etwas verschwiegen. »Warum nicht?«
Theron stemmte sich von der Wand ab, an der er gelehnt hatte, und kam zu ihnen. »Weil es ihr nicht gutgeht. Und dir auch nicht. Du bist nicht in der Verfassung …«
Zander warf ihm einen warnenden Blick zu. Ihm wurde mulmig. Was tat Theron hier? Wenn Titus nach Argolea gegangen und ihn und Casey hergeholt hatte, stimmte etwas nicht. Casey blieb dieser Tage um Isadoras willen stets in Burgnähe.
»Verarsch mich nicht, Theron. Ist sie noch nicht bei Bewusstsein? Seit wann?«
»Es sind erst vierundzwanzig Stunden«, antwortete Theron.
Zander sah zu der Ärztin und wieder zu Theron. Ihm war bewusst, dass sie ihm seine Wut anmerkten, aber das kümmerte ihn nicht. »Vierundzwanzig Stunden? Wieso zur Hölle habt ihr sie nicht nach Argolea gebracht, wenn die hier nichts für sie tun können?«
»Pass auf, was du redest«, murmelte Nick, woraufhin Zander ihn zornig anfunkelte.
»Reg ihn nicht auf«, flüsterte die Frau Nick zu. »Du hast doch ihre Narben gesehen.«
»Wovon redest du denn?«, fragte Zander erbost. »Und wer zum Hades bist du überhaupt?«
»Lena«, sagte Nick hinter ihr und richtete sich sehr gerade auf. »Eine unserer besten Heilerinnen. Also hör auf, hier herumzumotzen, oder ich schmeiß dich höchstpersönlich wieder ins Bett.«
Zanders Kinn kribbelte, was eine untrügliche Ankündigung war, dass seine Wut zu explodieren drohte. Das Einzige, was ihn davon abhielt, die Beherrschung zu verlieren, war Therons Hand, die fest auf sein Zwerchfell drückte.
»Jetzt kriegen sich mal alle wieder ein«, sagte Theron und blickte zu Lena. »Und lassen wir die Sticheleien. Sag ihm, was du uns gerade erzählt hast.«
Die Frau schnaubte und presste die Lippen zusammen, als wollte sie am liebsten gar nichts mehr sagen. Doch schließlich fragte sie. »Weißt du irgendwas über Dämonengift?«
»Dämonen-Was?«
»Gift«, wiederholte sie lauter, wobei sie Zander mit einem Blick bedachte, dass er sich unweigerlich fragte, was er ihr eigentlich getan hatte. Er war sich hundertprozentig sicher, dass er dieser Frau noch nie begegnet war. »Die Krallen eines Erzdämons sind giftig. Selbst wenn die Wunden verheilen, zerstört das Gift das gesunde Gewebe nach und nach. Gerät es in die Blutzirkulation, greift es die Organe an, wo es allerdings sehr viel langsamer wirkt.«
»Und wozu erzählst du mir das?«, fragte Zander.
»Callia ist infiziert, Zander«, schaltete Theron sich ein. »Titus hat uns gesagt, was in der Hütte passiert ist. Atalanta hat Callias Wunden versiegelt und damit das Gift in ihr eingeschlossen.«
Zander blickte von einem zum anderen und versuchte, zu verstehen, was sie ihm erklärten. »Ich wurde auch schon geschnitten und gebissen, wie alle Wächter. Du …«
»Du bist nie von einem Erzdämon verwundet worden«, fiel Theron ihm ins Wort.
»Es ist sogar gut möglich, dass noch keiner von euch mit einem Erzdämon aneinandergerasselt ist«, sagte Nick. Als Zander zu ihm sah, runzelte Nick die Stirn, was Zander nicht unbedingt zuversichtlicher machte. »Normalerweise kämpft ein Erzdämon nicht, er befiehlt. Wir haben das schon erlebt. Bestimmte Opfer, die meine Scouts fanden, hatten solche eiternden Wunden, wie Lena sie beschreibt. Wir wussten erst nicht, was es war, bis wir eine Frau entdeckten, die noch lebte und eine ähnliche Wunde am Bein hatte.«
Lena senkte den Blick zu ihren Füßen und schürzte die Lippen, als hätte sie das alles schon mal gehört. Der Ekel in ihrem Gesicht entging Zander trotzdem nicht; so wenig wie die Tatsache, dass sie es vermied, ihn oder einen der anderen anzusehen.
»Sie war schwanger«, fuhr Nick fort. »Und sie hatte große Schmerzen. Man hatte sie mehrfach vergewaltigt.« Casey stieß einen stummen Schrei aus, und Nick rieb sich über die Stirn, als würde auch ihm übel bei dem Gedanken. »Wir haben versucht, ihr zu helfen, aber sie ließ uns nicht. Sie flehte uns an, sie zu töten.«
»Soweit ich es beurteilen kann«, übernahm nun Lena, da Nick eindeutig nicht weiterreden wollte, »ist der Erzdämon der einzige Dämon, der sich fortpflanzen kann. Wir vermuten, dass er sein Gift einsetzt, um das Opfer zu lähmen und lange genug am Leben zu erhalten, bis es entbunden hat.«
»Gütiger Gott«, sagte Casey und hielt sich eine Hand vor den Mund. Theron legte einen Arm um sie und zog sie dicht an sich.
»Die Schwangerschaft nach einer Dämonenzeugung ist sehr viel kürzer als eine normale«, fuhr Lena fort. »Einen Monat, vielleicht zwei. Wir sind nicht ganz sicher. Bisher konnten wir dazu nicht forschen.«
»Forschen?«, wiederholte Zander entsetzt. »Wie ein wissenschaftliches Experiment?« Er dachte wieder an Callia, wie sie dort vor Atalanta auf dem Tisch gelegen hatte.
»Wir haben ein solches Kind kurz nach der Geburt gefunden«, sagte Nick, der Zander einen warnenden Blick zuwarf und Theron ansah. »Tot. Sein Körper sah menschlich aus, aber etwas mit den Augen stimmte nicht. Und dann ergab die Untersuchung der Organe etwas.«
»Als wir eine Autopsie vornahmen«, sagte Lena rasch, »fanden wir vollkommen andere Organe als menschliche. Das Herz hatte sechs Kammern, die Lunge drei Flügel, es hatte zwei Paar Nieren. Stellt euch eine solche Halbblut-Dämonenart vor, die unter uns lebt. Es wäre wie …«
»Die ultimative Waffe«, beendete Theron den Satz für sie.
Zanders Verstand sperrte sich gegen das, was er hörte. Ihm wurde schlecht, und immer wieder hatte er das Bild von Callia vor sich, blutig, grün und blau geschlagen. Er hörte ihre Schreie aus der Hütte, ehe sie dort waren. Unwillkürlich hielt er sich wieder an der Wand fest, weil er fürchtete, sonst die Fassung zu verlieren. »Ist sie …?« Götter, er konnte es nicht einmal aussprechen. »Wurde sie …?«
»Nein«, sagte Lena prompt. »Es gibt keine Anzeichnung für sexuelle Gewalt. Wir glauben, dass ihr gleich nach ihrer Vergiftung dort wart. Der andere Wächter, der mit dir herkam, hat erzählt, was ihr gesehen habt. Es muss wohl so was wie ein Machtkampf zwischen dem Erzdämon und Atalanta gewesen sein. Vielleicht wollte er die Frau schwängern, aber Atalanta hatte etwas anderes mit ihr vor. Wir wissen es nicht genau.«
Für einen Moment war er maßlos erleichtert, doch das kurze Glücksgefühl schwand sofort wieder. »Was habt ihr für die anderen tun können? Für die, die infiziert wurden.«
»Nichts.«
»Wie?«
»Sie sind alle gestorben«, sagte Nick.
Zander sah Theron an, der Casey im Arm hielt. Sie hatte Tränen in den Augen.
»Nein.« Zander kehrte den beiden den Rücken zu und blickte wieder zur Heilerin. Panik stieg in ihm hoch. »Es muss doch etwas geben, dass ihr tun könnt!«
Lena seufzte. »Es gibt nichts.«
»Zander«, raunte Theron und griff nach ihm.
Doch Zander schüttelte ihn ab. Zum Teufel mit ihnen allen! Sie benahmen sich, als wäre Callia verloren, und das durfte nicht sein. »Callia ist eine Heilerin!«
»Das bin ich auch«, entgegnete Lena, deren Stimme ein bisschen schrill wurde. »Aber es macht keinen Unterschied. Sie kann sich nicht selbst heilen, und meine Kräfte reichen hierfür nicht.«
Es machte sehr wohl einen Unterschied. Und ob! Er schloss die Augen und erinnerte sich an die letzten paar Tage: an Callia, die ihn pflegte, die ihn hielt, ihn mit ihrem Körper wärmte, mit ihrer Essenz lockte. Die ihm wehtat. Seine wirren Gedanken stoppten hier. Er dachte daran, was sie ihm angetan hatte, was sie beinahe dem Dämon antat, der sie quer durch die Hütte geworfen hatte.
Er öffnete die Augen wieder. »Ihre Kräfte sind übertragbar.«
»Was?«, fragte Lena. »Woher willst du das wissen?«
Ja, woher konnte er es wissen? Weil er es mit eigenen Augen gesehen und am eigenen Leib gespürt hatte. »Sie hat es mir gezeigt. Ihre Gabe kann Schmerz und Krankheit aus einem Körper ziehen, aber sie auch auf einen anderen übertragen. Nutz es, nimm dir mit deinen Kräften von ihren, und hol das Gift aus ihr.«
Lenas braune Augen leuchteten auf. »Theoretisch könnte es klappen. Aber wie kann ich es auslösen? Sie müsste schon ziemlich hart drücken, damit ich die Infektion rausbekomme. Und sie ist bewusstlos. Wir mussten sie sedieren, und selbst ohne die Mittel ist sie nicht klar.«
»Setz du die Mittel ab, und ich bringe sie dazu, dass sie mitmacht.«
»Du?«, fragte Lena verächtlich. »Du hältst dich ja selbst kaum aufrecht.«
Zander ging einen Schritt weg von der Wand, schwankte, fing sich jedoch sofort ab. Seine Entschlossenheit gab ihm die Kraft, die er brauchte, um das durchzustehen, was nun kam. »Mir geht es gut.«
Lena schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust, das Klemmbrett in einer Hand. Auf die Weise wollte sie ihm das volle Ausmaß ihrer Verachtung demonstrieren. »Mir ist es ehrlich gesagt egal, ob du zusammenklappst oder nicht, Argonaut. Aber mich würde interessieren, wie ausgerechnet du ihre Kräfte wachrufen willst.«
»Sie muss nur richtig auf die Palme gebracht werden.«
»Was du nicht sagst?«
»Lena«, ermahnte Nick sie leise.
Sie wischte seine Hand von ihrem Unterarm und sah weiter Zander an. »Und ich schätze, du bist derjenige, auf den sie allen Grund hat, sauer zu sein.«
Ihm war durchaus bewusst, dass dieses kleine Halbblut ihn nicht ausstehen konnte, warum auch immer, und es war ihm egal. Er wollte nur zu Callia und ihr die Hilfe geben, die sie brauchte. »Ja, stimmt. Auf keinen hat sie eine solche Stinkwut wie auf mich. Also, ziehst du das jetzt durch oder was?«
Lenas Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, und sie biss die Zähne so fest zusammen, dass Zander vermutete, Nick könnte das Knirschen hören. »Na gut, versuchen wir’s. Aber eines solltest du in deinen Schädel kriegen, Argonaut. Wenn sie aufwacht, geht sie nicht mit dir von hier weg.« Sie sah zu Theron. »Sie geht mit keinem von euch mit.«
Verwirrt blickte Zander zu Theron, der Casey losgelassen hatte und sich beschützend neben Zander aufbaute.
»Lena«, sagte Nick streng. »Das ist nicht unsere Sache.«
»Zu schade, Nick«, warf sie ihm über die Schulter zu. »Ich habe es schon zu meiner Sache gemacht, seit ich die Narben auf ihrem Rücken gesehen habe. Ich weiß, was du meinst, und ich weiß, dass gerade du weißt, was diese Narben bedeuten.«
»Narben?«, fragte Casey. »Was für Narben?«
Lena drehte sich zu ihr um. »Die von ihrer Bestrafung.«
»Bestrafung?« Zander stutzte. Er erinnerte sich nicht an Narben, nirgends auf Callias glatter Seidenhaut.
»Nick«, sagte Theron leise, »nimm diese Frau an die Leine.«
»Ich bin nicht in deiner Welt, Argonaut«, abermals sprach Lena die Bezeichnung voller Abscheu aus. »Und keiner ›nimmt mich an die Leine.‹« Sie wandte sich wieder zu Casey. »Hat dein Argonaut dir nicht erzählt, wie sie Frauen in seiner Welt behandeln?«
»Lena!«
»Du müsstest es doch wissen«, sagte Lena, die Nick nicht beachtete. »Wo du jetzt dort lebst.«
»Nick!«, rief Theron.
»Es ist ihr gutes Recht, ihre Meinung zu äußern«, sagte Nick. Inzwischen war die Luft geradezu testosterongeschwängert. Nick stellte sich dicht hinter Lena. »Besonders zu diesem Thema. Und wir beide wissen, dass sie recht hat.«
»Wovon redet ihr eigentlich?«, fragte Casey, deren violette Augen die Gruppe mit derselben Verärgerung absuchten, die auch Zander empfand.
Lena schmunzelte selbstzufrieden. »Männer in deren Welt«, erklärte sie und wies auf Theron und Zander, »können alles tun, was sie wollen. Aber Frauen? Für die gelten ganz andere Regeln.«
»Theron«, sagte Casey zaghaft. »Was meint sie?«
Therons Wangenmuskel zuckte deutlich, als er die Heilerin ansah. »Es ist eine archaische Tradition, die nicht mehr praktiziert wird. Die Reinigungszeremonie wurde seit Jahrhunderten nicht mehr durchgeführt.«
Reinigungszeremonie.
Zander merkte, dass er bleich wurde.
»Erzähl das der Frau, die mit Peitschennarben auf unserer Intensivstation liegt.«
Casey rang hörbar nach Atem.
Nun machte Lena einen Schritt auf Zander zu. »Mir ist egal, ob sie dich verschaukelt oder vor deinem ganzen Königreich zum Affen gemacht hat. Keine Frau verdient, ausgepeitscht zu werden wie ein Hund. Nicht für Untreue und erst recht nicht für etwas so Heiliges wie Leben zu schenken. Ich helfe dir, sie zu retten, aber danach rührst du sie nicht an. Nie wieder.«
Auf dem Korridor wurden Stimmen lauter, während Zander beobachtete, wie die Heilerin den Gang hinunterging und in einer Tür verschwand. Er achtete kaum auf den Streit, der um ihn herum entbrannte, denn auf einmal pochte sein Pulsschlag in seinen Ohren und er hörte Callias Worte aus der Höhle. Worte, die er für Lügen hielt.
Ich habe die letzten zehn Jahre eine Reinigung durchlebt.
Nein. Nein, nein, nein!
Zanders Magen krampfte sich zusammen, und der Korridor wirbelte um ihn herum. Er brauchte Luft. Schnell. Er drehte sich um, griff nach der Wand, konnte aber keinen Stein fühlen. Fuchtelnd packte er den ersten Arm, den er erreichte. »Luft. Nach oben. Sofort.«
Die Stimmen um ihn herum lösten sich auf, und er fühlte Therons Hand, die sich um seinen Oberarm schloss. »Zander. Skata! Du siehst nicht gut aus.«
»Luft!«, brüllte er. Sahen sie denn nicht, dass er nicht atmen konnte?
»Nick!«, rief Theron.
»Den Gang runter. Am Ende ist eine Treppe, die führt nach oben. Aber …«
Zander wartete den Rest nicht ab. Auch wenn er sekündlich schwächer wurde, bewegten sich seine Beine, als hinge sein Leben davon ab.
Irgendwie schaffte er es bis an die Oberfläche, stieß die schweren Türen auf und stolperte hinaus auf den Felsüberhang einer großen Schlucht.
Die Türen hinter ihm schlossen sich leise klappend, während er keuchend nach Luft japste. Kiesel knirschten unter seinen Füßen, fielen über den Felsvorsprung und hinab auf den Grund des Canyons, der mindestens eine Meile tiefer lag. Dort mäanderte ein Fluss wie eine sich windende Schlange. Weiter vorn rechts ragten die Berge auf, bedeckt von dichtem Unterholz und spindeldürren Kiefern. Zander nahm die Schönheit der Umgebung nicht wahr, wie er eigentlich überhaupt nichts sah oder hörte als Callias Gesicht, Callias Schreie, Callias Schmerz.
Oh Götter, was hatte er getan?
Er sank auf die Knie, als ihm alles vor den Augen verschwamm. Steine und Zweige piekten ihm in seine Schienbeine und die nackten Füße, was er ebenso wenig mitbekam, weil seine Gedanken zehn Jahre zurück und meilenweit weg waren.
»Verdammte Hera.«
Die Stimme, weiblich und älter, überraschte Zander eigentlich nicht, wie auch? In diesem Moment, in dem nichts in seinem unendlichen Leben mehr von Bedeutung war, ausgenommen die Tatsache, wie gründlich er es vermasselt hatte. Er drehte den Kopf zu einer Gruppe von Findlingen, bei der eine zierliche Frau stand, die ganz in durchsichtiges Weiß gekleidet auf einem der Felsen hockte und auf ihn hinabsah. Ihr Haar war bleich, die Züge scharf, die Haut faltig und dennoch leuchtend. Sie strömte pure Energie aus, jene Sorte Kraft, die er nie besessen hatte, und er wusste sofort, wer sie war.
»Lachesis.«
Sie zog eine Braue hoch. »Warum in aller Welt hältst du mich nicht für Atropos?«
In dem Versuch, trotz aller Schmerzen noch zu atmen und zu denken, blickte er hinab auf die Kiesel. »Atropos würde ihre Zeit nicht an mich verschwenden.«
»Warum nicht?«
Hierauf konnte er nicht antworten. In seinem Kopf rasten die die Gedanken, spielten sämtliche Gespräche noch einmal ab, jeden Moment seit dem Tag, an dem Callia ihm erzählte, dass sie schwanger war.
»Weil du nicht getötet werden kannst?«, fragte die Parze.
Schweigen. Eine knappe Sekunde lang glaubte er, sich alles nur einzubilden, bis sie leise sagte: »Du bist nicht unsterblich, Wächter.«
Lachesis rutschte von dem Findling und stellte sich vor ihn. Grellrosa Pantoffeln lugten unter ihrer fließenden Robe hervor, die lächerlich und zugleich ernüchternd echt aussahen. Wie sein Leben. »Du hast recht. Ich kann deinen Lebensfaden nicht einfach durchschneiden. Ich kann ihn nur spinnen. Aber nicht einmal ich kann sehen, wie lang er wird. Das hängt von zweierlei ab: von ihr und davon, was du jetzt tust.«
Zander hob vorsichtig seinen Kopf, und als die Worte der Parze allmählich bis in seinen Verstand vordrangen, fügten sich eine Menge Einzelteile in eins. Er wäre vielleicht gelähmt gewesen, hätte Callia jene Kugel nicht entfernt. Doch er wusste schon, als er wieder zu sich kam, dass sein Körper an der Heilung arbeitete. Ungeachtet der Umstände, wäre er in der Höhle nicht gestorben. Das einzige andere Mal, dass er sich dem Tode nahe gefühlt hatte, war zehn Jahre her. Da war er allein zu Hause gewesen, unverletzt, und Callia im Menschenreich.
»Sie ist meine Schwäche«, flüsterte er.
Lachesis kniete vor ihm, und obwohl sie ihn nicht berührte, fühlte er die Hitze ihrer Hand, die neben seiner Wange schwebte. »Ein Herz ist nie eine Schwäche, Wächter. Es ist eine Gabe. Ein Segen, den nicht einmal Hera dir versagen kann. Viele Wächter aus deiner Linie hätten sich solch einen Schatz gewünscht. Deine Verwundbarkeit ist nichts, wovor man sich fürchten muss. Sie sollte gewürdigt werden.«
Er schloss die Augen, weil sein Schmerz ihn überkam. Was für ein Schmerz! Und alles wegen ihm? »Ich habe sie verletzt.«
»Ja«, sagte sie leise.
»Wenn ich daran denke, was sie durchgemacht hat …«
»Sie ist stark, stärker als du denkst oder ihr Vater denkt. Es gibt immer noch ungezügelte Kraft in ihr. Die Dinge sind nie schwarz oder weiß, wie sie scheinen. Manchmal befeuert Schmerz unser Los.«
Bei der Erwähnung von Callias Vater kochte die Wut in Zander wieder hoch. Er blickte zur Parze. »Warum bist du nicht früher zu mir gekommen? Wieso jetzt, nach zehn Jahren, wenn sie stirbt?«
Lachesis seufzte, richtete sich auf, und obwohl sie nicht einmal einen Meter sechzig groß war, schien sie über ihm zu sein. »Weil es nicht so simpel ist, Wächter.«
»Und wie ist es dann?«
»Ich kann dir nichts sagen, was du nicht schon weißt. Sehr wohl aber kann ich dir sagen, welche Wahl du hast. Es gibt keinen Stillstand im Leben. Der Verlauf indes hängt ganz von den Entscheidungen ab, die du triffst.«
»Und welche Wahl habe ich?«, fragte er, wobei er seine Füße vorschob, so dass die Spitzen zum Eingang der Kolonie wiesen. »Sie stirbt dort drinnen, und alles nur wegen mir. Alles wegen …«
Ihm ging die Luft aus, jedweder Ansporn war fort, obwohl er sich dagegen sträubte. Er wehrte sich mit aller Kraft, aber er war nicht stark genug, es aufzuhalten. So wie er nicht die Kraft gehabt hatte, irgendwas von dem zu verhindern, was geschehen war.
»… mir.«
»Ja«, flüsterte Lachesis, die näher kam. »Ich würde dir den Schmerz nehmen, wenn ich könnte, aber das kann ich nicht.« Ihre Arme schlangen sich um ihn, ohne dass er sie richtig spürte; trotzdem legte sie ihn behutsam auf den Felsboden. »Nutze ihn, Zander. Nutze den Schmerz und den Grund, nach dem du seit über achthundert Jahren suchst. Gib ihr einen Grund zu leben. Die Geschichte ihres Lebens und deines endet nicht, es sei denn, du lässt sie enden.«
Zander blickte an Lachesis vorbei zum Klippenrand und der Schlucht dahinter. Vor Tagen hatte er an einer ganz ähnlichen Klippe gestanden und sich den Tod herbeigesehnt. Aber jetzt? Jetzt ging es nicht mehr um ihn. Ihm war gleich, ob er lebte oder starb, doch Callia durfte nicht sterben. Nicht nachdem er erfahren hatte, was sie seinetwegen durchgemacht hatte. Und erst recht nicht, bevor er die Chance hatte, alles richtigzustellen.
Als er wieder zu Lachesis sah, gingen ihm lauter Fragen und Vermutungen durch den Kopf, die er klären musste. »Sie hat einen Sohn geboren.«
»Ja.«
»Und ihr Vater wusste es.«
»Ja.«
»All die Jahre hat keiner ein Wort gesagt.«
Einen Moment lang wirkte die Parze unsicher. »Die Dinge sind nicht immer, was sie scheinen. Ein Netz von Täuschungen spinnen diejenigen am besten, denen wir am meisten vertrauen.«
Ihre kryptischen Worte halfen ihm nicht weiter.
»Die Wahrheit wird beizeiten ans Licht kommen. Zuerst jedoch musst du sie heilen.«
Er atmete tief durch. Ihm war klar, dass sie recht hatte. Mit Lenas Hilfe könnte er es schaffen. Er konnte Callia so wütend machen, dass sie ihre Kräfte bündelte und gegen die Infektion kämpfte. Auf die Weise würde er wenigstens einen Teil dieses entsetzlichen Schlamassels wiedergutmachen. Und danach …
»Und danach ist nichts garantiert«, sagte Lachesis, die über dem Findling schwebte, auf dem sie vorhin gesessen hatte. Hinter ihr flirrte die Luft, und sie verblasste.
»Warte«, sagte er und streckte eine Hand aus.
»Der Faden ist dünn, Krieger.« Sie wurde immer blasser. »Deiner, ihrer, der des Sprösslings. Und er wird stündlich dünner. Die Zukunft hängt an der Gegenwart. Vergiss nie, dass sie die Konstante ist.«
Dann war sie fort.