Fünfzehntes Kapitel

Die Realität war eine komische Sache. Callia lag da, starrte an die Decke und versuchte, die Bilder in ihrem Kopf zusammenzufügen. Sie wusste, dass der Dämon sie schwer verletzt hatte, nur waren die Einzelheiten des Angriffs schemenhaft und wirr. Sie wusste außerdem, dass sie in einem Schlafzimmer lag, keinem Krankenhaus, und dass das Bett weich war, der Raum hübsch und sie anscheinend hinreichend erholt, dass sie keine größere medizinische Behandlung mehr brauchte. Allerdings war sie nicht sicher, wie das möglich war oder wer ihre wundersame Heilung herbeigeführt hatte. Und sie hatte keinen Schimmer, wo sie war.

Frustriert, weil ihr Gedächtnis nur Bildfetzen lieferte, setzte sie sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. Beim Aufstehen stellte sie fest, dass sie noch sehr geschwächt war, und musste sich an der Matratze abstützen. Das rosa Krankenhausnachthemd reichte ihr bis zu den Knien, und ihre nackten Füße versanken im dicken, cremeweißen Teppich. Eine Locke fiel ihr ins Gesicht, und Callia strich sie nach hinten. Zum Glück hatte ihr jemand die Haare gewaschen. Der Gedanke, was da drin gewesen war …

Denk nicht daran!

Sie schlurfte zu einem kleinen runden Fenster. An der Felswand legte sie eine Hand auf das Glas und blickte hinaus in die Dunkelheit. Sterne waren zu sehen, sonst nichts, keine Erde, keine Bäume, keine Berge, nichts.

Hinter ihr quietschte die Tür, und sie drehte sich um.

»Du bist wach.« Zander kam herein und runzelte die Stirn. »Darfst du schon aufstehen?« Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, war er mit drei großen Schritten bei ihr. »Du siehst blass aus.«

Das glaubte sie gern, schließlich hatte sie viel Blut verloren. Was machte er hier?

Seine grauen Augen musterten ihr Gesicht ein bisschen zu gründlich. »Wie fühlst du dich?«

Wie sie sich fühlte? Durcheinander. Verwundert. Und nicht ganz sicher, ob sie gleich ohnmächtig wurde. »Was … tust du hier?«

Er hob ihr Kinn mit zwei Fingern an und betrachtete sie immer noch, als wäre sie ein wissenschaftliches Experiment. »Deine Augen sehen gut aus. Viel besser als vorher.« Seine Brauen zogen sich zusammen. »Möchtest du etwas essen? Ich wette, du bist am Verhungern. Vorhin haben sie dir Essen gebracht, aber da hast du noch geschlafen.« Er wandte den Kopf zur Tür. »Ich könnte dir etwas holen, wenn …«

»Essen raufgebracht? Moment mal.« Das letzte Mal, dass sie ihn gesehen hatte, in der Höhle, hatten sie sich furchtbar gestritten. »Zander, was zur Hölle ist hier los?«

Es klopfte, und beide blickten zur Tür. Zander rief, »Herein.«

Eine Frau mit einem dunklen Pferdeschwanz betrat das Zimmer. Sie trug eine schwarze Hose und einen Pulli. Callia entging nicht, dass sie Zander einen vorsichtigen Blick zuwarf, ehe sie zu ihr sah. »Du bist auf.« Ihre Züge wurden ein klein wenig weicher. »Wie fühlst du dich?«

Die Stimme kam Callia bekannt vor. »Ähm, besser.«

»Das ist schön.« Wieder blickte die Frau zu Zander.

Es herrschte eine merkwürdige Spannung im Raum, und die Feindseligkeit zwischen Zander und dieser Frau war kaum zu übersehen. »Ich gehe kurz raus, damit du sie untersuchen kannst«, sagte Zander, allerdings zu Callia gewandt.

Von der Frau kam ein knappes »Gut.«

»Ich bin gleich draußen, falls du mich brauchst.«

Die Tür klickte hinter ihm ins Schloss. Und in der Stille, die nun folgte, wusste Callia nicht, was sie sagen sollte.

»Setz dich doch bitte hier aufs Bett«, sagte die Frau.

Ihr Herz schlug schneller als zuvor, stellte Callia fest, die langsam zum Bett ging.

»Ich bin Lena«, stellte die Frau sich vor, während sie Callias Kinn anhob und ihr mit einer Stablampe in die Augen leuchtete. »Wir sind noch nicht miteinander bekanntgemacht worden.«

»Deine Stimme habe ich schon mal gehört.«

Lena lächelte. Sie war hübsch, nicht atemberaubend, nicht schön, aber hübsch, vor allem wenn sie lächelte. Ihre braunen Augen funkelten dann beinahe. »Sollte sie auch. Wir haben in den letzten Tagen recht viel Zeit zusammen verbracht. Ich bin eine Heilerin. Weißt du, wo du bist?«

»Ähm … Du bist keine Argoleanerin.«

Lena steckte ihre Stablampe ein und tastete Callia den Hals und das Schlüsselbein ab. »Nein, ich bin eine Misos. Und du bist …«

»In der Halbblutkolonie«, hauchte Callia, als plötzlich alles einen Sinn ergab. »Du bist eine Heilerin? Hast du mich behandelt?«

»Ja und nein.«

Lena musste ihr ihre Verwirrung angesehen haben, denn wieder lächelte sie. »Meine Kräfte reichen nicht annähernd aus, so zu heilen.« Sie musterte Callias Haut. »Das ist verblüffend. Du wirst nichts als eine dünne helle Linie behalten. Wahrscheinlich sehen andere sie nicht mal. Stell dir vor, was wir tun könnten, wenn wir unsere Kräfte häufiger vereinen.«

Callia strich mit den Fingern über die kleinste Narbe. »Warte mal. Du meinst, ich habe das gemacht?«

»Du hast geholfen«, bestätigte Lena. »Sogar erheblich. Aber ich bin nicht bereit, dir die ganzen Lorbeeren zu überlassen.« Sie öffnete den Schulterverschluss von Callias Nachthemd. »Jetzt sehen wir uns deinen Bauch an. Leg dich bitte hin.«

Callia lehnte sich auf das Bett zurück und ließ sich das Nachthemd herunterziehen, damit die Frau ihre Bauchwunden begutachten konnte »Wow, die heilen genauso gut! In ein paar Tagen ist nichts mehr zu sehen.«

Auf die Ellbogen gestützt, sah Callia ebenfalls hin. Zwei schmale rosa Linien zeichneten ihren Bauch in einem Abwärtswinkel zu ihrer rechten Hüfte. Die Heilerin hatte recht: Sie wären bald verschwunden.

Ihre Gedanken kehrten zur Hütte zurück, zu dem scheußlichen Dämon, dessen Klauen ihr in Bauch und Brust schnitten. Da war so viel Blut gewesen. Sie hatte gewusst, dass ihr nur Minuten blieben, bis sie verblutete. »Wie bin ich hierhergekommen?«

Lena half ihr, sich wieder aufzusetzen und zog das Nachthemd hoch, so dass Callias Brüste bedeckt waren, und öffnete es hinten. »Zwei Wächter haben dich hergebracht.«

»Zwei?«

Lena griff nach etwas hinter Callia. »Ja. Der eine hieß Titus und ist kurz danach wieder weg. Ich glaube, er ist zurück zu der Hütte, in der du gefunden wurdest, und hat alle Beweise vernichtet. Jetzt wird es kalt.«

Bevor Callia sich wappnen konnte, berührte ein kaltes, rundes Metallteil ihren Rücken. Sie zuckte zusammen, doch dann begriff sie, dass es ein Stethoskop war, und atmete automatisch tief ein.

»Gut«, sagte Lena. »Noch mal.« Sie bewegte das Stethoskop auf Callias Rücken, hörte sich ihre Lunge an und horchte anschließend auch Callias Brust ab. Zufrieden hängte sie sich das Stethoskop um den Hals und knöpfte Callias Nachthemd wieder zu. »Deine Lunge klingt super, und von der Infektion ist nichts mehr zu erkennen. Du bist wirklich ein medizinisches Wunder.« Sie strich Callias Haar zur Seite. »Das ist allerdings ein interessantes Mal hier in deinem Nacken.« Dabei tippte sie auf den Haaransatz. »Ein Geburtsmal?«

»Ich weiß nicht. Ich habe noch nie …«

»Es sieht fast wie ein Omega aus.«

Callia interessierte das alles nicht, solange sie noch rätselte, wer sie gefunden und hergebracht hatte. »Wer war es?«

Lena ließ Callias Haar los und stellte sich vor sie. »Wer war was?«

»Der andere Wächter«, sagte Callia gereizt. »Du hast gesagt, es waren zwei.«

»Ach so.« Lena runzelte die Stirn, sah zur Tür und wieder zu Callia. »Der.«

Callias Herzschlag wurde schneller. »Warum … wieso ist er nicht mit Titus zusammen weggegangen?«

Lenas Züge verfinsterten sich noch mehr, und sie steckte die Hände in ihre Hosentaschen. »Das ist die Preisfrage, nicht? Er bleibt hier, obwohl es keine von uns will. Die letzten Tage ist er nie länger als zehn Minuten von deiner Seite gewichen, und er benimmt sich wie ein Kettenhund gegenüber jedem, der es wagt, sich dir zu nähern, mit Ausnahme von mir. Ich meine«, sie sah wieder zur Tür, »er hatte recht. Ich habe ihn anfangs gebraucht, um deine Heilung einzuleiten, aber seitdem nicht mehr. Ich kapier nicht, wieso er nicht verschwindet. Wenn du vielleicht …«

»Was meinst du, um meine Heilung einzuleiten?« Callias Puls rauschte in ihren Ohren, und ihre Brust wurde seltsam eng. »Lena, ich kann mich nicht selbst heilen. Das konnte ich noch nie.«

Mitgefühl schimmerte in Lenas braunen Augen. »Ich kenne keinen Heiler, der das kann, mich eingeschlossen. Und ich habe ihm auch nicht geglaubt, als er meinte, deine Kräfte wären übertragbar, aber er hatte recht. Ich schätze, in diesem Fall hat die Tatsache, dass du ihn hasst, für dich gearbeitet.«

Seltsame Erinnerungen, Bilder und Geräusche kamen ihr in den Sinn. Sie sah Rauch, Nebel, ein brennendes Licht, das aussah, als käme es von einem Schiff. Sie hörte rufende Stimmen, die sie anlockten, bekannte Stimmen aus vergangenen Tagen, nur konnte Callia sie nicht richtig zuordnen. Die Szene war friedlich, und sie entsann sich, dass sie hingehen wollte, einen unkontrollierbaren Drang verspürte, auf jenes Boot zu steigen und über das trübe Wasser in unbekannte Länder zu segeln. Aber im Hintergrund war eine andere Stimme, die beständig lauter wurde. Männlich. Zanders Stimme.

Ich habe dir nicht geglaubt. Nie habe ich dir geglaubt. Warum sollte ich? Ich habe dich verlassen. Hörst du mich, Callia? Ich ließ dich im Stich, als du mich am dringendsten gebraucht hast. Und ich sah nie wieder zurück.

Callia hatte einen Kloß im Hals. Die Worte waren real gewesen. Das war seine Stimme. Er hatte Gefühle in ihr geweckt, die sie über Jahre tief in sich vergraben hatte. Dieselben Gefühle, die er in der Höhle provozierte, indem er sie eine Lügnerin nannte.

Übertragbar.

»Er hat mich absichtlich wütend gemacht, damit ich meinen Schmerz auf ihn loslasse«, murmelte sie und starrte zur Tür. Gütige Götter, sie konnte tatsächlich ihre Kräfte übertragen. Der Moment mit Zander in der Höhle war kein Zufall gewesen.

»Ja«, sagte Lena. »Und es hat funktioniert. Da du den Großteil der Infektion aus dir gedrängt hast, konnte ich den Rest herausholen. Das erklärt auch die erstaunlichen Narben. Zusammen sind unsere Kräfte unglaublich. Ich wünschte nur …«

»Was?« Callia sah sie an.

»Ich wünschte nur, du hättest es gewusst, als du die anderen Narben bekamst; die auf deinem Rücken.«

Callia wurde eiskalt. Natürlich hatte Lena die Narben gesehen. Und Zander? »Du hast Zander nichts von denen erzählt, oder?«

»Nein.« Lena verschränkte die Arme vor der Brust. »Nicht direkt.«

»Und wie dann?«, fragte Callia und stand auf.

Lena nahm ihre Arme herunter. »Das ist doch eigentlich egal, findest du nicht? Wir beide wissen, dass er sie vorher schon gesehen hat.«

Oh nein! Callia stützte ihren Kopf in die Hände. Oh nein!

»Wieso regst du dich auf, dass er sie gesehen hat?«, fragte Lena verärgert. »Du hast sie seinetwegen.«

Callia rieb sich übers Gesicht. Oh Götter, er hatte gesehen, was sie immerzu sorgsam verbarg. Von den Narben zu wissen, war eine Sache, sie zu sehen, eine gänzlich andere. »Es war meine Entscheidung«, sagte sie leise. »Du kannst das nicht verstehen.«

»Nein, kann ich nicht.«

Hass und Verachtung spiegelten sich in den Zügen des Halbbluts. »Meine Mutter war Argoleanerin, wie du. Vor vierundachtzig Jahren wurde sie mit einem Ándras verheiratet, den sie nicht liebte. Ihre Eltern arrangierten die Ehe, weil sie schon hundert Jahre alt war und noch keinen Gefährten gefunden hatte. Sie bekam, nun ja, kalte Füße und rannte weg. Sie lief durch eines der geheimen Portale in den Aegis-Bergen und kam ins Menschenreich, wo sie meinem Vater begegnete, einem Menschen. Die beiden verliebten sich, und sie wurde mit mir schwanger. Aber Frauen in deinem Reich sind nirgends sicher, nicht einmal hier.«

Geheime Portale? Callia hatte sie für ein Märchen gehalten.

»Ihr Vater spürte sie auf«, erzählte Lena weiter. »Mein Pappous. Er fand sie und holte sie zurück. Und er ließ sie auspeitschen, genau wie dich. Sie nannten es ein Reinigungsritual, aber daran war nichts Reinigendes. Es war eine Bestrafung, sonst nichts, weil sie es gewagt hatte, sich gegen das zu stellen, was die Männer in deiner Welt für richtig erachten.«

Ihre harschen Worte trafen Callia, zumal sie keinerlei Zweifel an Lenas Geschichte hegte. Dennoch brannte ihr eine Frage auf der Zunge, deren Antwort sie bereits erahnte. »Was ist danach passiert?«

»Sie konnte wieder fliehen und kam zu meinem Vater zurück. Bald darauf wurde ich geboren.« Lena blickte hinab auf das Bett. »Sie waren unterwegs zu dieser Kolonie, als eine Gruppe Argoleaner sie aufspürte. Meine Mutter weigerte sich, mit ihnen zu gehen, es kam zu einem Kampf, und beide wurden getötet.«

Callia schloss die Augen und setzte sich. »Wie bist du …?«

»Nick und ein paar seiner Soldaten kamen dazu. Sie brachten mehrere von den Männern um. Die anderen rannten weg. Er nahm mich mit hierher, in die Kolonie, und eine Frau zog mich auf. Ich war noch keine zwei Jahre alt, trotzdem erinnere ich mich an ein paar Bilder von diesem Kampf. An meine Mutter. Und ich erinnere mich, dass sie genau solche Narben auf dem Rücken hatte wie du.«

Lena tat ihr unendlich leid, doch ihre eigene Situation war eine vollkommen andere. Sie schüttelte den Kopf und öffnete die Augen wieder. »Es tut mir leid, schrecklich leid, was deiner Familie geschehen ist. Das ist furchtbar. Aber du solltest wissen, dass so etwas in meiner Welt nicht normal ist.«

»Nicht normal?«, fragte Lena entgeistert. »Guck dir doch deinen Rücken an!«

»Nein, niemand hat mich aufgespürt oder gezwungen, mich zu fügen. So ist es nicht mehr.«

Feuer loderte in Lenas Augen, als sie auf die Tür wies. »Dieser sogenannte Wächter da draußen ist für deine Wundmale verantwortlich. Er ist hier, um dich wieder zurückzubringen. Das weißt du, nicht?«

»So ist es nicht. Er hat nicht …«

»Er hat. Ich habe die Schuld in seinem Blick gesehen. Ich sah, wie du reagiert hast, als er dir ins Ohr flüsterte. Und jetzt wartet er, bis du gesund genug bist, dass er dich zurückschleppen und noch einmal bestrafen kann. Tja, aber das lasse ich nicht zu. Du gehst hier nicht weg.«

»Er weiß von nichts, Lena«, unterbrach Callia sie und sprang auf. »Er weiß nicht, was mit mir passiert ist, weil ich es ihm nie erzählt habe. Es war meine Entscheidung.« Als Lena mit offenem Mund vor ihr stand, wurde Callia wieder leiser. »Begreifst du nicht? Ich hätte in der Menschenwelt bleiben können, aber ich entschied mich dagegen. Ich wollte nach Hause, zu meinem Vater. Die Reinigungszeremonie …« Sie hob die Hände und ließ sie gleich wieder sinken. »Sie wird nicht mehr praktiziert. Mein Vater ist einer der Zwölf und ich wurde einem künftigen Ältesten versprochen. Meine Beziehung mit Zander …« Sie sah zur Tür und schluckte, weil sie erneut einen Kloß im Hals hatte. »Ich habe meinen Vater verletzt, aber das wirst weder du noch sonst jemand je begreifen.«

Sie sah zu Lena. »Ich wusste von Anfang an, worauf ich mich einließ. Ich traf meine eigenen Entscheidungen. Zander hat seine Fehler, aber er ist nicht wie dein Pappous. Er würde nie willentlich einer Frau wehtun. Und hätte er gewusst, wie ich mich entschied, hätte er niemals erlaubt, dass das geschieht, egal wie er am Ende für mich empfand.«

»Warum dann?«, fragte Lena leise. »Warum hast du zugelassen, dass sie dir das antun?«

Callia senkte den Blick zu ihren Füßen, die fast in dem Teppich versanken. Was sollte sie antworten, das auch bloß einen Funken Sinn ergab? Sie hatte es nicht allein für ihren Vater gemacht, um sein Ansehen wiederherzustellen und seinen Namen im Rat reinzuwaschen. Auch nicht, damit sie am Ende doch noch Loukas heiraten konnte – dieser Gedanke war ihr nicht einmal gekommen. Teils war es für sie selbst gewesen. Ihre Kraft richtete sich ganz auf das Gleichgewicht, die Erhaltung der Ordnung im Körper, aber sie konnte sich nicht selbst heilen. Und so wahnwitzig es auch klingen mochte, physischer Schmerz konnte es. Er tat weh, aber er linderte die Seelenqualen und gab ihr etwas, auf das sie sich konzentrieren konnte. Und irgendwie war es eine Form der Wiedergutmachung gewesen.

»Weil«, sagte sie ruhig, »ich meine eigene Form von Frieden finden musste.« Wieder schüttelte sie den Kopf. »Ich weiß, dass du es nicht verstehen kannst, aber es war nicht seine Schuld. Nichts davon.«

Lena wirkte nach wie vor verständnislos, aber wenigstens lag keine Verachtung mehr in ihrem Blick, als sie Callia ansah. »Ich will dich nur beschützen. So bin ich eben.«

Callia hielt andere stets auf Distanz, weil sie gelernt hatte, Dinge für sich zu behalten, doch diese Frau konnte sie sich als Freundin vorstellen. »Das ist gut so, für eine Heilerin. Nur ist Zander nicht der Feind. Der war er nie.«

»Was ist er dann? Für dich?«

Diese Frage warf Callia aus der Bahn. Er war der Wächter, der ihre Welt auf den Kopf gestellt hatte. Der eine Mann, über den sie niemals hinweggekommen war. Und die Liebe ihres Lebens.

Diese Erkenntnis versetzte ihr einen Stich, weshalb sie den Gedanken sofort verdrängte. Hierin war sie mit den Jahren meisterhaft geworden. »Er ist Zander.«

Lena sah sie eine Weile lang ruhig an, dann seufzte sie: »Ich schätze, das heißt, ich soll bitte nett zu ihm sein.«

Unwillkürlich musste Callia schmunzeln. »Nett nicht unbedingt; nur nicht gemein.«

Lena rollte mit den Augen und ging zur Tür. »Nicht gemein. Zu einem Argonauten. Zwar widerstrebt es mir, doch ich sage ihm, dass er wieder reinkommen darf.« Sie blieb an der Tür stehen. »Ich hätte gern, dass du noch einen Tag bleibst und dich ausruhst. Aber du wirst sowieso tun, was du willst, egal was ich denke.«

»Danke.«

Lena zögerte. »Ich habe deine Welt lange Zeit abgelehnt, und ich bin noch nicht so weit, meine Haltung aufzugeben. Aber eventuell wäre ich bereit, eine andere Seite zu sehen. Vielleicht.« Sie öffnete die Tür. »Ich wünsche dir Glück, Callia.«

Hinter ihr fiel die Tür leise zu. Von draußen waren gedämpfte Stimmen zu hören, Lenas und Zanders. Was sie sagten, konnte Callia nicht verstehen, nur dass es eine kurze Unterhaltung war, bevor sich weiche Schritte entfernten.

Hunderte Fragen wirbelten Callia durch den Kopf, als sie auf dem Bett hockte und versuchte, diesem verrückten Tag einen Sinn abzugewinnen. Lena hatte gesagt, dass er ihr nicht von der Seite gewichen wäre, seit er sie herbrachte. War er jetzt auch fort? Ein kleiner Teil von ihr hoffte es. Ein weit größerer hoffte es nicht.

Götter, sie war völlig durcheinander.

Sie umklammerte die Bettkante und holte tief Luft, was ihren rasenden Puls leider nicht beruhigte. Ein leises Klopfen ließ sie aufschrecken. Erst beim zweiten Mal brachte sie ein »Herein« über die Lippen.