Achtzehntes Kapitel
»Wie ich sehe, hast du Freundinnen mitgebracht. Hübsch.«
Isadora drehte sich in die Richtung, aus der Orpheus’ Stimme kam. Er war ganz in Schwarz: schwarze Stiefel, schwarze Hose, schwarzer Pulli, schwarzer Trenchcoat. Und seine Augen waren ebenfalls tiefschwarz. Der Wind am Fuße des Mount Parnithia zurrte an seinem Mantel und seinem Haar und verlieh ihm erst recht ein eindrucksvolles, aber bedrohliches Aussehen. Und er wirkte bloß ein klein wenig gereizt, weil sie ihn hierher bestellt hatte.
»Mach dir keine falschen Hoffnungen, Orpheus. Sie sind tabu.«
Orpheus zog eine Braue hoch und blickte über sie hinweg zu Casey, die er unverhohlen musterte. »Bist du sicher? Die da sieht lecker aus.«
»Sie ist Therons Frau. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du dich mit ihm anlegen willst.«
»Deine Halbschwester?«, fragte Orpheus. »Na, das ist interessant. Und wer ist die Rothaarige?«
Isadora sah ebenfalls zu Callia, die bei den Bäumen stand und leise mit Casey redete. Sie beide waren ungefähr gleich groß, die eine schwarz-, die andere rothaarig, aber von sehr ähnlicher Statur. Selbst ihre Gestik und Mimik waren fast gleich. Wieso war es ihr nie aufgefallen? Und war es nicht bezeichnend, dass sie die eine von dreien war, die nicht reinpasste?
Sie verwarf den Gedanken. Da ihr alles noch zu frisch erschien, als dass sie Callia ihre Schwester nennen wollte, wusste sie nicht recht, was sie antworten sollte. Callia und sie waren sich nach wie vor spinnefeind. »Die Heilerin des Königs. Sie muss ins Menschenreich. Deshalb sind wir hier.«
Orpheus sah wieder Isadora an. »Wie seid ihr an den Burgwachen vorbeigekommen?«
Isadora verschränkte die Arme vor der Brust. »Bei der Ratsversammlung heute gab es einen kleinen Tumult. Da konnten wir ihnen entwischen.«
»Wir?«
»Wir drei.«
Er wurde misstrauisch. »Interessant.«
Isadora versuchte, seine Miene zu deuten, als er Callia betrachtete, konnte es aber nicht. Dafür regte sich ihre Eifersucht auf Callia.
Er ging um sie herum auf die anderen beiden zu. »Heute muss mein Glückstag sein. Drei hübsche Frauen und kein Argonaut weit und breit.«
Callia überhörte seine Bemerkung. »Isadora meint, du weißt, wo das geheime Portal ist.«
»Die Portale«, korrigierte er. »Es gibt mehrere. Und du, Heilerin, nimmst kein Blatt vor den Mund, was?«
»Nicht mehr. Wo sind sie?«
Er sah zu den Bergen. »Die Hexen, die hier leben, verlegen sie laufend, damit die Wachen sie nicht schließen können.«
»Prima«, sagte Callia. »Bring uns zu irgendeinem.«
»Nichts ist umsonst, meine Damen«, sagte er anzüglich. »Das hat seinen Preis.«
Callia wollte etwas sagen, doch Isadora kam ihr zuvor: »Setz es mit auf die Liste meiner Verbindlichkeiten.«
Ein anzügliches Grienen machte sich auf seinem Gesicht breit. »Ich habe noch nicht einmal die erste Rate kassiert, Prinzessin. Bist du dir sicher?«
Isadora bemerkte Callias perplexe Miene und dachte an ihren Vater, den König, der für all diese Probleme verantwortlich war. Sie dachte an Callias Sohn, an Zander und an das, was Callia bereits aufzugeben bereit gewesen war. Auch wenn Callia und Isadora sich nicht nahestanden, wäre es nicht fair, sollte sie auf dieselbe Weise in Orpheus’ Schuld stehen wie Isadora. Vor allem nicht, weil sie in dieser ganzen verfahrenen Geschichte zu den Opfern zählte.
»Ja«, sagte Isadora, ehe sie es sich anders überlegen konnte.
»Isadora!«, hauchte Casey entsetzt.
Orpheus schnalzte mit der Zunge. »Okay, Isa, in dem Fall …«
»Moment!« Callia kam auf sie zu. »Was für eine Bezahlung meint er?«
»Es ist nichts«, antwortete Isadora und drehte sich zu Orpheus. »Das geheime Portal. Bring uns zu dem, das am nächsten liegt.«
Orpheus’ Augen wanderten die drei Frauen ab, bis er letztlich achselzuckend in östliche Richtung stapfte, ohne ein Wort zu sagen. Als Isadora ihm folgen wollte, versperrte Callia ihr den Weg. »Warte mal. Du musst nichts für mich bezahlen.«
Isadora atmete langsam aus. »Ich weiß ja, dass du wahnsinnig wütend auf Zander bist, aber lass es nicht an mir aus. Orpheus und ich haben, nun ja, eine Vereinbarung.«
»Was für eine Vereinbarung?«
»Eine, die dich nichts angeht.«
»Isadora!«
Isadora verlor jetzt ernsthaft die Geduld. »Willst du wirklich mit mir streiten, oder willst du ins Menschenreich und deinen Sohn suchen? Denn was du hier machst, vergeudet nur Zeit.«
»Ich brauche dein Mitleid nicht«, erwiderte Callia.
»Keine Sorge, ich mache das nicht für dich, sondern für deinen Sohn. Und für Zander. Und weil es den Rat maßlos ärgern dürfte, dass ich dir helfe. Im Moment genieße ich es schlicht, für Aufruhr zu sorgen.«
Callia sah sie nachdenklich an, und zum ersten Mal fiel Isadora auf, dass sie die gleichen violetten Augen hatte wie Casey und der König – ganz anders als ihre.
»Du hast dich verändert«, stellte Callia fest.
»Du ahnst nicht, wie sehr.«
»Meine Damen«, rief Orpheus von den Bäumen aus. »Entweder gehen wir jetzt, oder wir verpassen das Portal. Ich scherzte nicht, als ich sagte, sie würden dauernd verlegt.«
Callias Blick verharrte noch kurz bei Isadora, ehe sie sich umdrehte und Casey in den Wald folgte. Sie waren ungefähr zwanzig Minuten gegangen, als sie eine kleine Zeltstadt erreichten. Orpheus lief ihnen voraus zu einer Frau, die auf einem Hocker vor einen neongrünen Zelt saß. Sie stand auf, als er auf sie zukam. Die Frau trug einen langen, weiten roten Rock, einen weißen Pullover und einen lila Schal um den Hals. Sie begrüßte Orpheus wie einen alten Freund mit einem Armtätscheln und einem Lächeln.
Die beiden unterhielten sich einige Minuten lang, dann wies Orpheus in ihre Richtung, und die Frau sah zu ihnen hinüber. Langes, schneeweißes Haar wellte sich über ihren Schultern, und ihre gerunzelte Stirn verriet, dass sie nicht begeistert war.
Als sie näher zu ihnen gingen, fixierte die Hexe Callia. »Die Töchter des Königs kenne ich, aber die nicht.«
»Ich …«
»Sie ist die Heilerin des Königs«, fiel Isadora ihr ins Wort.
»Mehr als eine Heilerin«, sagte die Hexe und trat auf Callia zu. »Warum wünschst du ins Menschenreich zu gehen? Dort lauert Gefahr, wie du wohl weißt. Du selbst hast sie erlebt. Suchst du etwas von Wert? Ist persönlicher Gewinn dein Streben? Macht? Seid ihr drei deshalb heute hergekommen?« Sie musterte die drei Frauen. »Erwartet ihr, dass ich euch zu diesem Ziel verhelfe? Was ihr nicht versteht, kann nicht …«
Isadora wurde ärgerlich. »Sie will gar nicht …«
»Ich kann für mich selbst sprechen«, sagte Callia mit einem warnenden Seitenblick zu Isadora. »Ja, ich suche etwas von Wert. Meinen Sohn. Er wurde mir genommen, und ich muss ins Menschenreich, um ihn zu finden. Diese zwei«, sie nickte zu Isadora und Casey, »boten mir ihre Hilfe an. Aber falls das für dich kein überzeugender Grund ist, sei es drum.« Sie sah zu Orpheus. »Du hast gesagt, dass es mehrere geheime Portale gibt, stimmt’s?«
»Ähm, ja«, antwortete Orpheus.
»Prima. Dann bring mich zum nächsten.«
Orpheus schwieg kurz, dann redete er mit der Hexe in einer Sprache, die Isadora nicht verstand. Es handelte sich eindeutig nicht um Altargoleanisch.
Während sie zuhörte, sah die Hexe die drei Frauen an, und etwas an ihrer Miene veränderte sich. Schließlich antwortete sie Orpheus, doch bevor Isadora fragen konnte, was vor sich ging, trat die Hexe vor und hielt ihre Hände in die Höhe.
»Ich binde euch, ihr Stunden, euch oder anderen kein Leid zuzufügen.« Dann schloss sie die Augen und stimmte einen Singsang an. »Himmlische Göttin, bring mir die Kraft, die mit jeder verrinnenden Stunde wächst. Gib mir die Herrschaft zurück. Es geschehe, was ich will.« Sie öffnete die Augen wieder und nahm die Hände herunter. »Ihr könnt hindurchgehen. Isis!«, rief sie hinter sich.
Eine Frau mit roter Stachelfrisur, in Leggings, einer Army-Jacke und Wanderstiefeln, steckte ihren Kopf aus dem Zelt hinter der Hexe. »Ja?«
»Diese drei müssen sicher durchs Portal. Bring sie rüber.«
Isis krabbelte aus dem Zelt und beäugte die drei Frauen. »Sicher?«
»Isis!«
»Ja, ja«, stöhnte Isis und winkte ihnen. »Dann beeilt euch. Diese Dinge warten auf keine, und ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, klar?«
Casey und Callia tauschten verwunderte Blicke, gehorchten aber der zweiten Hexe. Die erste wandte sich um und folgte ihnen. Als Orpheus ihnen hinterherwollte, hielt Isadora ihn zurück. »Was war das eben?«
»Was denn, Isa? Sprichst du kein Medeanisch?«
»Treib keine Spielchen mit mir, Orpheus. Sie nannte uns die Stunden. Ich hatte recht mit den Horen, oder? Und was sollte dieser Binde-Kram?«
Orpheus blickte sich um, ob sie beobachtet wurden, dann griff er nach unten und tippte an ihren Schenkel, wo das Mal war. »Ich habe dir doch gesagt, was du da hast, ist eine mächtige Waffe«, flüsterte er.
Sie musste an sich halten, dass sie nicht vor Ekel ob seiner intimen Berührung zurückwich. Irgendwann müsste sie ihre Schuld bei ihm begleichen, aber zum Glück nicht heute. »Und das macht ihr Angst?«
»Ja. Weil sie weiß, was du damit tun kannst, wenn du willst.«
»Und das wäre?«
Ein müdes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Ach, Isa, glaubst du allen Ernstes, dass ich gleich alle Karten auf den Tisch lege? Bevor du mir gegeben hast, was ich will?«
Mit einiger Mühe bewahrte sie Ruhe. Für Orpheus war alles ein Spiel. Aber zumindest bestätigte er ihre Vermutung. Callia, ihre Halbschwester, Casey und sie waren miteinander verbunden. Blieb die Frage, was das zu bedeuten hatte.
»Nein, Orpheus. Ich glaube nicht, dass du jemals für irgendjemanden irgendetwas tun würdest, außer für dich selbst.«
Sie drehte sich um und wollte den anderen folgen, doch nun war er es, der sie zurückhielt. Er wirkte kein bisschen amüsiert mehr. »Sei vorsichtig im Menschenreich, Isa. Es gibt dort Böses, das du dir nicht einmal ausmalen kannst. Und du bist besonders gefährdet, tausendfach.«
»Willst du mir Angst machen?«
»Ja. Und du tätest gut daran, welche zu haben. Auch wenn ich dich trainiert habe, sind deine neuen Kräfte unberechenbar. Vor allem zusammen mit jenen beiden.« Er nickte zum Zelt, in dem Casey und Callia bereits verschwunden waren. »Denke nicht, dass diese sogenannte Waffe euch beschützen kann.«
»Aufgepasst, Orpheus, sonst bilde ich mir noch ein, dass es dich interessiert, was mit mir geschieht.«
»Tut es. Ich habe mir ein Anrecht auf dich erworben«, konterte er streng. »Und wenn jemand einen Handel mit mir vereinbart, will ich auch bekommen, was mir zusteht.«
Er sah ihr in die Augen, bis sie schreien wollte. Und die ganze Zeit hielt er ihren Arm, so dass sie zu schwitzen begann und gegen ihren Drang ankämpfen musste, sich von ihm loszureißen. Furcht und Zweifel regten sich in ihr, und nicht zum ersten Mal stellte sie die Vision infrage, in der er sie rettete. Es war die letzte, die sie gehabt hatte, bevor sie ihre Gabe einbüßte. Die kleine Stimme, die in ihrem Hinterkopf Teufel! rief, wurde mit jedem Tag lauter.
Endlich ließ er sie los, hielt jedoch den Augenkontakt. Und die Warnung, die sie in seinem Blick erkannte, machte sie frösteln. »Geh lieber, ehe sich die anderen wundern. Aber keine Sorge, Isa. Ich warte auf dich, wenn du wiederkommst.«
Sie waren vierundzwanzig Stunden durchgefahren und hatten nur zum Tanken angehalten.
In Vancouver lieferte Jeb die Ladung ab, die er aus Alaska brachte, und lud neue auf. Er hatte Max nicht haufenweise Fragen gestellt, und es war ihm auch gleich, dass Max beim Ladungswechsel außer Sichtweite blieb. Zuerst war es Max komisch vorgekommen. Was für ein Mann wunderte sich nicht über einen unbegleiteten Zehnjährigen? Dann beschloss er, dass Jebs Desinteresse günstig für ihn war. Vielleicht gelang ihm diese Flucht wirklich.
Sie waren wieder unterwegs, weiter Richtung Süden. An der Grenze versteckte Max sich in der Kabine hinterm Fahrersitz, bis sie durch den Zoll waren. Nicht dass er wüsste, wo das Problem war, aber Jeb sagte ihm, er solle entweder nach hinten kriechen oder aussteigen, also tat er es.
Jeb war mürrisch, aber harmlos, befand Max. Ein gutes Stück hinter Seattle hatte er endlich etwas entspannt und war eingenickt. Er war nicht sicher, wie lange er geschlafen hatte, ein paar Stunden oder mehr, aber als er wieder aufwachte, war er mit einer Jacke zugedeckt, und der Wagen stand.
Er setzte sich verwirrt auf, wobei ihm die Jacke von den Schultern rutschte. Sogleich trieb ihm Angst Schweißperlen auf die Stirn. Egal wie weit sie gefahren sein mochten, es konnte gar nicht weit genug sein. Max rieb sich die Augen und sah durch die große Windschutzscheibe. Wie er feststellte, waren sie an einer Art Raststätte für Lastwagen. Grelle Lichter schienen von dem Lokal bis ins Führerhaus, und draußen war Jeb, der mit einer Frau in mittleren Jahren sprach. Sie trug Schneestiefel, eine dicke Winterjacke und eine Mütze, die ihr graues Haar größtenteils verdeckte.
Jeb gab der Frau irgendetwas – Geld? – winkte und stapfte zum Truck zurück. Die Frau drehte sich um und ging in das kleine Gebäude.
Knarrend öffnete sich die Fahrertür, und Jeb zog sich nach oben in das riesige Gefährt. Er warf Max einen kurzen Blick zu, zog sich seine Jacke aus und stopfte sie in den Raum hinter seinem Sitz. »Dachte schon, du bist weggestorben, Junge. Du warst sieben Stunden ausgeknipst.«
Sieben Stunden? Max neigte sich zur Frontscheibe, um besser sehen zu können. Der Abend dämmerte, trotzdem war deutlich, dass die Landschaft hier anders war als in der Gegend um Seattle. Dichte Kiefern und Tannen umgaben sie, eine dünne Schneeschicht bedeckte den Boden, und nirgends waren Stadtlichter zu sehen. »Wo sind wir?«
»Gleich hinter Mount Hood, etwa achtzig Meilen nördlich von Bend, Oregon. Bei Government Camp sind wir in dichten Schnee gekommen, deshalb musste ich die Ketten anlegen. Hätte gedacht, das weckt dich auf, aber nix. Du schläfst wie’n Toter, Junge.«
Max hörte kaum mehr hin, als Jeb weiterbrabbelte. Sie waren in Oregon, und er wusste aus den Unterhaltungen, die er mitgehört hatte, dass es irgendwo in den Bergen von Oregon eine Halbblutkolonie gab. Die Halbblute überlisteten Atalanta und ihre Dämonen immer wieder, was bedeutete, dass er fast in Sicherheit sein könnte.
Jeb ließ den Motor an, und der riesige Lastwagen vibrierte los. Als er den Gang einlegte, sagte Max: »Hast du keinen Hunger? Ich schon, und wie. Können wir ein bisschen länger halten, damit ich mir was zu essen holen kann?«
Jeb fuhr den Truck hinter die Raststätte statt zurück auf die Straße. »Ich hab schon gegessen. Maggie lässt uns hier parken, also hau ich mich aufs Ohr. Geh du ruhig rein und futter was, wenn du willst. Sie hat Elcheintopf gemacht, das Beste, was ich je gekriegt habe, seit mein Pappy mir meine erste Dose Copenhagen-Schnupftabak geschenkt hat.«
Sie hielten an? Wirklich? Und Jeb wollte schlafen? Leichter konnte es gar nicht sein, oder? Max versuchte, nicht zu strahlen, und setzte sich auf. »Ja, cool. Ich bin so hungrig, ich könnte einen Bären essen.«
Jeb stellte den Motor ab, warf die Schlüssel auf die Ablage zwischen ihren Sitzen und sah ihn mit einem »Was ist denn in dich gefahren?«-Blick an. »Seit du im meinen Wagen gestiegen bist, hast du keine fünf Wörter geredet. Was hast du denn auf einmal für Hummeln im Hintern?«
»Ich? Keine.«
Jeb musterte ihn prüfend. »Du hast doch nicht vor, wegzurennen, oder? In den Wäldern hier draußen treibt sich ein übles Pack rum, musst du wissen. Und wenn dir sonst nix passiert, erfrierst du.«
»Wegrennen?«, wiederholte Max und winkte ab. »Wo soll ich denn hin?« Er griff nach dem Türhebel, ehe Jeb ihn zurückhalten konnte. »Ich lass dich schlafen und geh was essen. Danke, Jeb.«
Jeb schnaubte. »Okay, aber lauf nicht zu weit weg. In zwei Stunden fahren wir weiter. Ich muss meinen Zeitplan halten.«
Max nickte und sprang aus dem Wagen. »Zwei Stunden, alles klar.«
Jeb lehnte sich schon auf seinem Sitz zurück und zog sich die Mütze übers Gesicht, als Max die Beifahrertür zuschlug. Die Kälte biss ihm in die Haut, trotzdem holte er auf dem Parkplatz hinter dem Truck Stop erst einmal tief Luft und atmete Freiheit ein. Er hätte nie gedacht, dass er es so weit schaffen würde, und konnte sein Glück kaum fassen. Zwar war er noch nicht ganz frei, aber sowie er etwas gegessen hatte, würde er sich eine Landkarte organisieren und überlegen, wohin er von hier aus lief.
Die Scheibe an seiner Brust wärmte ihn, und lächelnd ging er auf das Lokal zu. Hinter dem Fenster bewegte sich ein Schatten. Beim Näherkommen stellte Max fest, dass es die Frau war, die er mit Jeb gesehen hatte: Maggie. Sie winkte ihm zu, und prompt knurrte sein Magen.
Er war beinahe bei der Hintertür, als er den Schrei hörte. Ein markerschütternder Schrei, bei dem er sofort erstarrte und sein Herz zu rasen begann.
Aus dem Hausinnern drang ein lautes Brüllen, und etwas krachte an die Tür. Max sprang zurück. Dann wurde es still.
Lauf weg. Schnell!
Er machte kehrt und rannte zum Truck. So undenkbar es schien, dass die Dämonen ihn schon aufgespürt hatten, sagten ihm die rapide fallenden Temperaturen das Gegenteil. Sie waren hier.
»Jeb!« Hör mich! Starte den Motor! Die Tür hinter ihm flog auf, dann ertönte ein scheußliches Brüllen. »Jeb!«
Zwanzig Schritte fehlten ihm bis zum Führerhaus des Trucks, als die Fahrertür aufging und Jeb heraussprang, sein Gesicht weiß wie Schnee. Er verkroch sich nicht wie andere Menschen in solch einer Situation, und so wie er die Monster hinter Max ansah, war es nicht seine erste Begegnung mit Dämonen. »Komm, Junge, renn!«
Max hatte keine Zeit, über das Wie oder Warum nachzudenken. So schnell er konnte, raste er auf den Truck zu, dass seine Arme und Beine flogen und sein Puls in den Ohren dröhnte.
»Renn!«, rief Jeb wieder und fuchtelte mit den Händen.
Als Max das hintere Ende des Sattelschleppers erreichte, wurde sein Bein von hinten gepackt. Er schlug der Länge nach hin. Schnee, Eis und Kiesel bohrten sich ihm in Gesicht und Hände. Hinter ihm knurrte der Dämon und riss an seinem Bein.
Angst stieg ihm bis in die Kehle, als Max seine Finger in den gefrorenen Boden grub und versuchte, Halt zu finden.
Dann hörte er wieder ein Brüllen, nur war das nicht von einem Dämon. Es kam von einem Menschen. Etwas Warmes, Flüssiges spritzte ihm über den Nacken; gleich darauf ließ der Dämon sein Bein los.
»Hoch mit dir!«, schrie Jeb.
Max’ Ohren schrillten, als er sich auf die Knie aufrichtete. Seine Hände und sein Gesicht waren voller Schmutz und Blut. Als er sich umdrehte, sah er Jeb, der ein Jagdmesser so lang wie sein Unterarm hielt. Der Dämon lag hinter ihm, und Blut quoll ihm aus einer Brustwunde.
»Hoch!«, brüllte Jeb wieder.
Max sprang auf die Füße.
»Los! Los!« Jeb griff nach Max’ Jacke und zerrte und schob ihn halb zur Führerkabine. An der Tür blickte Max sich noch einmal um. Er sah Jeb, der sein Messer in der zittrigen Hand hielt, während der Dämon sich zur vollen Größe aufrichtete und wütend auf ihn hinabfunkelte.
Max stieg in den Wagen. Drinnen lagen die Schlüssel auf der Mittelablage, wo Jeb sie hingeworfen hatte. Ja, er könnte den Wagen fahren. Und er könnte zumindest ein paar Dämonen plattmähen, solange er übte. Seine Hände zitterten, als er den richtigen Schlüssel fand und ins Zündschloss steckte.
»Du hast eine dämliche Entscheidung getroffen, Mensch«, knurrte der Dämon. »Genau wie das Halbblut drinnen. Der Junge gehört uns.«
Schlagartig war Max wie versteinert. Maggie war ein Halbblut?
»Ich habe hier ein Messer, das was anderes sagt.«
»Du hast keine Chance gegen mich, Mensch«, fauchte der Dämon.
»Tja, kann sein«, antwortete Jeb. »Aber ich mach’s dir ganz sicher nicht leicht. Der Junge hat keinem was getan.«
Max hielt inne. Er brauchte nichts weiter zu tun, als den Zündschlüssel umzudrehen, aufs Gas zu treten und loszufahren. Nie mehr zurückblicken. Aber etwas hielt ihn davon ab. Etwas mitten in seiner Brust, das schlimm wehtat und ihn nicht fahren lassen wollte.
Ich bin deine Menschlichkeit leid, Maximus. Töte oder werde getötet. Das ist die Welt, in der wir leben.
Nie zuvor hatten sich Atalantas Worte so wahr angefühlt. Wenn Max wegfuhr, würde der Dämon Jeb zerfetzen. Versuchte er, Jeb zu helfen, könnten sie vielleicht diesen einen überwältigen, nicht jedoch die anderen beiden, die binnen Minuten bei ihnen wären. Und es war unmöglich vorherzusagen, wie viele noch im Wald waren.
Die Metallscheibe brannte heiß auf seiner Brust, und er sah hinab zu den Zeichnungen auf seinen Händen. Was nutzte es, die Welt zu beherrschen, wenn man auf dem Weg dorthin sich selbst verlor?
Draußen knurrte der Dämon. Max ließ die Schlüssel los, drehte sich um und tastete im Stauraum hinter den Sitzen nach Jebs Werkzeugkasten. Der vierzig Zentimeter lange Schraubenzieher, den er herauskramte, schien eine brauchbare Waffe, oder wenigstens rechnete er nicht damit, eine bessere zu finden. Er warf die Fahrertür auf und sprang aus dem Truck.
Jeb war im Kreis um den Dämon herumgegangen, so dass nun keiner von beiden in Max’ Richtung sah. Als Jeb mit dem Messer ausholte, umfing Max den Schraubenzieher fester und schlich sich näher heran. Jebs Messer ritzte den Dämonenarm nur an, brachte ihn nicht einmal zum Bluten. Der Dämon lachte höhnisch auf und hieb mit seinen Krallen, die Jeb an der Brust und am Bauch erwischten.
Mit einem Aufschrei kippte Jeb nach hinten. Blut sickerte in sein Hemd, und im Fall fiel ihm das Messer aus der Hand und schlitterte meterweit über den gefrorenen Boden. Jeb versuchte, rückwärtszurobben, um an seine Waffe zu kommen, doch die war zu weit weg. Der Dämon beugte sich tief über ihn. »Ich habe dir ja gesagt, dass es eine dämliche Entscheidung war, Mensch. Grüß Hades von mir.«
Jebs Augen weiteten sich vor Entsetzen, als der Dämon seine rasiermesserscharfen Krallen hob.
Max sprang los. Weit ausholend, rammte er den Schraubenzieher tief in den Nacken des Dämons. Sofort schoss das Monster hoch, jaulend vor Schmerz, und warf Max von sich. Er landete unsanft auf dem überfrorenen Kies und rollte ein ganzes Stück weg. Der Dämon torkelte rückwärts, bis er seitlich gegen den Sattelzug stieß. Zitternd griff er nach dem Schraubendreher und zog.
Blut sprühte aus der Wunde wie aus einem Wasserschlauch. Es war offensichtlich, dass der Schraubenzieher die Halsschlagader getroffen hatte. Der Dämon sank auf die Knie und kreischte, während er mit der Hand auf seine Wunde drückte, so dass ihm das Blut zwischen den Fingern hervorfloss.
»Das Messer«, keuchte Jeb, der immer noch rückwärtskroch.
Benommen tastete Max um sich nach dem Messer, bis er tatsächlich den Griff fühlte und ihn packte – Schnee und Kiesel gleich mit. Angefeuert von seinem Überlebensinstinkt, rappelte er sich auf und stand vor dem Dämon, der immer noch auf Knien war und sich vor Schmerzen krümmte.
Töte oder werde getötet.
Ja, diese Lektion hatte er in- und auswendig gelernt. Nur setzte er das Gelernte nicht so ein, wie Atalanta es geplant hatte.
Er schwang das Messer, wie sie es ihm beigebracht hatte, und enthauptete das Monster, bevor es wieder zu Kräften kam und sie beide tötete.
Ihm blieb keine Zeit, über das nachzudenken, was er gerade getan hatte. Er blickte nicht einmal hinab auf den grotesken Kopf, den er gerade abgetrennt hatte, sondern drehte sich um und lief zu Jeb. Eilig kniete er sich neben den Mann, zog seine Jacke aus und presste sie auf die Brustwunden.
»L-lauf«, hauchte Jeb.
»Ich verschwinde nicht ohne dich.«
Jebs Hand schloss sich um Max’ Handgelenk. »Da sind … mehr.«
Ja, das wusste Max schon. Atalantas Scouts reisten in Dreiergruppen. Aber die waren noch nicht alles. Es kämen noch mehr. Viel mehr, vor allem, wenn sich dieser hier nicht zurückmeldete.
Max sah auf den Menschen hinab und fragte sich, wie das Ganze so schnell so schlimm werden konnte. Er hatte das nicht gewollt. Und er war nicht so blöd, zu glauben, dass Atalanta ihn liebte und zurückhaben wollte. Nein, was sie wollte, war die Metallscheibe, die er ihr gestohlen hatte. Sie war der Schlüssel zur Herrschaft über diese Welt und die nächste. Und Atalanta würde nicht aufhören, bis sie ihn gefunden und die Scheibe wiederhatte.
Es sei denn …
Er fasste nach unten, nach der Scheibe. Sie war immer noch warm, gab ihm eine Kraft, wie er sie nie gefühlt hatte. Und diese Kraft hatte ihn bis hierher gebracht, als er zu erschöpft sein sollte, um sich zu rühren. Er wusste nicht genau, was es war, aber das Ding besaß Macht. Wie das Glas, das ihm die alte Frau gegeben hatte. Und er fühlte, dass Schlimmes geschehen würde, wenn Atalanta die Metallscheibe zurückbekam.
Denk an deine Menschlichkeit, Maximus. Lass dich von ihr leiten.
Die Worte der Alten gingen ihm durch den Kopf. Vielleicht konnte die Scheibe Jeb helfen, und sei es, damit er lange genug am Leben blieb, um aus dieser Hölle zu fliehen.
Und falls nicht, nun, dann würde Atalanta sie zumindest nicht zurückkriegen.
Er drückte seine Hand um die Scheibe, dann zog er rasch die Kette über seinen Kopf. Während Jeb ihn verwundert beobachtete, steckte Max die Scheibe und die Kette in seine Jackentasche.
»W-was machst d-du denn?«, fragte Jeb.
Ein Brüllen hallte vom Haus herüber, und Max erstarrte. Ihnen blieb nicht viel Zeit.
Rasch zurrte Max seine Jacke fester um Jeb, drückte sie auf die Wunden und legte Jebs Hand darüber. »Tu mir einen Gefallen, und halt das fest. Meinst du, du schaffst es bis zum Wagen?«
Verwirrt sah Jeb zur Seite, zum Truck, und nickte.
»Gut«, sagte Max. »Die Schlüssel stecken. Steig ein, verriegel die Türen und fahr los. Und sieh nicht zurück. Du hast recht, es werden mehr kommen. Aber sie kommen wegen mir, nicht wegen dir. Tut mir leid, dass ich dich da mit reingezogen habe.«
»Max?«
Max stand auf und drehte sich zu den Dämonen.
Das war es für ihn. Auf keinen Fall konnte er zwei Dämonen entkommen. Aber vielleicht … ganz vielleicht konnte er sie weit genug weglocken, dass Jeb eine Chance hatte.
Er holte tief Luft. Das Bild seiner Mutter, seiner richtigen Mutter, ging ihm durch den Kopf: ihr rotes Haar, ihre violetten Augen, ihr wunderschönes Gesicht. Er hatte gehofft, dass er sie eines Tages kennenlernen würde. Zu gern hätte er sie gefragt, warum sie ihn gehen ließ. Jetzt war es nicht mehr wichtig. Komisch, dass am Ende nur wichtig war, das Richtige zu tun.
»Ihr Scheißkerle!«, brüllte er. »Ich gehe nirgends mit euch hin. Fahrt zurück zur Hölle, ihr Freaks!«
Die Dämonen knurrten halb warnend, halb erregt von der Aussicht aufs Töten.
Max’ Herz wummerte, und Angst jagte ihm über den Rücken: echte Angst, denn er wusste, was als Nächstes kam. Er hatte es schon aus nächster Nähe gesehen. Trotzdem haderte er nicht. Er rannte los in den Wald, so schnell er konnte.