Siebtes Kapitel
»Deine schleppenden Fortschritte strapazieren meine Geduld, Thanatos.« Atalanta trommelte mit den Fingern auf dem Holztisch. »Die nordamerikanische Misos-Kolonie sollte längst ausgerottet sein.«
Thanatos bemühte sich, nicht zu knurren. Sie saßen im Esszimmer der kanadischen Hütte, in der sich neuerdings ihre Zentrale befand, zwischen ihnen fünf Meter massive Holzplatte. Auf dem Tisch standen zahlreiche Kerzen in schnörkeligen Leuchtern, die den Raum erhellten und flackernden Lichtschein auf Atalantas blasses, angewidertes Gesicht warfen. Draußen vor den dunklen Fenstern zogen dicke Wolken vorm zunehmenden Mond vorüber, und in der Ferne heulte ein einsamer Wolf.
Zu seiner Rechten räusperte sich der Junge und griff nach seinem Kelch.
Thanatos warf ihm einen hasserfüllten Seitenblick zu. Oh ja, das Kind mochte seine Begnadigung aus dem Kerker, den es ein Zimmer nannte, genießen, aber schon bald wäre es wieder dort. Dafür sorgte Thanatos.
»Hast du mir nichts zu sagen?«, fragte Atalanta frostig und riss ihn jäh aus der Fantasie, die in seinem Kopf entstand.
Der Dämon stellte sich vor, wie all das cremige Fleisch von ihren Knochen schmolz. Sie war jetzt sterblich, was bedeutete, dass sie getötet werden konnte. Aber sie besaß immer noch gottgleiche Kräfte, und es gab nichts, das sie nicht sah oder kontrollierte.
Seine Augen wanderten über ihren langen schmalen Hals und verharrten auf der schweren Kette. Die Goldglieder verschwanden im Ausschnitt ihrer blutroten Robe, aber Thanatos wusste, was zwischen ihren makellosen Brüsten ruhte. Einmal hatte er den Anhänger gesehen, als er Atalanta aus dem Dekolleté gerutscht war.
»Maximus«, sagte Atalanta streng, »lass uns allein, Yios. Die Bediensteten haben für dich ein Zimmer im Westflügel vorbereitet.«
»Ja, Matéras.« Der Junge schob seinen Stuhl zurück, wischte sich den Mund ab und ging zu Atalanta. Zögerlich beugte er sich zu ihr und küsste sie auf die Wange.
Aufs Neue überkam Thanatos lodernder Hass. Er konnte schnell sein; ehe es einer der beiden bemerkte, könnte er am anderen Tischende sein und ihre zerbrechlichen Leiber stünden in Flammen. Er konnte sie verbrennen, ihre Knochen splittern lassen, bis von ihnen nichts als Asche blieb …
»Thanatos!«
Ruckartig sah er zu ihr auf. Atalanta war aufgesprungen und kam um den Tisch herum zu ihm. Der Junge war nirgends zu sehen.
Thanatos erhob sich.
Sie war beinahe so groß wie er, knapp zwei Meter, und sie verabscheute Schwäche bei ihren Soldaten, weshalb er gelernt hatte, in ihrer Nähe nie auch nur einen Hauch von Angst zu zeigen. »Ich dulde keinen Ungehorsam!«
Er machte sich bereit, einen möglichen Angriff abzuwehren, und bemühte sich, seine Verachtung nicht durchklingen zu lassen, als er sagte: »Die nordamerikanischen Misos haben Hilfe von den Argonauten. Einer unserer Jagdtrupps konnte erst gestern eine wichtige Siedlung in Schutt und Asche legen, und alle Flüchtigen werden eingefangen und vernichtet wie besprochen.«
Sie blieb einen Schritt entfernt von ihm stehen. »Wie viele Halbblute wurden getötet?«
»Mindestens sechzig.«
»Sechzig sind gar nichts. In den Bergen dort verstecken sich drei Mal so viele.«
»Wir finden sie.«
Sie ging zum Kamin und blickte in die züngelnden Flammen. »Du sagst, die Argonauten sind ihnen zu Hilfe gekommen?«
»Ja.«
»Dann suchen sie jetzt ebenfalls nach den Flüchtigen. Was für ein Haufen Möchtegernheiliger, diese widerwärtigen Argonauten. Nun«, sagte sie, wobei ihre Stimme befremdlich ruhig wurde, »dies ist deine Chance, möglichst viele von ihnen auszuschalten.«
»Ich?«
Sie blickte über ihre bloße Schulter zu ihm. »Ja, du, Thanatos. Bist du nicht mein Erzdämon? Oder bist du dir auf einmal zu fein zum Kämpfen?« Ihr Tonfall verhärtete sich bedrohlich. »Such die Flüchtigen, dann findest du die Argonauten. Benutze die Halbblute als Köder, wenn es sein muss, aber töte die Argonauten. Und anschließend zerstörst du alles, was von ihrer elenden Kolonie übrig ist.«
Ein seltsames Unbehagen nistete sich in Thanatos’ Brust ein. Sie betrachtete ihn als einen gewöhnlichen Dämon, als wäre er … entbehrlich.
Er? Entbehrlich? Dämonen gab es wie Sand am Meer, was er eigentlich wissen sollte, hatte er doch die schwachen selbst getötet, ehe sie ihn im Kampf töten konnten. Aber er war jetzt ein Erzdämon, kein Fußsoldat. Während sie einander anstarrten, schweiften seine Gedanken zum Übungsfeld heute, wo er Atalanta mit Phrice tuscheln gesehen hatte, als hätte dieser hirnlose Dämon irgendwas Interessantes zu sagen. Dann fiel ihm die Szene mit Maximus wieder ein, die Leichtigkeit, mit welcher der lächerliche Junge Zetus nur mit dem Schwert erledigt hatte.
Hatte sie Phrice schon zu seinem Nachfolger erkoren? Intrigierten die beiden gegen ihn? So verstörend die Vorstellung auch war, bereitete ihm etwas anderes weit größere Sorge: Waren sie möglicherweise alle entbehrlich, sobald Maximus seine Menschlichkeit endgültig ablegte und seinen Platz an Atalantas Seite einnahm?
Wieder sah er zu der Kette an ihrem Hals, und sein Unbehagen wuchs. Er dachte an den Anhänger, an seine Zukunft, oder besser gesagt: an das wenige, was ihm an Zukunft blieb.
Atalanta drehte sich zu ihm. Hinter ihr tanzte das Feuer im großen Steinkamin und umrahmte ihre Gestalt mit grellen Orange-, Rot- und Blautönen. Er wünschte, es würde sie vollständig verschlingen.
»Ich bin am Ende meiner Geduld mit dir, Thanatos. Töte oder werde getötet, das ist unser Motto.«
Töte oder werde getötet.
Sie würde ihn bei der erstbesten Gelegenheit umbringen, wie er an ihren nachtschwarzen, seelenlosen Augen erkannte. Für sie war er bereits tot.
Er verneigte sich, obwohl es ihm zuwider war, welche Unterlegenheit er damit bekundete. Andererseits schmiedete er schon Pläne, wie er sich Geltung verschaffte und siegte.
»Wie du befiehlst, meine Göttin.«
Zander strich sich über das nasse Haar und blickte in den Wald, wo die hochaufragenden Douglas- und Hemlocktannen dicht an dicht standen.
Demetrius, der auf dem Waldboden hockte und Spuren las, blickte auf und wies nach vorn. »Sie sind nach Norden.«
Nieselregen fiel, der von ihren erhitzten Körpern aufdampfte und ihren Atem zu Wolken in der feuchten Luft verwandelte. Alle drei – Zander, Demetrius und Titus – waren die letzten vier Stunden gelaufen, um die Dämonenbande einzuholen. Sie mussten sie erreichen, ehe sie bei den Misos waren, welche der Verwüstung entkommen konnten. Bisher aber hatten sie nichts als Fußspuren entdecken können. Wenigstens waren diese frisch, und Demetrius, der begnadete Fährtenleser, war sicher, dass sie sich ihrem Ziel näherten.
»Die haben den beknackten Weg verlassen«, sagte Titus.
Demetrius richtete sich kniend auf, so dass sein langer Staubmantel in der leichten Brise flatterte. »Dadurch werden sie nur langsamer.« Er zeigte auf das Unterholz: ein Dickicht aus Mahonie, Prachthimbeere und Setzlingen, die miteinander um das spärliche Licht konkurrierten. »Die bräuchten eine Sichel, um sich durch den Mist zu schneiden. Und jeder abgeknickte Zweig und zertretene Setzling schreit praktisch, ›Hier sind wir. Kommt und holt uns.‹«
Abgesehen vom Wassertröpfeln im Laub über ihnen war nichts zu hören, was unheimlich war. Als wüsste der Wald, dass etwas Böses in ihm unterwegs war.
Zander blickte durch die Bäume zu den Bergen dahinter. »Sie wollen zu den Höhlen, würde ich sagen. Vielleicht sind sie schon da.«
Demetrius runzelte die Stirn. »Bei dem Tempo, in dem sie gehen, und mit den kleinen Kindern werden sie es nie schaffen. Die Dämonen haben sie fast überholt und fangen sie wahrscheinlich an der Brücke ab.«
Bei seinen Worten krampfte sich Zanders Bauch zusammen. Sie waren im Krieg, ja, und da gab es immer Opfer. Aber Kinder?
Titus betrachtete sein GPS-Gerät. »Wenn wir nach Osten ausscheren und bei der nächsten Gabelung zurückbiegen, könnten wir die Dämonen erwischen, bevor irgendwer von ihnen an der Brücke ist.« Er sah zuerst Zander, dann Demetrius an. »Ich weiß, dass es keine glorreiche Idee ist, aber wenn von euch keiner eine bessere hat, würde ich sagen, das ist unsere einzige Chance.«
Zander überprüfte das Ersatzmesser an seinem Oberschenkel, ehe sie sich wieder aufmachten. Sie liefen noch schneller als vorher, Demetrius voran, Zander in der Mitte, und Titus bildete den Schluss. Beinahe eine Stunde verging, bis sie sich an der Gabelung wieder nach Norden wandten. Aus der Ferne drang Wasserrauschen herbei, was bedeutete, dass sie sich der Schlucht mit der einsamen Brücke näherten. Sie beschleunigten ihr Tempo abermals.
Bitte, lass uns nicht zu spät kommen!
Ein schriller Schrei hallte durch die Bäume. Demetrius, der Schnellste von ihnen, verließ den Weg und sprintete ins Unterholz. Zander und Titus folgten ihm. Als sie näher kamen, erstickte lautes Brüllen das Klatschen der Wellen auf Felsen, vermengt mit Entsetzensschreien von Frauen und Kindern.
Demetrius war bereits mitten im Getümmel, bis Zander und Titus aus dem Wald kamen. Seine Waffe krachte auf Haut und Knochen. Fauchen, Klatschen und weitere Schreie schwollen in der Luft an, als Demtrius mit seinem Schwert ausholte und einen Dämon köpfte, um sich sogleich den nächsten vorzunehmen.
Der Wald öffnete sich einem breiten Ufer aus Sedimentgestein, das ins Nichts abzufallen schien. Weit unterhalb des Felsvorsprungs strömte ein Fluss. Auf der anderen Seite der Schlucht erhoben sich die Berge in majestätischer Pracht. Sie boten ein ideales Versteck für die Misos, waren jedoch nur über eine Holzhängebrücke zu erreichen, deren Taue verwittert waren und der mehrere Holzplanken fehlten.
Zander zählte mindestens acht Dämonen, die sich der Gruppe näherten, die beiden nicht mitgezählt, die Demetrius schon niedergeschlagen hatte. Sechs Misos-Frauen scharten sich schützend um gut ein Dutzend Kinder, die Rücken zur Schlucht. Ihre einzigen Waffen waren Steine und Zweige sowie ein Gewehr, und das wiederum nutzte ihnen gegen diese Monster nichts. Zudem zitterte die Frau mit dem Gewehr so heftig, dass sie eher versehentlich eine ihrer Freundinnen erschoss, statt einen Dämon zu treffen.
Vor allem aber konnte niemand die Kinder beschützen, die viel zu nahe am Abgrund waren.
»Weg von dem Abhang!«, brüllte Zander.
»Zander!«
Erst auf Titus Rufen hin wurde ihm klar, dass er als Einziger noch nicht kämpfte. Aufgeputscht von Adrenalin, zog er sein Parazonium von seinem Rücken und rannte auf den Dämon zu, der am nächsten an der Gruppe war.
Er hieb, trat und stach zu, während er den Klauen und Zähnen des Monsters auswich. Um ihn herum wurde gefaucht und geschrien, Schwerter klirrten und durchtrennten pfeifend Muskeln und Gliedmaßen. Aber die Dämonen kämpften unerbittlich. Gingen sie zu Boden, sprangen sie wieder auf, kassierten sie einen Schwerthieb, machten sie weiter. Das Einzige, was sie stoppen konnte, war die Enthauptung, doch die musste aus dem richtigen Winkel ausgeführt werden. Und einem Zwei-Meter-Monster mit herkulischen Kräften den Kopf abzuschneiden, war nicht eben leicht.
Der Dämon, mit dem Zander es aufnahm, attackierte ihn mit messerscharfen Klauen, denen Zander immer wieder ausweichen musste. Einmal erwischte sein Gegner Zanders Jacke, worauf der Stoff mit einem laut ratschenden Geräusch zerriss und ein brennender Schmerz über Zanders Rücken kroch. Zander griff das Messer von seinem Oberschenkel und schleuderte es auf den Dämon zu, dem es tief in der Brust stecken blieb, so dass die Bestie aufheulte. Im selben Moment schwang Zander das Schwert in seiner anderen Hand und hieb es dem Dämon in die Seite.
Das Monster torkelte, fiel jedoch nicht. Brüllend knallte es Zander den Handrücken ins Gesicht und schlug ihn zu Boden. Zander landete unsanft auf dem Felsgestein. Für eine Sekunde blieb ihm die Luft weg. Blut und Schweiß rannen ihm in die Augen.
Hinter ihm hallten Schreie. Er drehte sich gerade so weit um, dass er sah, wie ein anderer Dämon auf die Gruppe losging. Ein Kind, nicht älter als acht oder neun Jahre, stand zitternd da und klammerte sich an eine der Frauen, die blauen Augen weit aufgerissen vor Angst.
Zander rappelte sich auf. »Titus!«, brüllte er. »Schaff sie über die Brücke!«
Der gut drei Meter weiter kämpfende Titus zog sein Parazonium aus dem Dämon, den er gerade geköpft hatte, und drehte sich zu den Misos um. Seinem erschrockenen Gesichtsausdruck nach sollte man annehmen, er sähe erst jetzt, dass kleine Kinder unter ihnen waren.
»Mach schon!«, rief Zander, während er sich auf den knurrenden Dämon vor ihm stürzte. Dieser war den Kindern am nächsten, daher konnte er nicht riskieren, sie selbst nach drüben zu bringen.
Die Klauen des Monsters erwischten Zander am Arm, was er jedoch kaum beachtete. Er stieß mit seinem Parazonium auf die Kreatur ein, versenkte die Klinge tief in dessen Fleisch. Als das Untier brüllend auf die Knie sank, rammte Zander ihm den Ellbogen in die Visage. Das Monster schwankte, verdrehte benommen die Glubschaugen, und Zander trennte ihm mit einem kräftigen Schlag den Kopf vom Rumpf.
»Alles über die Brücke!«, schrie Titus, der zwischen den Kämpfenden und dem einzigen Fluchtweg Stellung bezog. »Sofort! Lauft!«
Zander wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht und blickte rasch zur Gruppe. Die Frauen wirkten vollkommen verängstigt, bugsierten die Kinder aber eilig zur Brücke – alle bis auf die mit dem Gewehr. Sie blieb wie angewurzelt stehen, die Augen so weit aufgerissen, dass ihre Iris nur Kreise inmitten von Weiß bildete, und das Gewehr in ihrer Hand schwankte, als stünde sie in einem Erdbeben der Stärke zehn.
Skata. Zander hatte keine Zeit, sich um sie zu kümmern. Drei weitere Dämonen kamen aus dem Wald und sahen, dass ihre Opfer zu entkommen drohten. Statt Demetrius anzugreifen, der mit einem anderen Dämon kämpfte, wechselten sie die Richtung und rannten auf die Brücke zu.
»Demetrius!«, schrie Zander. Die Argonauten waren in der Unterzahl, kräftemäßig unterlegen und konnten die Misos unmöglich beschützen, es sei denn, Titus schaffte sie über die Schlucht und kappte anschließend die Brückenseile. Womit sie dann zu zweit gegen eins, zwei, drei … sieben wären.
Verfluchte Hera!
»Titus! Bring sie rüber!« Zander packte seine Waffe mit beiden Händen, holte tief Luft und stellte sich zwischen die nahenden Dämonen und die Brücke. Falls er aus dieser Geschichte herauskam – wenn er herauskam –, würde er das Leben nie wieder für selbstverständlich nehmen. In jenen Kinderaugen eben hatte er die Zukunft gesehen: Eine Zukunft, die es für keinen von ihnen geben würde, wenn er und seine Gefährten versagten.
»Zurück in die Hölle mit euch, ihr Hurensöhne!« Er hob seine Klinge hoch über seinen Kopf und machte sich sprungbereit.
Ein Schrei gellte hinter ihm, gefolgt von einem merkwürdigen Ploppen. Bevor er zuschlagen konnte, schoss ihm Feuer durch die Schulter und den Rücken. Ihm blieb ein kurzer Moment, sich zu fragen, was los war, dann glitt ihm das Parazonium aus den Händen und fiel klappernd auf den Fels. Er wollte danach greifen, nur schienen sich seine Arme in Zeitlupe zu bewegen, und dann stürzte er, stürzte der Länge nach zu Boden, während die Dämonen heranrückten.
»Zander!«
»Zander! Nein!«
Ihm war nicht ganz klar, warum auf einmal alle seinen Namen schrien, doch eigentlich kümmerte es ihn nicht. Als der Boden in Lichtgeschwindigkeit auf ihn zuraste, erfüllte ihn nur ein einziger Gedanke.
Endlich hatte er beschlossen, dass es etwas gab, für das es sich zu leben lohnte, und ausgerechnet da gewährten die Götter ihm seinen Todeswunsch.