35

»Holen Sie die Karte aus dem Handschuhfach, ja?« Ivy fand sie, suchte schnell nach der Straße, die Max ihr genannt hatte. »Dienstag wurde sie das letzte Mal gesehen«, sagte Max.

»Als sie von Haus zu Haus ging. Sie müssen in die rechte Spur wechseln und Ausfahrt 12B nehmen. Hat Ramirez nicht bei ihr vorbeigeschaut?«

»Ja, aber es war niemand da. Er hat gesagt, er wäre davon ausgegangen, dass sie die Nacht irgendwo anders geschlafen hätte.«

»Was ist mit den Informationen, die sie gefaxt hat?«

»Vielleicht hat sie die ja gar nicht selbst gefaxt.«

Er griff wieder nach seinem Handy, drückte auf eine Zifferntaste, um eine Kurzwahl auszulösen. Als jemand ranging, sagte er: »Suchen Sie die Unterlagen heraus, die von Officer Hastings' Faxgerät aus geschickt wurden. Überprüfen Sie, ob es einen Fragebogen zu jedem Namen auf der Liste gibt. Dann bringen Sie die Faxe runter zu den Handschriftexperten. Die sollen feststellen, ob sie alle von derselben Person ausgefüllt wurden oder nicht. Ich vermute, dass einer der Namen auf der Liste keinen Fragebogen hat oder dass einer der Fragebögen von jemand anders als Hastings ausgefüllt wurde.«

Er beendete hastig den Anruf, konzentrierte sich dann auf die Fahrt und den Verkehr, quetschte sich zwischen zwei Lastern gerade noch auf die rechte Spur, als die Ausfahrt auftauchte.

Ivy sagte weiter den Weg an. »Da sind wir. Spring Green Apartment Complex.«

Ein schwarz-weißer Streifenwagen stand schräg vor der Haustür.

Max hielt im Halteverbot. Hinter der Eingangstür zeigte er seine Marke, sodass sie schnell weitergehen durften. Die Hausmeisterin erklärte ihnen, wie sie zu Hastings' Wohnung kamen, als hätte sie es in den letzten Tagen schon mehrfach getan. »Es sind schon Leute oben!«, rief sie ihnen hinterher, während Max und Ivy die Treppe hochliefen.

Drei Stockwerke, dann den Flur nach rechts. Apartment 324.

Die Tür stand offen; sie konnten die Stimmen hören, lange bevor sie da waren.

Drinnen standen zwei Frauen, eine knapp fünfzig, die andere etwa fünfundzwanzig. Sie sprachen mit einem uniformierten Polizisten, der sich Notizen machte.

Max stellte sich und Ivy vor.

Die Frauen waren Reginas Mutter und Schwester.

»Regina ruft mich immer alle zwei oder drei Tage an«, sagte die ältere Frau. »Spätestens alle drei Tage. Ich habe sie mehrfach angerufen, habe Nachrichten hinterlassen, aber sie hat mich nicht zurückgerufen. Ich habe einen Schlüssel zu ihrer Wohnung, also bin ich hergekommen. Ihr Wagen war da, aber sie nicht. Aber sie fährt nicht überall mit dem Auto hin, deswegen dachte ich mir, vielleicht ist sie beim Dienst. Ich weiß, dass sie bei Ihnen arbeitet, Detective, und ich weiß, dass sie viele Überstunden machen muss. Also sagte ich mir: Mach dir keine Sorgen, obwohl ich mir Sorgen gemacht habe, ich kann nicht anders, so sind Mütter eben, nicht wahr?«, fragte sie und schaute Ivy an.

Ivy lächelte und stimmte ihr zu.

»Meine Tochter sagte mir, es wäre bestimmt nichts, aber sie würde mir helfen, mich zu beruhigen. Sie rief die Nummer an, die Gina uns gegeben hat, die Notrufnummer der Einsatzzentrale, und dort sagte man uns, sie wäre seit drei Tagen nicht mehr bei der Arbeit gewesen. Irgendetwas

stimmt nicht. Ich kann es spüren. Irgendetwas stimmt ganz und gar nicht.«

Sie begann zu weinen, und ihre Tochter legte einen Arm um sie, versuchte, sie zu beruhigen.

»Wenn dieser Madonna-Mörder sie erwischt hat, dann werde ich es nicht überleben. Ich glaube, ich werde nicht den Rest meines Lebens jeden Tag daran denken können. Als Erstes, wenn ich aufstehe, und als Letztes, bevor ich zu Bett gehe.«

Sie brach endgültig zusammen, und ihre Tochter führte sie zu einem Sofa in der Ecke.

»Warum ist die Wohnung nicht abgesperrt, um Spuren zu sichern?«, fragte Max den Polizisten.

»Sie haben mir gesagt, dass sie sowieso gestern schon hier waren. Sie haben wahrscheinlich ohnehin schon fast alles angefasst.  Er senkte die Stimme, sodass die Frauen ihn nicht hören konnten. »Obwohl sie angerufen haben, um sie vermisst zu melden, schein res, als hätte der Anblick meiner Uniform alles viel echter wirken lassen. Seit ich hier bin, klappt sie alle paar Minuten so zusammen.«

Max nickte und zog sein Handy heraus. »Wir brauchen die mobile Spurensicherung«, sagte er in das Gerät. Er nannte die Adresse. »Sie müssen die Wohnung nach Fasern und möglichen Blutspuren durchsuchen, und alle Oberflächen auf Fingerabdrucke. Und sagen sie ihnen, dass sie ein Auto untersuchen und mitnehmen müssen,«

Kaum hatte  er aufgelegt, klingelte sein Telefon, Es war das dritte Mal in einer Stunde, dass Ramirez anrief. »Wir wissen noch nichts Neues«, sagte Max zu ihm. »Aber wenn wir etwas erfahren, rufe ich Sie an.« Er legte auf und steckte das Handy in die Tasche.

»Nichts mehr anfassen, bis die Spurensicherung hier ist« sagte Max. Dann überliessen Ivy und er Regina Hastings´ Mutter und Schwester dem Polizisten.

Nach der Beschreibung, die sie erhalten hatten, fanden sie

Reginas Wagen - einen kleinen grünen Toyota - auf dem Parkplatz, im Schatten eines verrosteten Carports.

»Sieht brandneu aus«, sagte Ivy, als sie näher kamen. Ohne etwas anzurühren, schauten sie zu den Fenstern hinein. Nichts. Kein Dreck, kein Kaugummipapier, nichts. Mit der Fernbedienung und dem Extraschlüssel, die Reginas Mutter ihnen gegeben hatte, öffnete Max den Kofferraum. Der Deckel klappte hoch, und sie traten näher.

»O mein Gott«, sagte Ivy und hob eine Hand vor den Mund.

Da war Regina, oder was noch von Regina übrig war. Sie war zusammengeschlagen worden, ihr Gesicht war blutunterlaufen und dick geschwollen.

Ivy beugte sich vor.

»Mein Gott, Max, sie lebt noch.«