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Die Dame, die Ethan zu bedienen versuchte, konnte sich nicht entscheiden, was sie wollte. Sie stand da und starrte auf die Speisekarte an der Wand, sie wartete darauf, dass sie eine Eingebung hatte, als könnte die Karte sich noch ändern oder anfangen zu blinken oder so. Wer weiß?

Ethan wünschte sich, ein Blitz würde sie alle erschlagen.

Es war ein Bagel-Laden, um Gottes willen, keine Fünf-Sterne-Klitsche in der Innenstadt, wo Ethan als Nächstes einen Hundert-Dollar-Wein anbieten würde. Warum nur konnten die Leute sich nicht entscheiden?

Er wartete ungeduldig, während die Schlange hinter ihr bis zur Tür wuchs.

Schließlich sagte sie: »Ich nehme einen normalen Bagel mit Frischkäse.«

So war das mit den Leuten, die sich nicht entscheiden konnten. Sie bestellten immer das Langweiligste auf der Karte.

»Frischkäse light oder normal?«

»Mhm?«

»Frischkäse light oder normal?« Er hätte nicht fragen sollen, aber Kunden wie sie waren auch immer diejenigen, die den Bagel zurückbrachten, weil sie einen anderen Frischkäse wollten.

In ein paar Stunden hatte er Schluss, aber er freute sich nicht darauf. Sein Vater würde ihn abholen, und dann gingen sie ins Kino. Begriff Max es denn nicht? Konnte er nicht erkennen, dass Ethan nicht mehr mit ihm rumhängen wollte? Diese Künstlichkeit - er konnte sie nicht mehr ertragen. Dass Max sich so große Mühe mit diesen Vater-Sohn-Ausflügen

gab, empörte ihn. Wenn Ethan, als er klein war, im Fernsehen etwas gesehen hatte, was ihm Angst machte, summte er vor sich hin: »Das stimmt gar nicht. Das stimmt gar nicht.« Genau das machte er jetzt mit Max.

Die Frau, die sich so schlecht entscheiden konnte, ging am Tresen entlang, wo sie wahrscheinlich eine weitere Stunde damit verbringen würde, sich zu entscheiden, ob sie einen Latte oder einen Espresso wollte, und Himbeer- oder Schoko-Mandel-Geschmack.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er den nächsten Kunden.

Sein Vater und er hatten einander immer nahe gestanden - deswegen lag ihm die Wahrheit schwer im Bauch wie ein Haufen mit Schimmel überzogener Steine. Vor nicht allzu langer Zeit hatte Ethan sich mit einem Nachbarsjungen gestritten. Um ihn zu verletzen, hatte der Junge ihm gesagt, dass Max Ethan nur adoptiert hatte, weil seine Mutter krepiert war und darum gebettelt hatte, dass er ihn nahm und für ihn Vater spielte.

Das machte aus Ethan ein armes Würstchen.

Es war schlimm genug, zu erfahren, dass man adoptiert war, aber man konnte sich immer noch sagen, dass der Vater einen wollte, ein Kind wollte, sonst hätte er es ja nicht getan.

Jetzt konnte er nicht einmal mehr das glauben ...

Zuerst hatte Ethan versucht, sich nicht weiter damit zu beschäftigen, aber am Ende konnte er den Gedanken doch nicht verdrängen und musste ihn als Wahrheit anerkennen. Das ergab Sinn. Er kam sich blöd vor, dass er nicht schon lange darauf gekommen war. Er wusste, dass Max seine Mutter nicht lange gekannt hatte, weshalb sonst hätte er ihn adoptieren sollen? Max war einer von den Leuten, die immer das Richtige tun wollten. »Pflichtbewusst«, war das Wort, das Ethan dafür benutzte.

Aber es war schrecklich und deprimierend, anzuerkennen, dass die eigene Kindheit Lug und Trug gewesen war. Dass seine Vergangenheit einen Teppich darstellte, den man ihm jetzt unter den Füßen wegzog. Dass all die Zeit, die sie zusammen verbracht hatten, bloß Pflichterfüllung gewesen war.

Max sagte Ethan immer, dass man sich um diejenigen kümmern musste, die weniger Glück hatten. So lange er zurückdenken konnte, hatte Max Geld an ein Mädchen und einen Jungen in Bolivien geschickt. Diese Kinder waren jetzt erwachsen und schrieben ihnen immer noch Weihnachtskarten und Briefe, und Max unterstützte mittlerweile zwei neue Kinder.

Ethan hatte das immer cool von Max gefunden, bis er herausgekriegt hatte, dass er selbst auch so ein Kind war. Zumindest wussten sie, dass sie arme Würstchen waren. Zumindest log man ihnen nichts vor.

Er wollte mit jemand darüber reden, aber seine Kumpel redeten nicht über so etwas. Denen wäre das peinlich, es wäre komisch, und sie hätten sowieso keine Antworten. Das kapierte man, wenn man älter wurde. Wenn man klein war, dachte man, man wäre bloß zu jung, um die Antworten zu verstehen, und wenn man älter würde, dann würde sich alles klären.

Aber schließlich musste man sich der Wahrheit stellen: Es gab keine Antworten.

Ethan drehte sich gerade um, als sein Kollege auf den normalen Bagel mit dem Frischkäse light spuckte.

»Was zum Teufel machst du da?«, flüsterte er.

»Wie sieht's denn aus? Ich geb ihr meine Spezialität. Ich hasse es, wenn diese Tussen alle so aufhalten. Als wären sie die Einzigen, die was essen wollen.«

Jarod arbeitete erst seit drei Tagen hier und war eine furchtbare Nervensäge, einer dieser reichen Jungs, deren Eltern sie zwangen, im Sommer zu jobben, damit sie nicht den ganzen Tag im Bett lagen und MTV guckten und Videospiele spielten. Er war störrisch und unhöflich, und das Einzige,

was ihm Spaß machte, war, wenn er irgendeine Scheiße baute | was ungefähr alle zwei Minuten passierte.

Ethan nahm den Bagel und warf ihn in den Müll. »Mach noch einen, und diesmal ordentlich.«

»Redest du mit mir? Du laberst mich an?« Er gehörte außerdem auch noch zu den weißen Jungs, die gerne redeten wie Schwarze.

»Ja, das tue ich.«

Jarod ließ die Arme hängen, die Hände zu Fäusten geballt, sein Gesicht lief rot an. Alles an ihm war auf Krawall gebürstet.

»Komm schon, Mann.« Ethan deutete auf den Behälter mit den Bagels. »Mach einfach einen neuen.« Er konnte nicht glauben, dass sie sich über einen verfluchten Bagel stritten. »Ist doch keine große Sache.«

Jarod riss sein grünes Bagel-Käppi vom Kopf und warf es auf den Boden.

»Scheiße! Scheiße, Mann.«

Er rannte davon.

Genervt machte Ethan einen neuen Bagel und brachte ihn zur Kasse, wo die Frau darauf wartete, zu bezahlen.

Sie schob ihm den Bagel zurück. »Ich will ihn nicht mehr«, sagte sie, das Kinn empört gehoben. Sie konnte nicht mitbekommen haben, was Jarod mit dem ersten Bagel angestellt hatte, aber sie konnte seinen Anfall auch nicht übersehen haben. »Ich habe nicht vor, in einer so feindseligen Atmosphäre zu essen. Wie heißt Ihr Manager? Ich möchte diesen Zwischenfall melden.« Sie hatte einen Stift gezückt, und jetzt konnte Ethan sehen, dass sie bereits seine Mitarbeiternummer und seinen Namen auf eine Serviette gekritzelt hatte.

Er starrte sie an und fragte sich, ob er einfach den Mund hätte halten sollen, als Jarod auf ihren Bagel rotzte.

Zwei Stunden später räumte Ethan gerade den letzten Frischkäse weg, als er Lärm an der Tür hörte. Warum zum Teufel kamen die Leute, wenn man zumachte? Er schaute auf

und sah ein paar seiner Freunde hereinkommen, sie lachten und schubsten einander bis zum Tresen. Ryan Harrison, ein Nachbar, Hockey-Mannschaftskollege und langjähriger Freund, hängte sich quer über den Tresen.

»Ihr müsst was kaufen«, sagte Ethan. »Der Manager ist hinten.«

Das letzte Mal, als seine Freunde aufgetaucht waren, hatte der Manager sie rausgeworfen, denn sie hatten zwei Tische besetzt und verdreckt, hatten sich Eiswasser, Strohhalme und Servietten geholt und einen matschigen Mist hinterlassen, den Ethan saubermachen musste, und nichts gekauft.

»Gib mir einen Pizza-Bagel und ein mittleres Getränk«, sagte Ryan, und Heather Green zog an seinem Arm, weil sie auch einen Bagel haben wollte. Er verdrehte die Augen und bestellte einen zweiten.

Heather strahlte und zwinkerte Ethan zu. Heather war immer fröhlich und lachte. Obwohl sie ganz in der Nähe wohnte und er sie schon ewig kannte, kam sich Ethan in ihrer Gegenwart immer ein bisschen tollpatschig vor, denn er hatte gehört, dass sie schon Sex hatte, während er immer noch Jungfrau war.

»Hast du von der Schallplatten-Messe beim Navy Pier gehört?«, fragte sie.

»Nein«, sagte Ethan. Sie war außerdem eines der wenigen Mädchen - überhaupt einer der wenigen Menschen - die irgendwas von Musik verstanden. Nicht viel, aber mehr als seine Kumpels.

»Nächsten Monat. Die Tickets kosten zehn Mäuse für drei Tage.« »Gehst du?«, fragte er.

»Kann nicht. Familienurlaub. Wir fahren campen in Colorado.«

»Cool.« Er gab ihnen ihre Bagel und einen mittelgroßen Becher, dann tippte er die Bestellung ein. »Was ist mit dir?«, fragte er Ryan.

»Eine Schallplatten-Show? Ich weiß nicht.« Er zuckte mit den Achseln. »Vielleicht. Lässt dein Alter dich gehen?«

»Wenn nicht, dann hau ich ab.« Er würde sich von seinem Vater auf keinen Fall daran hindern lassen, zu so etwas Wichtigem zu gehen.

»Diese Sachen sind so intensiv«, sagte Ryan. »Das nervt irgendwie.«

»Toll.« Keiner kapierte es. Keiner kapierte Ethans Begeisterung für die Musik. Nicht für den Dreck im Radio, sondern für Musik. Gute Musik.

Er hing in ein paar ausgewählten Chat-Rooms rum - es war toll, mit Leuten zu »reden«, die dieselben Dinge liebten wie er - aber warum kannte er niemanden, der so war?

Wie konnte er jemanden respektieren, der mit guter Musik nichts anfangen konnte? Was sollte er machen, wenn er ein Mädchen traf und sich verliebte ... aber sie hörte Dreck? Könnte er sie heiraten? Könnte er den Rest seines Lebens mit ihr verbringen?

»Jetzt wollen wir gerade zu einer Aufführung im Quest-Theater«, sagte einer von den anderen, Brent. »Willst du mit?«

»Wer spielt?«

»Ich weiß nicht. Wir dachten einfach, es wäre was zu tun. Wir wollen von Pasqual oder Donnie Issak ein bisschen Wodka. Wir haben genug Asche für eine kleine Flasche.«

»Ich kann nicht.«

»Komm schon, Mann. Hast du nicht bald Schluss? Wir sind extra vorbeigekommen, um dich zu fragen.«

»Ja, aber mein Alter holt mich ab.«

Brent lachte. »Ach ja, stimmt. Du hast Hausarrest. Hab ich vergessen. Wie doof.«

»Wenn das so doof ist, warum lachst du dann?«

»Ich hab bloß dran gedacht, wie besoffen du warst. Du warst echt komisch. Ich hab mich fast bepisst. Ich wusste nicht, dass du so verflucht komisch sein kannst.«

Ethan konnte sich unscharf daran erinnern, dass er auf irgendein Auto geklettert war. Er hatte seine Hose ausgezogen und die Beine um seinen Hals geknotet wie ein Cape und Sachen gebrüllt wie: »Ich bin der König der Welt!« Als er daran zurückdachte, errötete er. Die Sache mit dem Cape war schlimm genug, er hoffte, dass er nicht noch peinlichere Sachen gemacht hatte.

Scheinwerfer erhellten plötzlich das Innere des kleinen Ladens. Als sie erloschen, konnte Ethan den Wagen erkennen. »Ruhe jetzt«, sagte er zu Brent. »Mein Vater ist da.«

»Hey, ihr«, rief Brent zu den anderen. »Ethans Papa holt ihn ab.«