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Max schob die Maus über das Mauspad, er klickte auf eine Site namens Tattoos, Tattoos, Tattoos. Während er darauf wartete, dass die Seite lud, nahm er einen Bissen von seinem Käse-Schinken-Sandwich.

Ivy und er saßen in seinem Büro, der nasse schwarze Schirm, den sie sich geteilt hatten, lehnte an der Wand, und das Wasser tropfte auf den Boden. Ivy hatte einen Stuhl an die Schreibtischecke gezogen. Er konnte das Knistern ihres Sandwich-Einwickelpapiers hören und ihren Cappuccino mit Mandelaroma riechen.

»Wie ist Ihr Sandwich?«, fragte er geistesabwesend, während er auf ein Symbol mit der Aufschrift »Traditionelle Tattoos« klickte.

»Toll«, sagte sie mit vollem Mund. »Ich war am Verhungern.«

Sie hatte sich ein Vegetarisches mit Sprossen, Tomaten, schwarzen Oliven, Pilzen und Cranberries bestellt, ohne Zwiebeln.

Offensichtlich hatte seine Nach-Hypnose-Entspannungsanweisung funktioniert. Im Grunde genommen war er durch die Hypnose traumatisierter als sie.

Er tippte das Wort »Mutter« als Suchbegriff ein. »Okay, es geht los«, sagte er, als die Bilder erschienen.

Er schaute auf den Bildschirm. »Ich wusste nicht, dass es so viele MUTTER-Tätowierungen gibt.«

Ivy stand auf und kam näher, sie beugte sich vor, damit sie den Bildschirm sehen konnte. »Da«, sagte sie und zeigte mit einem Finger der Hand, in der sie den Cappuccino hielt, darauf. »Das ist es.«

Er klickte auf das kleine Foto; eine Vergrößerung erfüllte den

Bildschirm.

»Sind Sie sicher?«

»Das ist es, eindeutig.« Keine Spur eines Zweifels.

Sicherer konnte man nicht sein. Er speicherte das Foto auf Diskette, dann druckte er eine Handvoll Kopien. »Wir werden im Fotolabor zusammenstellen lassen, was wir für die Medien brauchen, während ich versuche, eine Genehmigung dafür zu bekommen, es in den Zeitungen und im Fernsehen zu zeigen. Außerdem schicken wir eine Kopie an David Scott, damit er sie durch die FBI-Tattoo-Datenbank jagen kann.«

»Wie erklären wir, woher wir diese Information haben?«

Sie wirkte immer noch nicht besonders besorgt. Vielleicht sollte er mal versuchen, sich selbst zu hypnotisieren.

Er hatte nie großes Zutrauen in die Kraft der Hypnose gehabt, aber aus Neugier an der Uni einen Kurs belegt. Dort hatte er an ein paar Experimenten teilgenommen, die dazu führten, dass er zu glauben begann, unter den richtigen Umständen könnte es ein nützliches Werkzeug sein. Aber er hatte die Methode nie dazu benutzt, seinen eigenen Kopf daran zu hindern, zu explodieren.

»Wir sagen einfach, ein Augenzeuge hätte sich gemeldet, und aus Sicherheitsgründen könnten wir den Namen nicht nennen«, sagte Max.

»Ich denke, wir sollten den anderen Mitgliedern der Einsatzgruppe sagen, wer ich bin. Die Geheimnistuerei behindert die Ermittlungen.«

Abraham hatte die Nachricht von Ivys Beichte gut aufgenommen. Statt ärgerlich zu werden, wie Max erwartet hatte, wirkte er erleichtert, dass das Geheimnis offengelegt war.

»Das sind zu viele Leute. Und Leute reden. Das ist einfach so.« Er ließ sich auf dem Bildschirm sein Adressbuch anzeigen, dann rief er bei FBI-Agent Spence an. Als der sich nicht meldete, wählte Max Mary Cantrells Nummer und erklärte ihr zügig ihr Vorgehen.

»Ihnen muss klar sein, dass die Veröffentlichung dieses Fotos einen weiteren Mord auslösen könnte«, sagte Agent Cantrell. »Andererseits denke ich, Sie haben gar keine Wahl. Die Gedächtnisfeier hat ihn nicht ans Tageslicht gelockt. Die gestohlenen Arzneimittel haben uns auch nicht weitergebracht Ich sehe das Tattoo als nächsten Schritt. Die Erkenntnis, dass wir so etwas über ihn wissen, könnte den Mörder dazu bringen, einen Fehler zu begehen. Darauf sind wir aus. Einen Fehler. Und bisher hat er keinen gemacht. Aber Sie müssen Ihre Quelle schützen. Sie dürfen auf keinen Fall den Namen dieses Zeugen preisgeben, sonst ist sein oder ihr Leben in größter Gefahr.«

Gespräch zu Ende.

Max legte auf und warf Ivy einen Blick zu.

Sie trank ihren Kaffee und starrte den Tattoo-Ausdruck in ihrer Hand an.

Zwei Tage später erschien das Foto der Tätowierung in den Zeitungen Chicagos und wurde landesweit im Fernsehen gezeigt. Zwei Treffer waren in der FBI-Tattoo-Datenbank aufgekommen, aber einer der Männer war tot, der andere saß im Gefängnis.

Polizisten begaben sich in jedes Tätowierstudio in den sechs Stadtbereichen.

»Haben Sie jemanden mit so einem Tattoo gesehen?« Ronny Ramirez hielt dem Tätowierer ein 9xl3-Foto unter die Nase.

Der Typ war ein Biker, er hatte seine langen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und die Arme waren voller Tattoos, manche gut, manche nicht. Er schüttelte den Kopf.

»So was lässt sich kein Mensch mehr tätowieren, Mann. Ich hab so was noch nie selbst gemacht.«

Regina Hastings löste ihren Blick von einem Glaskasten mit Piercingschmuck. »Wir wollen nicht wissen, ob Sie so

eins gestochen haben, wir wollen wissen, ob jemand mal hier war und sich das in etwas anderes umarbeiten lassen wollte. So was machen Sie doch, oder? Sie bearbeiten Tätowierungen, bis sie ganz anders aussehen?«

»Ja. Klar. Manchmal sogar kostenlos, bei Jugendlichen, die aus Gangs raus wollen. Aber so eins habe ich seit Jahren nicht gesehen.«

Er versuchte, das Foto zurückzugeben.

»Behalten Sie's«, sagte Ronny. »Und wenn jemand mit so einem Tattoo auftaucht, sagen Sie nichts zu ihm. Rufen Sie einfach diese Nummer an.« Er reichte ihm eine Karte mit der direkten Durchwahl der Einsatzzentrale.

»Mord, ja? Was hat dieser Typ getan? Jemand umgebracht?«

Es war offensichtlich, dass der Tätowierer keinen seiner eigenen Leute verraten wollte.

»Er hat eine Menge Leute umgebracht«, sagte Ramirez. »Sogar Babys.«

»Oh, Scheiße.« Der Mann steckte die Karte in die Tasche seiner schwarzen Lederweste, klopfte darauf. »Wenn er kommt, tätowier ich ihn mit einer HlV-infizierten Nadel.«

»Rufen Sie uns einfach an«, entgegnete Hastings trocken.

»Zehn geschafft, noch fünfzehn«, sagte Hastings vier Stunden später und strich »A Good Poke« von ihrer Liste. »Und das ist bloß Chicagos Innenstadt. Ich wusste nicht, dass es so viele Tattoo-Studios gibt.«

»Hast du eigentlich Tätowierungen?«, fragte Ronny und warf ihr einen Blick zu, als er vom Parkplatz losfuhr.

»Du wirst es nie erfahren. Da vorne rechts abbiegen.«

»Sag mal.« Er hielt an einer roten Ampel. »Warum sind wir eigentlich nur einmal ausgegangen? Ich hab's vergessen.«

»Weil ich rausgekriegt habe, dass du ein Arschloch bist.«

»Oh. Ach ja.«

»Gibst du es etwa zu?«, fragte sie erstaunt.

Er bog rechts ab, und sie fuhren eine Weile schweigend.

»Ich mag's nicht, wenn man über mich lacht«, sagte er schließlich.

»Wer mag das schon? Aber wenn was lustig ist, lache ich. So bin ich eben.«

»Das erklärt wohl, warum ich dich hab sitzen lassen würde ich sagen.«

»Ich hab dich sitzen lassen.« »Ich hab dich sitzen lassen.« Sie lachte.

»Lach nicht über mich.« »Arschloch.«

»Jetzt komm schon, Hastings. Ich hab gerade versucht mich zu entschuldigen, und du beschimpfst mich.« »Okay, okay.«

»Warum gehen wir nicht mal wieder aus?« »Das wäre bloß Zeitverschwendung.« »Wieso das?«

»Wie du weißt, mach ich's nicht beim ersten Date. Und auch nicht beim zweiten. Oder beim dritten.« »Und was ist mit dem vierten?«

»Du bist so arrogant! Sex muss für mich etwas bedeuten. Ich muss was für den Mann empfinden. Es ist nicht bloß eine Freizeitbeschäftigung.« »So sehe ich das auch.«

»Was für ein Blödsinn. Du hast einen Ruf, Ramirez. Und keinen guten.« »Wie Donnerhall!«

»Es geht mir um die Sache. Und außerdem sollten wir jetzt nicht darüber reden. Nicht im Dienst.«

»Bist du etwa noch Jungfrau?«, fragte er, als wäre ihm plötzlich ein Licht aufgegangen. »Nein.« »Sicher?« » Allerdings.«

»Hast du jung angefangen? Mit dem Sex, meine ich.«

»Mit vierzehn wurde ich vergewaltigt, zusammengeschlagen und liegen gelassen, weil sie mich für tot hielten. Ja, man könnte sagen, ich habe früh angefangen.«

Endlich hielt er die Klappe.

Manche sogenannten Musiker waren so dämlich, dass sie nicht mal Noten lesen konnten. Wegen ihrer Blödheit verbrachte er Stunden damit, sich Kassetten ihrer Songs anzuhören und die Noten aufzuschreiben, damit andere Doofköpfe den Dreck dann nachspielen konnten. Er hatte ein paar große Namen transkribiert, das Geld war nicht besonders, aber so hatte er mehr Zeit für sich, musste nicht so lange die Sozialmaske tragen.

Früher hatten die anderen Kinder ihn verspottet. Sie stahlen ihm sein Pausenbrot, sein Geld - wenn er welches hatte - und seine Klamotten. Nicht, weil sie sie wollten. Er hatte nichts, was irgendwer wollte; sie waren einfach bloß gemein. Seine Mutter hatte versucht, ihn dazu zu animieren, sich zu wehren, sie verhöhnte ihn mit denselben Worten wie die Kinder, Worten wie Feigling, Baby, Weichei. Später wuchsen diese Worte, wurden | bösartiger. Dann nannten sie ihn Schwuli und Tunte.

Dabei mochte er keine Jungs.

Er hatte keine Ahnung, warum alle glaubten, dass er auf Jungs stand. Er mochte auch keine Mädchen. Er hasste alle gleichermaßen.

Über sich konnte er seine Mutter schnarchen hören. Sie schlief wie ein Baby.

Sie begann, sich an die Arzneien zu gewöhnen, aber sie sollte noch ein paar Stunden pennen. Gestern hatte sie ihm fast einen Herzanfall beschert, weil sie unerwartet aufgewacht war, also hatte er ihre Dosierung noch mal hochgesetzt.

Sie hatte mal jemand verklagt. So war sie zu dem Haus gekommen. Sie war betrunken gewesen, aus einer Bar gekommen, gestürzt und hatte sich das Bein gebrochen - viermal. Sie hatte operiert werden müssen und Metallnägel eingesetzt bekommen. Sie verklagte den Besitzer der Bar, und seitdem saß sie bloß den ganzen Tag da, glotzte TV und besoff sich.

Aber er hatte Wichtigeres im Kopf als seine Mutter.

Um genau sechs Uhr abends schaltete er den Kassettenrekorder aus und zog seine Kopfhörer herunter, so dass sie um seinen Hals hingen. Er schaltete die Regionalnachrichten ein. Er schaute immer sehr aufmerksam die Nachrichten.

Er hatte immer gehofft, die Hauptnachricht zu sein, aber leider war das nur selten der Fall. Normalerweise wurden die Berichte über ihn von den Medien begraben; was im Rest Welt geschah, war ihnen wichtiger als seine Bereinigungen. Gott, das war frustrierend.

Heute war es anders.

Heute war seine Nacht.

Die blonde Nachrichtensprecherin saß an ihrem riesigen Studiotisch, hinter sich eine nachgemachte Skyline Chicagos. Die Kamera zoomte so nah heran, dass ihr Gesicht den Bildschirm ausfüllte.

Sie erschien auf eine puppenartige Weise hübsch, Makeup und Haar waren perfekt, ihre Perlenkette wirkte gleichermaßen verführerisch und steril.

»Das Chicago Police Department bittet die Bürger um Mithilfe dabei, den Mörder von zwei Müttern und ihren Söhnen zu finden, die vor Kurzem im Großraum Chicago getötet wurden. Die Identität des Mörders ist noch unbekannt, doch man geht davon aus, dass er auf dem Unterarm ein Rosen-Tattoo trägt.«

Das Bild der Nachrichtensprecherin wurde ersetzt durch das eines Rosen-Tattoos, durch das sich der Schriftzug Mutter zog.

»Wenn Sie jemanden mit einer solchen Tätowierung kennen, oder jemanden kennen, der in der Vergangenheit ein derartiges Tattoo trug, wenden Sie sich bitte an das Chicago

Police Department. Die Polizei bittet ausdrücklich darum, dass Sie sich der Person nicht selbsttätig nähern. Bitte rufen Sie stattdessen die Nummer an, die eingeblendet wird.«

Adrenalin rauschte durch seine Venen. Eine Spur. Nach all den Jahren hatten sie eine Spur. Wie aufregend. Spannend. Er ließ sich auf die Knie fallen und bedeckte den Mund mit beiden Händen, erstickte den Klang seines Gelächters. Sein Herz klopfte wie verrückt. Seine Gedanken verknäuelten sich. Woher wussten sie von dem Tattoo? Woher wusste das jemand? Denk nach. Denk nach.

Der einzige Mensch, der es überhaupt mit dem Madonna-Mörder in Verbindung hätte bringen können, war Claudia Reynolds, die Hure, die lange genug gelebt hatte, um mit der Polizei zu reden. Aber falls sie sein Tattoo gesehen hatte, warum war dieses Wissen nicht vor sechzehn Jahren öffentlich gemacht worden? Nein. Es musste eine neuere Erkenntnis sein. Denk. Denk nach. Ivy Dunlap.

Er wusste nicht, warum ihm ihr Name in den Sinn kam, aber so war es. Was hatte sie mit dem Fall zu tun? Die Antwort war irgendwo. Er musste sie nur finden. Musste darauf kommen. Und das würde ihm gelingen. Er war klug. Sehr klug.

Er richtete sich auf und öffnete seinen Spind, entfernte schnell das Kombinationsschloss. Dann nahm er vorsichtig eine Schuhschachtel aus dem obersten Regal. Er setzte sich auf sein Bett und nahm den Deckel ab. Darin lag ein baby-blaues Tuch.

Er nahm das Tuch hoch und wickelte das Ding aus, das sich darin befand, hob es ans Licht.

Er wusste gar nicht, warum er sich die Tätowierung überhaupt hatte machen lassen. Er vermutete, es war sein letzter

Versuch gewesen, die Kuh oben zufriedenzustellen. Aber es hatte ihr nicht gefallen. Gar nicht. Sie hatte einen Blick darauf geworfen, gegrunzt und gesagt, sie hoffte, er hätte dafür kein Geld bezahlt.

Es hatte sich gut angefühlt, es herauszuschneiden, es aus seinem Körper zu entfernen. Hinterher, als das Blut über seinen Arm lief, von seinen Fingerspitzen troff, hatte er überlegt, das Tattoo zu zerhacken. Er konnte Spaghettisoße damit kochen und sie dieser blöden Kuh zum Fraß vorsetzen. Aber das war ihm nicht richtig vorgekommen. Also hatte er es in ein Glas Formaldehyd geworfen. Er hatte keine Ahnung, was er damit anstellen sollte, war aber sicher, dass sich etwas ergeben würde.