5
Langsam begriff sie, dass sie zurück in Chicago war. Ein Teil Ivys konnte immer noch nicht glauben, dass sie hier war, in der Stadt, in der so schreckliche Dinge geschehen waren, in der ihr Leben sich so dramatisch verändert hatte.
Sie konnte spüren, wie sie durchdrehte.
Nicht ausrasten. Nicht, so lange er da war. Nicht, so lange irgendjemand da war. Nicht ausrasten.
Es ist das, was ich wollte, sagte sie sich. Das stimmte, aber das hieß nicht, dass es ihr nicht eine Höllenangst machte.
Der Lärm. Das Chaos. War es immer schon so schlimm gewesen? Autos hupten, Sirenen jaulten, Busbremsen quietschten, und es stank nach Diesel, wenn die großen Gefährte von den Haltestellen losfuhren. Baustellen, mit Holzplanken überbrückte Löcher in den Bürgersteigen, Presslufthämmer. Wie hielten die Leute das aus? Wie konnten sie auch nur einen Gedanken fassen? Funktionieren?
Der Mann neben ihr schien nichts davon zu bemerken.
Es war zwei Uhr nachmittags. Sie fuhren durch den Stadtverkehr, Max Irving steuerte mit einer Hand. Autos vor ihnen, hinter ihnen, links und rechts. Sie versuchte, sich abzukapseln, den Verkehrslärm auszublenden, die Vergangenheit auszublenden, die plötzlich nicht mehr die Vergangenheit zu sein schien. Verwirrung. Große Verwirrung.
»Da.« Max erschreckte sie, indem er ihr eine Akte in den Schoß warf. Sie starrte die großen, schwarzen Buchstaben an: Fall Sheppard.
»Los. Machen Sie sie auf. Deswegen sind Sie hier, nicht wahr?«
Ivy schlug die Akte auf.
Das Erste, was sie sah, war ein Hochglanz-Farbabzug einer ermordeten Mutter. Eine Nahaufnahme des Gesichts. Glattes, kinnlanges blondes Haar, voller Blut, die blauen Augen weit aufgerissen. Leichenflecke auf der rechten Seite. Leichenflecke entstanden, wenn das Herz kein Plasma mehr erzeugte. Die roten Blutzellen sammelten sich wie der Satz im Wein und färbten die Haut irgendwo zwischen rot und lila. Auf dem Foto konnte jeder; der auch nur ein wenig über Kriminaltechnik wusste, sehen, dass das Opfer mehrere Stunden nach Eintritt des Todes bewegt worden war. Die Nahaufnahme des Kopfes war also, so entsetzlich sie erschien, nicht nur zum Schocken gemacht worden - obwohl Ivy recht sicher war, dass Irving sie ihr genau deshalb hingeworfen hatte, sie genau deshalb nach oben gelegt hatte. Nicht dumm. Aber sie weigerte sich, sein Spiel zu spielen. Sie klappte die Akte zu und schloss die Augen, legte den Kopf gegen die Kopfstütze.
»Sie werden doch jetzt nicht kotzen, oder?«
»Wenn doch, würde ich es sicher nicht vorher ansagen.«
Sie hatte zwar noch nie ein Profil in einem echten Fall erstellt, aber sie hatte die letzten zehn Jahre damit zugebracht, Profile über jeden anzufertigen, den sie traf, von ihrem Bankberater bis zum Obstverkäufer.. Ivy hatte ihre Fähigkeiten derart entwickelt und war so gut darin geworden, Menschen nach ihrem Äußeren zu beurteilen, dass die Gefahr bestanden hatte, dass sie zur Hauptattraktion auf der alljährlichen Weihnachtsfeier der psychologischen Fakultät avancierte.
Irving war leicht. Ein heißblütiger Detective, der ausgebrannt war, sich das aber nicht eingestehen wollte. Er hatte Humor gehabt, aber jetzt hatte er keine Zeit mehr für solchen Unfug. Probleme zu Hause. Wenn man ihn ansah, hätte ein Laie vielleicht auf eine heißblütige Blondine getippt, die er ignorierte, es sei denn, sie stritten über seinen Job und mangelnde Aufmerksamkeit. Aber Ivy hatte seine zerknitterten Klamotten und seine Zerstreutheit bemerkt - typische
Anzeichen für Eltern, vor allem alleinerziehende Eltern, die zwei Welten verbanden: die Arbeitswelt und die Familie.
Was sie nicht verstand, war, was er gegen sie hatte. »Warum lehnen Sie mich derart ab?« Sie öffnete die Augen und hob den Kopf. »Weil ich eine Frau bin?«
»Das hat nichts damit zu tun.«
»Weil ich aus Kanada bin?«
»Ach, lassen Sie's, ich will nicht darüber reden.«
»Aber ich.« Alles nur, um sie von der Vergangenheit abzulenken. Vorhin war sie zu müde gewesen, sich mit ihm zu streiten. Jetzt war es ihr nur recht.
»Ich habe nichts gegen Kanadier. Ich glaube bloß, dass wir auch ohne Ihre Hilfe klarkommen.«
»Sie sind bisher nicht damit klargekommen.«
»Ich hatte den Fall ja auch nicht.«
Jemand schnitt ihn. Er stemmte sich auf die Hupe, dann übersah er eine Ampel. »Scheiße«, sagte er und schlug mit der Hand auf das Steuerrad. Offensichtlich war er nicht ganz so zerstreut, wie sie gedacht hatte.
Auf dem Rücksitz, direkt hinter ihm, entschied Jinx, dass es Zeit war, sich zu beschweren, indem er ein langes, eigenartiges, drogenschwangeres Miauen ausstieß.
»Wollen Sie wissen, was mich nervt?«, fragte Irving, und seine Stimme und Haltung zeigten zunehmende Gereiztheit. »Die Katze. Die verdammte Katze. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand, der seine verdammte Katze mitschleppen muss, auch nur einen Dreck über Serienmörder weiß. Ich glaube nicht, dass jemand, der dauernd zusammenzuckt« - er schnipste mit den Fingern vor ihrem Gesicht, und sie zuckte zusammen und wollte sich in ihren Sitz verkriechen - »wenn auch nur jemand hupt, mit einem solchen Fall umgehen kann. Ich glaube nicht, zehn Jahre die Nase in Bücher zu stecken ist die richtige Vorbereitung für einen solchen Job. Ich habe mir den Arsch abgearbeitet, um hierher zu kommen. Ich war auf der George Mason University. Ich wurde in
Quantico ausgebildet. Wissen Sie, wie schwer es ist, nach Quantico zu kommen?«
Okay, das konnte sie verstehen, sie konnte begreifen, warum sie ihn ärgerte. Sie wünschte, sie könnte ihm die Wahrheit sagen, könnte ihm erklären, warum sie mindestens genauso qualifiziert war wie er, aber das ging nicht. Außerdem war es egal. Es ging nicht darum, was Max Irving von ihr hielt oder wie schlecht sie ihr Profil darbot. Es ging darum, den Mörder zu fassen.
Ivy war willens, das erste Apartment zu nehmen, das sie sich ansahen, nur um es hinter sich zu haben, nur um aus Irvings Wagen herauszukommen, aus dem Lärm, um Jinx einzugewöhnen, ein paar Aspirin zu nehmen und allein zu sein. Sie musste jetzt allein sein, damit all das sich setzen konnte. In Chicago sein, am Ort des unaussprechlichen Schreckens. Hier. Jetzt. Um sie herum.
Erinnerungen. Sie drängte sie zurück, hielt sie zurück ... Aber sie sammelten sich. Sie wusste nicht, wie viel länger sie das noch durchstehen konnte, wie lange es noch dauerte, bis das alles sie überrollte.
»Das ist nichts«, sagte Irving, während sie das mögliche Apartment besichtigten.
Ivy öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber Irving nahm sie am Arm und zog sie hinter sich her durch den dämmerigen Korridor; der nach Marihuana, Schweiß und Kohl roch, und nach dem verrotteten Muff, den Gebäude so an sich haben, wenn die Termiten mit ihnen fertig sind.
Sie stemmte sich auf den Boden und entzog ihm ihren Arm, ärgerte sich zum ersten Mal an diesem Tag, zum ersten Mal seit... Jahren. »Was zum Teufel machen Sie da?«, fragte sie. »Ich hindere Sie an einem blöden Fehler.« Sie wollte ihm eine reinhauen. Stattdessen schubste sie ihn mit beiden Händen, während der Manager aus der Tür des
Apartments, das sie gerade verlassen hatten, zusah. »Sagen Sie mir nicht, was ich zu tun habe«, sagte sie. »Sind Sie immer so ein Arschloch?«
»Nur wenn ich muss.«
»Wie beruhigend.«
Er rasselte Gründe herunter warum sie das Apartment nicht nehmen sollte. »Schlechtes Schloss. Schlechte Fenster. Kakerlaken. Und ... im Flur wohnt ein Crackhead.«
Sie folgte seinem Blick in eine dunkle Ecke, in der sie gerade eben den Körper eines Menschen ausmachen konnte, der sich auf den Fliesen zusammengerollt hatte.
Es gab Zeiten, in denen man sich stark machen musste, und Zeiten, in denen man nachgeben sollte. Ihretwegen konnte Irving diesen Streit für sich reklamieren.
Sein Handy klingelte, und er ging schnell ran.
»Wann hast du Schluss?«, fragte Irving den Anrufer. Dann: »Ich hole dich ab. Verstanden? Du fährst nicht mit jemanden mit, du gehst auch nicht zu Ryan.« Eine Pause. »Keine Ausreden. Ich bin um neun da.«
Wenn Kinder klein waren, setzte man sie beim Babysitter ab und machte sich den Rest des Tages keine Sorgen. Wenn sie älter wurden, Teenager, war es ganz anders.
»Ein Teenager?«, fragte sie, nachdem Max aufgelegt hatte.
»Ja.« Großes Gewicht in dem kurzen Wort.
»Aha.« Sie nickte.
»Ein Sohn«, setzte er hinzu, als könnte er ihr damit sagen, wie viel schwieriger es wäre, einen Sohn als eine Tochter zu haben. Was ihr verriet, dass er keine Tochter hatte.
»Aha.«
»Haben Sie Kinder?«
Sie war das so oft im Leben gefragt worden, dass sie sofort und ohne Gefühlsausbruch antwortete. »Nein, aber meine Freundin Helen sagt, einen Teenager im Haus zu haben ist wie im Kriegsgebiet leben, man muss jederzeit kampfbereit sein.«
Er lachte und steckte sein Telefon weg. »Ethan ist ein guter Junge. Ein großartiges Kind. Wir haben bloß ein paar Schwierigkeiten. Das schaffen wir schon.«
Es waren nicht so sehr die Worte, sondern die Gefühle und die Betonung dahinter, die Ivy verrieten, dass er seinen Sohn sehr liebte.
Mit dem nächsten Apartment war er, wenn auch zögernd, einverstanden. Es war möbliert, was hieß, dass man Laken, Handtücher, Fernseher und Geschirr hatte. Außerdem gab es einen Block entfernt einen Lebensmittelladen.
Die Wohnung hatte praktisch kein Wohnzimmer. Wenn man eintrat, stand man sofort in der Küche. Das Erste, was man roch, war das Gas des Zündflämmchens im Ofen. Es gab einen kleinen Küchentisch mit zwei schwarzen Stühlen, zwei Schritte daneben eine weiße Emaillespüle. Links von der Kochzeile befand sich das Schlafzimmer, davon ab ging das Bad. Neben dem Doppelbett gab es ein Fenster, das so dick in Weiß lackiert war, dass man es schwer auf und zubekommen würde. Ivy konnte sehen, dass das Gebäude einmal ganz schön gewesen war, vor vielen Jahren; es hatte immer noch eine Spur verblichener Eleganz, zum Beispiel die schönen Holzböden und die schmucken Deckenlampen.
Hier lebten Studenten. Und Geschäftsleute, die eigentlich woanders zu Hause waren. Bauarbeiter. Wurzellose Menschen in Übergangsphasen ihres Lebens. Ein paar Kinder. Mütter während der Scheidung. Oder vielleicht hatten die Männer sie einmal zu oft geschlagen, und sie waren ausgezogen.
Es war kein fröhliches Haus. Aber ein ordentliches Haus.
»Bringen Sie noch einen Riegel an der Tür an«, bat Max den Vermieter.
Ivy holte Jinx aus Max' Auto. Max schien plötzlich ganz begierig, ihren großen schwarzen Koffer die zwei Treppen hochzutragen. Er stellte ihn hinter die Tür und legte die Akten - eine dicke, eine dünne - auf den schmalen Küchentresen.
»Es gibt keine direkte U-Bahn von hier zur Grand-Central-Polizeiwache«, erklärte ihr Max. »Sie müssen mit der Green Line zum Hauptbahnhof fahren und dann den Metrobus nehmen.«
»Das bekomme ich schon hin.« Sie kannte diese Gegend Chicagos nicht, hatte aber einen guten Orientierungssinn.
Nachdem Max gegangen war, lockte Ivy den immer noch benommenen Jinx, sie öffnete seinen Käfig, damit er herauskommen konnte, wenn ihm danach war. Sie stellte ihm Wasser hin, das zu trinken er sich weigerte, und schüttete Trockenfutter in eine Schale.
Solange er noch benommen war, ging sie zum Laden an der Ecke und kaufte ein paar Esssachen, zusammen mit Drogerieartikeln wie Zahnpasta, Toilettenpapier und Reinigungsmitteln.
Im Apartment zog sie gelbe Gummihandschuhe an und reinigte das Badezimmer - eine Badewanne mit Klauenfüßen, ein Waschbecken, ein Medizinschränkchen und eine Toilette - mit einem so starken Desinfektionsmittel, dass ihre Augen und ihr Hals brannten.
Als sie erledigt hatte, was notwendig war, damit ihr neues Heim bewohnbar erschien, und sie das Unausweichliche nicht mehr länger hinausschieben konnte, setzte sie sich an den Tisch und öffnete die dicke Akte, auf der stand: »Madonna-Morde«.