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Auf japanisch heißt Sachi »Kind der Glückseligkeit«. LaDonna Anderson war keine Japanerin, aber sie hatte an einem Schüleraustausch nach Japan teilgenommen. Das war eine Ewigkeit her. Und obwohl sie oft an ihre japanischen Gasteltern dachte und gehofft hatte, sie eines Tages zu besuchen, kam es nie soweit. Sie hatte einen freundlichen, geduldigen Mann geheiratet, der von der Arbeit in einer Kohlenmine ein Emphysem entwickelt hatte. Sie hatten nur ein Kind, und LaDonna nannte ihre Tochter Sachi, Kind der Glückseligkeit.
Sachi war ein hübsches Mädchen, das zu einer hübschen Frau heranwuchs. Als ihr Vater starb und LaDonna zu überwältigt war, um auf der Beerdigung zu sprechen, hielt Sachi eine wundervolle Grabrede. So ein Mensch war sie. Jemand, der alles schaffte.
Und als sie versehentlich schwanger wurde und erklärte, dass sie das Baby behalten und ohne Hilfe des Vaters aufziehen würde, hatte LaDonna gedacht: Ja, das schaffst du. Und sie dachte: Es gibt keine Zufälle. Nur Wunder.
Im Verlauf von Sachis Schwangerschaft sprachen sie und ihre Tochter oft darüber, dass sie eines Tages nach Japan fahren würden. Es war ein Traum, den sie über die Jahre oft unterhalten hatten, und jetzt beinhaltete dieser Traum ein Kind. Sie würden Sachis Baby mitnehmen ...
Das Baby wurde ein Junge. Sachi nannte ihn Taro. Japanisch für »Erstgeborener Sohn«.
Es war nicht billig gewesen, die Geburtsanzeige in der Zeitung zu schalten. Obwohl LaDonna sich die vierzig Dollar dafür eigentlich nicht leisten konnte, hatte sie es trotzdem getan. Sie wollte, dass all ihre Freunde erfuhren, wie stolz sie auf ihren neugeborenen Enkel war, stolz auf ihre wunderschöne Tochter.
LaDonna arbeitete nachts in einem Laden nur drei Blocks von ihrer und Sachis Wohnung entfernt. Sie konnte am Abend, wenn sie zur Arbeit ging, eine Zeitung kaufen, aber so lange wollte sie nicht warten. Und manchmal waren abends auch keine Zeitungen mehr übrig.
Sie stand früh auf und ging zum Supermarkt, sie kaufte eine Zeitung und einen Becher aromatisierten entkoffeinierten Kaffee für Sachi und einen Becher mit Koffein für sich. Sachi verzichtete im Moment auf Koffein und Schokolade, weil sie stillte. Manche Leute sagten, es sei egal, was eine Mutter äße, es hätte keine Auswirkungen auf die Muttermilch, aber LaDonna wusste es besser. Bohnen und Rosenkohl verursachten beim Baby Koliken, Koffein hielt es wach, und Gott wusste, dass eine Mutter darauf angewiesen war, dass ihr Baby so viel schlief wie nur möglich. LaDonna eilte mit der Zeitung nach Hause. Sie wohnten seit über drei Jahren in der Wohnung an der Mulberry. Lange genug, dass sie nicht mehr die Namen wahrnahm, die in die Flurwände geritzt waren, oder bemerkte, dass das Geländer im zweiten Stock lose war. Alles außerhalb ihrer Wohnung war unwichtig. Denn dort drinnen war ihre Welt, ihre sichere, wunderbare Welt.
In der Küche schnitt LaDonna die Geburtsanzeige aus und klebte sie mit einem Magneten an die Vorderseite des Kühlschranks. Später würde sie Taro« Krankenhausfoto und die Geburtsanzeige rahmen lassen. Als Überraschung für Sachi. Sie konnte es mit all ihren anderen Schätzen aufbewahren.
In der Wohnung war es noch ruhig, also ließ sie den weißen Plastikdeckel auf Sachis Kaffee, öffnete ihren eigenen Becher und setzte sich an den kleinen runden Tisch vor dem großen Fenster, um die Zeitung zu lesen. Wenig später hörte sie das Baby und dann Sachis verschlafene Stimme. Danach
war es still, und LaDonna vermutete, das Sachi ihr kleines, rotgesichtiges Baby stillte, sein glattes schwarzes Haar streichelte.
Später kam Sachi in ihrem Bademantel heraus und legte das eingemummelte Baby in LaDonnas ausgestreckte Arme.
»Ich habe dir Kaffee mitgebracht«, sagte LaDonna, die den Blick nicht von dem Baby lösen konnte, das in ihre Richtung schielte. »Himbeer, entkoffeiniert.«
»Du warst schon unterwegs?« Sachi hob den Deckel und schnupperte. »Ah, riecht fast so gut wie der mit Koffein.« »Ich wollte eine Zeitung holen.« Dampf stieg aus ihrem Becher auf, als Sachi ihn an den Mund hob. Sie nahm vorsichtig einen Schluck. »Warum hast du nicht bis heute Abend gewartet?« »Da. Guck mal an den Kühlschrank.« Sachi tat vier Schritte und beugte sich vor. »Eine Geburtsanzeige?«, fragte sie erstaunt. »Mom, niemand schaltet mehr Geburtsanzeigen. Außer man lebt in einer Kleinstadt, wo jeder jeden kennt und in der Wochenzeitung steht, dass Cousine Myrtle aus dem Dörfchen vier Meilen weiter auf Besuch kommt. Oder die ein Foto mit jemand mit einem blöden Hut und einer Brille bringen, und der Bildunterschrift: >Witzig, witzig, guck mal, du bist vierzig.<«
LaDonna war enttäuscht. Sie hatte gedacht, Sachi würde sich über die Geburtsanzeige freuen. »Ich wollte es aber in der Zeitung haben«, sagte sie störrisch, frustriert darüber, dass sie es erklären musste. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Sachi die Dinge so anders sehen würde.
»Warum?«
»Weil ich so stolz auf euch beide bin. Auf meine Sachi und meinen Taro.«
Sachi setzte sich ihrer Mutter gegenüber und lächelte dieses süße, weise Madonna-artige Lächeln, das sie so viel älter als zweiundzwanzig erscheinen ließ. Sie roch nach Babypuder und Himbeerkaffee, und das gedämpfte Sonnenlicht, das
zum Fenster hereinfiel, verlieh ihr eine zarte goldene Patina »Das weiß ich doch, Mom.«
LaDonna wollte diesen Augenblick für immer bewahren die Zeit anhalten, umarmen, absorbieren, den Moment begreifen. Der perfekte Kreis der Liebe. Mutter und Kind, Mutter und Kind.
Am Abend ging LaDonna zur Arbeit, Sachi blieb auf einer Sofaecke sitzen, sie füllte Geburtsanzeigen für Freunde und Familie aus, während Taro friedlich neben ihr schlief. Später wechselte Sachi seine Windel, stillte ihn, legte ihn dann hin für, wie sie hoffte, wenigstens ein paar Stunden, damit sie auch ein wenig schlafen konnte.
Sie träumte davon, in einem Auto umherzufahren und verzweifelt nach ihrem verschwundenen Baby zu suchen, als sie ein Klopfen hörte. Sie dachte, es wäre früh am Morgen und ihre Mutter hätte den Schlüssel vergessen, daher schlurfte sie verschlafen zur Tür und öffnete sie.
Ein Mann mit einer dunklen Kapuze stand ihr gegenüber.
Adrenalin.
Sie versuchte, die Tür zuzuschlagen. Er drückte sie auf, griff sofort nach ihrem Hals, unterband ihren Schrei, bevor er aus ihrem Mund dringen konnte.