21

Sie konnte nicht sagen, wie oft sie geträumt hatte, wieder in ihrer alten Wohnung in Chicago zu sein. Hunderte von Malen. Vielleicht Tausende von Malen. Und jedes Mal erlebte Ivy alles so, wie es stattgefunden hatte - bloß wusste sie im Traum immer, dass es ein Traum war -, und sie sah immer das Gesicht des Mörders, ein Gesicht, an das sie sich nach dem Aufwachen jedoch nie erinnern konnte. Traumtherapeuten sagen gern, dass jeder Mensch in einem Traum einen Aspekt des Träumenden darstellt. Und dass der Traum eine Metapher ist.

Aber Ivy war sicher dass der Traum eine Reise zurück zu dem undenkbaren Ereignis war; das ihr ganzes Leben verändert hatte.

Man sagte auch, dass man Träume immer wieder träumt, bis man sie »kapiert«, bis man die Lektion lernt, die das Unterbewusste einem beibringen will.

Sie hatte geglaubt, dass sie vielleicht das Gesicht des Mannes sehen sollte, sich an das Gesicht erinnern sollte. Aber wie konnte sie sich an etwas erinnern, was sie nie gesehen hatte? »Ist es hier?«, fragte Irving und setzte an zum Einparken. Ivy schaute quer über die Straße auf das fünfstöckige Ziegelgebäude, das einen halben Block einnahm. Anders. Ganz anders. Vielleicht war das gut.

Die abblätternde weiße Farbe war mit einem Sandstrahler entfernt worden, um zu enthüllen, was sie verborgen hatte: wunderbare rote Ziegel. Auch der grüne Leinenbaldachin, unter dem man jetzt zur Eingangstür gelangte, war neu. Auf beiden Seiten befanden «ich Blumenbeete voller Farben und immergrüner Gewächse.

»Es sieht tatsächlich einladend aus«, sagte Ivy erstaunt, den Blick immer noch auf das Gebäude gerichtet, während sie sich auf ihrem Sitz seitwärts drehte und den Hals reckte, um durch Irvings Fenster zu schauen.

Er setzte den Wagen elegant in eine Lücke, an die Ivy sich nie herangewagt hätte. Mit einer Effizienz, an die sie sich zu gewöhnen begann, schaltete er den Motor ab, und sie stiegen aus.

Max wollte gerade die vier Spuren überqueren, die von alten Laternen erhellt und durch gelb leuchtende Doppelstreifen voneinander getrennt waren, als er bemerkte, dass Ivy zögerte; mit beiden Händen klammerte sie sich an ihre kleine Geldbörse.

Sie trug einen roten Rock, der sich elegant an ihre runden Hüften schmiegte und über ihre Knie reichte. Ihre Beine waren nackt. An den Füßen trug sie die schweren Schuhe, die sie beinahe immer anhatte. Ihr Top war aus schwarzem Strick und leicht tailliert.

Er starrte sie an.

Starrte etwas länger.

»Vergessen Sie die Parkuhr«, sagte er.

»Nein ... Ich werfe besser Geld ein.« Sie grub in ihrem Portemonnaie, und da begriff er, dass sie bloß Zeit schinden wollte.

Er quetschte sich zwischen den Stoßstangen hindurch zu ihr auf den Gehweg. Er fasste ihren Ellenbogen, und sie schaute auf zu ihm mit ihren kurzen roten Fransen in der Stirn und Lippen in der Farbe ihres Rocks. War irgendetwas anders? Trug sie mehr Make-up oder so?

»Wir müssen das nicht machen«, sagte er zu ihr.

Sie warf fünfundzwanzig Cent in die Parkuhr. »Ich will nur, dass Sic keinen Strafzettel bekommen.«

»Ich meine nicht die Parkuhr - und im Übrigen müsste ich den Strafzettel nicht zahlen. Ich meine das.« Er deutete in Richtung des drohenden Wohnblocks.

Sie schaute hinüber dann zu ihm, und er konnte erkennen dass die erneute Erkenntnis dessen, was sie vorhatte, sie erschütterte. Sie lächelte unsicher, lachte leise, dann ließ sie ihre kleine Geldbörse zuklicken und steckte sie in eine kleine schwarze Ledertasche, die sie als eine Art tiefsitzenden Gürtel trug.

Sie wandte sich ein wenig ab und hob eine Hand an die Stirn, als wollte sie ihre Augen vor etwas schützen. Dann fuhr sie sich mir den Fingern durch die Haare und stieß den Atem aus. »Die Mission ist weg. Sie war dort drüben.« Sie zeigte in die angegebene Richtung.

»Chicago hat sich in den letzten sechzehn Jahren mächtig verändert.« »Und das Haus. Es sieht ganz anders aus.« »Vielleicht ist das gut.« »Aber warum schließen sie eine Mission?« »Sie haben eine neue gebaut. Drüben an der Lurdes. Da können hundert Leute schlafen.« »Oh. Ja. Das ist gut.«

»Wir müssen das nicht machen«, sagte er wieder. Sic sah nach rechts und links, dann trat sie vom Gehweg und überquerte die Straße. Max folgte ihr eilig, er ging neben ihr, als sie den Weg zum Haus begann.

»Ich muss das machen.« Sie hielt inne. »Keine Sorge, ich werde Omen nicht zusammenbrechen.«

Er hob beide Hände. »Das hab ich auch nie gesagt. Nicht mal gedacht.« Aber er hatte es natürlich gedacht. Tatort. Der Ort, an dem ein Serienmörder sie mit einem Messer angegriffen und ihren neugeborenen Sohn ermordet harte. Da war ein Zusammenbruch schon fast zwingend.

in der Lobby klingelten sie beim Hausmeister. Eine Männerstimme meldete sich. »CPD«, sagte Max in den Lautsprecher. »Was?«

»Polizei. Mordkommission.«

Der Summer ging, sodass sie eintreten konnten. Das Büro befand sich direkt rechts hinter der Sicherheitstür. Ein klein«, besorgt aussehender Mann erhob sich hinter seinem Schreibtisch, als sie hereinkamen.

»Mordkommission ? «, fragte er mit weit aufgerissenen Augen und wedelte wie wild mit den Händen. »Wer ist tot? Wer wurde ermordet?«

Max zeigte ihm seine Marke, dann steckte er sie zurück in die Tasche.

»Niemand. Jedenfalls nicht jetzt. Wir wollen uns nur eine der Wohnungen ansehen.« »283«, setzte Ivy hinzu.

»283?«, fragte der Mann. »Warum ausgerechnet diese eine Wohnung, wenn ich fragen darf?« »Polizeiangelegenheit.« »Wohnt jemand da drin?«, fragte Ivy. »Wir benutzen es als Lager. Es wurde seit Jahren nicht mehr vermietet.«

Er unterbrach sich abrupt, dann wedelte er mit einem Finger in Max' Richtung.

»Diese Morde. Darum geht es. Diese Frauen. Die Babys. Ich soll es den Mietern nicht sagen, aber 283 ist das Apartment, in dem vor Jahren eine Frau und ihr Baby ermordet wurden. Danach wollte niemand mehr dort einziehen, deswegen wurde es zum Lager. Selbst nach dem Umbau vor fünf Jahren, als alle den Madonna-Mörder vergessen hatten, haben wir entschieden, es so zu lassen.«

»Wie lange arbeiten Sie schon hier?«, fragte Max.

»Ich habe nach dem Umbau angefangen.«

»Wollte jemals jemand ausgerechnet dieses Zimmer mieten?« »Mieten?«

Der Mann hatte die nervtötende Angewohnheit, jede Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten. »Ich glaube nicht, Warten Sie. Der Hausmeister vor mit hat mir erzählt,

dass irgendein Typ die 283 mieten wollte. Ihm war es egal ob noch Blut an den Wänden war.«

»Haben Sie den Namen dieses Mannes?«

»Vielleicht. Wenn er einen Antrag ausgefüllt hat.«

»Überprüfen Sie das doch bitte, ja? Und den Namen des ehemaligen Hausmeisters. Den brauche ich auch.«

»Der ist alt. Echt alt. Altersheim-alt. Der drehte schon durch, als ich hier anfing.«

»Ich möchte trotzdem mit ihm reden.«

»Ja, okay. Ich werde sehen, was ich tun kann.«

»Danke.«

»Wollen Sie jetzt die Wohnung sehen? Warten Sie. Ich hole den Schlüssel.«

Eine Minute später fuhren sie in einem quietschenden Fahrstuhl hoch in den zweiten Stock, dann ging der Mann mit ihnen durch den Flur Richtung 283.

Alles war neu. Neue Farbe, neue Tapeten, neuer roter Teppich, neue Lampen. Aber der Boden unter Ivys Füßen war immer noch uneben, gebeugt von vielen, vielen Jahren Durchgangsverkehr. Und der Flur, der ewig lang schien, wirkte immer noch ein wenig schief, als wäre die Perspektive nicht ganz richtig.

Zu schnell standen sie vor Nummer 283. Die Tür war immer noch dieselbe, jetzt aber grün statt klebrig braun gestrichen. Aber mit neuer Türklinke, neuem Schloss, neuen Discounter-Metallziffern.

Der Hausmeister schloss auf und öffnete die Tür. Sie standen alle drei da und schauten hinein.

Ivys Herz sank.

Der Umbau hatte nicht bis Zimmer 283 gereicht.

Irvings Stimme schien aus einer anderen Dimension in ihre Richtung zu hallen, gedämpft, undeutlich. »Dürfen wir uns allein umsehen?«

Eine andere Stimme antwortete.

»Was? Oh. Oh, sicher.«

Dann einige schnelle Schritte, gefolgt von der sich schließenden Fahrstuhltür.

Ivys Füße schienen im Schlamm zu stecken, aber sie trat vor in das Zimmer. Ihr Herz schlug so schnell, dass sie sich fragte, ob sie gleich einen Herzschlag bekäme.

Wäre das nicht eigenartig?

Hier zu sterben?

Auf diese Art den Kreis zu schließen?

Das Erste, was sie traf, war der Geruch. Dieser abscheuliche Geruch nach altem Haus, gemischt mit dem Geruch all der Menschen, die jemals auf den zahlreichen fleckigen Matratzen geschlafen hatten, die an einer Wand lehnten, und all den Leuten, die jemals auf den vier Porzellantoiletten gesessen hatten, die alle ziemlich heruntergekommen wirkten. Es roch nach altem Schweiß und Urin, und nach Stoff, in dem der Staub, die Hautabschilferungen und Milben von hundert Jahren steckten.

Ivy drückte sich an einer der Toilettenschüsseln vorbei, die auf der Seite lag wie ein verwundeter Soldat.

»Erstaunlich«, bemerkte Irving und ging an einem Stapel Leinen-und Chenille-Bettbezügen vorbei, die aussahen, als wären sie noch aus den Fünfzigern.

Es war ein Studio, sehr ähnlich Ivys derzeitiger Wohnung. Direkt hinter der Eingangstür befanden sich eine Küche und ein Schlafbereich, in der rostigen Spüle lagen Klempner- und Elektrikerutensilien, daneben lange, schmale Schachteln, in denen Neonröhren steckten. Es gab kein Wohnzimmer. Das Bett stand immer noch da. Neben dem Fenster, durch das der Madonna-Mörder entkommen war. Keine Laken. Keine Bettdecke. Bloß eine fleckige, nackte Matratze. Dieselbe Matratze?

Sie konnte nicht näher treten.

Ihr Blick zuckte nach links, wo die Wiege gestanden hatte. Sie war verschwunden, Gott sei Dank. Die kaputte Lampe war weg, die zersplitterte Schneekugel. Aber die Matratze.

Die fleckige Matratze. War es dieselbe? Und wenn ja, warum um Himmels willen hatte man sie nicht entsorgt?

Obwohl sie sich Hunderte von Malen im Traum und in der Wirklichkeit vorgestellt hatte, an genau dieser Stelle zu stehen, hatte sie nichts wirklich darauf vorbereiten können.

Warum hatten sie das Zimmer nicht entkernt? So wie es war, wirkte es beinahe wie ein Monument der Schrecken, die sich hier zugetragen hatten. Für immer erstarrt in der Zeit.

»Glauben Sie, er war derjenige, der das Zimmer mieten wollte?«, fragte sie. Sie musste nicht erklären, wer »er« war.

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Könnte auch nur jemand gewesen sein, der sagen wollte, dass er hier gewohnt hat. So wie die Leute auch immer in dem Zimmer schlafen wollen, in dem John Belushi gestorben ist.« »Ich bin nicht berühmt.«

»Menschen sind teuflisch neugierig, solange es nichts mit ihnen zu tun hat.«

Sie begann, sich zu beruhigen. Ihr Herz schlug nicht mehr so schnell.

Irving schien zu spüren, dass sie langsam ihre Gefühle im Griff harte, und fragte: »Löst das irgendwelche neuen Erinnerungen aus? Die Sie vielleicht vergessen haben?« Bilder huschten durch ihren Geist. Ein fremder Mann mit einer dunklen Kapuze beugte sich über ihr Baby.

»Kein Weinen«, sagte sie. »Mein Baby hat nicht geweint.« Sie fuhr sich mit einer Zunge über die trockenen Lippen. »Der Mörder, er hat da gestanden. Über die Wiege gebeugt. Ich habe das Licht angeschaltet und ihn gesehen.«

»Hat er aufgeschaut, ab sie das Licht eingeschaltet haben? Erinnern Sie sich an sein Gesicht?«

Sie atmete tief ein und konzentrierte sich intensiv, dann schüttelte sie den Kopf, »Er muss doch aufgeschaut haben, oder?«

Irving zuckte auf eine Art und Weise mit den Schultern, die

verriet, dass er derselben Meinung war. »Möchte man meinen.«

Er wirkte so fremd in dem Todeszimmer. Er war Teil ihres neuen Lebens, nicht des alten. »Hypnotisieren Sie mich«, sagte sie.

»Was?«

Sie konnte sehen, dass er glaubte, sie missverstanden zu haben.

»Ich weiß, dass Sie ausgebildeter Hypnotiseur sind. Ich weiß, dass Sie einmal einen Vergewaltiger gefangen haben, indem Sie sein Opfer hypnotisierten.«

»Das habe ich aber nicht da getan, wo das Verbrechen stattgefunden hat. Und es ist lange her.«

»Ich würde denken, der Tatort ist doch das Allerbeste.« Sie legte den Kopf zur Seite und sah ihn an. »Machen Sie sich Sorgen, dass ich durchdrehe? Wahnsinnig werde?«

»Hatten Sie das die ganze Zeit vor? Und wussten, dass ich nicht mitmachen würde, wenn Sie es mir in der Zentrale sagen?«

Da hatte er hundert Prozent recht. »Sehen Sie.« Sie streckte ihm ihre Hände hin, um zu zeigen, dass sie nicht zitterten. »Ich fürchte mich nicht.«

»Damit sind Sie aber allein.«

»Wow. Ein Mann, der zugibt, sich zu fürchten. Ich bin beeindruckt.«

»Ich habe seit Jahren niemand mehr hypnotisiert.«

»Ich vertraue Ihnen.«

»Ich will nicht, dass Sie den Tod Ihres Babys noch einmal durchleben müssen.«

Ivy kaute auf ihrer Lippe und sah weg; sie sah nicht die Wände mit den Blutflecken, die aussahen wie Rost, sondern ihre Vergangenheit. Sie zog die Augenbrauen zusammen und rieb sich die Stirn mit Fingern, die sie so fest aufdrückte, dass sie weiß wurden. »Alles in Ordnung?«

 »Ja« Sie atmete tief durch und drückte die Schultern durch. »Ja.« Sie vollführte eine wegwerfende Handbewegung, dann atmete sie noch einmal tief ein. »Ich muss es tun.«

Ohne auf seine Zustimmung zu warten, da sie fürchtete, dass die nie käme, ließ sie sich auf die fleckige Matratze fallen, streckte sich aus, die Hände auf dem Bauch, die Augen geschlossen, den Kopf dort, wo ein Kissen hätte liegen sollen.

Max hatte in seiner Zeit als Detective der Mordkommission schon viele merkwürdige Dinge gesehen, warum also jagte ihm der Anblick ihres bleichen Gesichts vor dieser abscheulichen Kulisse so eine Gänsehaut über den Rücken?

Und wie konnte er Nein sagen zu etwas, das dem Fall helfen konnte, das helfen konnte, den Madonna-Mörder zu fassen?

Aus dem Chaos im Zimmer suchte er einen plastikbezogenen Küchenstuhl heraus und stellte ihn neben das Bett. Dann setzte er sich und begann, Ivy auf die Hypnose vorzubereiten. Er ließ sie eine lange Treppe hinuntergehen, die tiefer und tiefer in ihr Unterbewusstsein führte. Sie hatten die halbe Treppe geschafft, als er plötzlich stoppte.

Mit geschlossenen Augen runzelte sie die Stirn, sie wartete

darauf, dass er fortfuhr.

»Wissen Sie was?«, sagte er und legte seine Hände auf seine Knie, »ich werde das nicht machen.«

Sie riss die Augen auf.

»Warum nicht?«

»Wir machen es ordentlich. In einer neutralen Umgebung. Mit Videokamera und Aufnahmegerät.« Er konnte nicht glauben, dass sie ihn beinahe überredet hatte. »Das hier ist falsch. Viel zu abartig.«

Sie setzte sich auf und schwang ihre nackten Beine über die Bettkante. »Sie sind doch bei der Mordkommission. Sie sollten inzwischen an »abartig« gewöhnt sein.«

»An Abartigkeiten gewohnt man sich nie.«

Sie legte ihre Hände auf seine und drückte sie fest, während sie ihm in die Augen sah. »Uns läuft die Zeit davon. Es ist fast zwei Wochen her, dass Sachi Anderson ermordet wurde. Was heißt, der Mörder kann jederzeit wieder zuschlagen. Es ist egal, dass wir keine Dokumentation haben. Es macht auch nichts, wenn ich ausraste. Es macht nicht einmal etwas, wenn ich durchdrehe. Was übrigens nicht passieren wird. Ich habe für diesen Moment gelebt. Ich habe die letzten sechzehn Jahre darauf gewartet, diesen Wahnsinnigen zu erwischen. Machen Sie es nicht schwerer. Bauen Sie keine Hindernisse auf. Denn Sie wissen genauso gut wie ich, dass heute Nacht schon die Nacht sein kann. Heute Nacht kann Sie jemand anrufen und Ihnen sagen, dass es ein neues Opfer gibt. Tun Sie's«, bat sie. »Sie müssen es tun.«

Und er tat es.

Sie war ein gutes Gegenüber und erreichte schnell eine Trance. Und als er sie zurückführte in jene Nacht vor sechzehn Jahren, geschah alles so, wie sie es gesagt hatte, angefangen mit einem Geräusch im Zimmer, und dann schaltete Ivy das Licht an.

»Was tun Sie jetzt?«, fragte Max und beugte sich vor.

»Ich schreie«, sagte sie mit beängstigend monotoner Stimme.

Er schluckte. »Warum? Warum schreien Sie?«

»Da ist ein Mann in meinem Zimmer, er beugt sich über mein Baby.«

»Vergessen Sie nicht, Sie beobachten nur, Sie sind nicht wirklich dort. Der Mann, den Sie sehen - schaut er auf?«

»Ja.«

»Können Sie sein Gesicht sehen?«

Sie runzelte konzentriert die Stirn.

»Ivy, können Sie sein Gesicht sehen?«

»Ich heiße Claudia.« Sic runzelte weiter die Stirn, als schaute sie tief hinein in ihren eigenen Geist. »Eine blasse Wange. Blasse Haut. Sehr blasse Haut.«

»Ein Albino?« - »Nicht so. Eher wie jemand, der nicht viel rausgeht.«

»Seine Augen. Können Sie seine Augen sehen?« »Er trägt eine schwarze Kapuze. Sein Gesicht liegt im Schatten.«

»Was macht er jetzt?«

»Er lässt etwas fallen. Eine Schneekugel. Ich kann das Glas zerbrechen hören. Das Baby schreit nicht. Warum schreit mein Baby nicht? Ich schreie und stürze mich auf ihn. Aber er ist so stark. Seine Hände sind wie Klauen, wie Vogelklauen. Mit Krallen. Und er ist so stark. Er schleudert mich zurück aufs Bert. Die Lampe fällt zu Boden. Jetzt ist es dunkel im Zimmer. Und das Baby schreit nicht.« Ihre Stimme hob sich hysterisch. »Das Baby schreit nicht!«

»Haben Sie etwas gesehen? Bevor das Licht ausging?«

Ohne zu zögern sagte sie: »Mutter.«

»Mutter?«

»Ein MUTTER-Tattoo auf seinem Unterarm. Mit einer Rose. Einer roten Rose. Auf dem Tattoo sind Haare. Weiße Haut mit glatten schwarzen Haaren.«

Sie keuchte. »Er tut mir weh«, sagte sie. »Er tut mir weh!« All die Angst, all der Schrecken des Augenblicks zeigten sich in dem entsetzten Unglauben in ihrer Stimme.

»Kennen Sie ihn? Können Sie sein Gesicht sehen?«, drängte er. »Nein ... Nein .,.«

»Er kann Ihnen nicht wehtun. Niemand kann Ihnen wehtun«, versicherte ihr Max. Es würde nichts bringen, sie länger hypnotisiert zu lassen. Sie schluchzte einmal,

Max packte sie vorsichtig, aber fest an beiden Armen, sprach nahe an ihrem Gesicht, vor ihren fest geschlossenen Augen. »Sie sind in Sicherheit, Ivy. Sie sind in Sicherheit. Es ist sechzehn Jahre später, und Sie sind in Sicherheit.« Sie sog zitternd die Luft ein.

»Wir gehen jetzt die Treppenstufen eine nach der anderen hoch, bis wir oben sind. Wenn wir dort sind, werden Sie aufwachen. Wenn Sie aufwachen, werden Sie sich an nichts davon erinnern. Sie werden sich erholt und erfrischt fühlen. Sie werden sich an nichts erinnern. Die Treppe hoch. Eins, zwei, drei ... Sie haben die oberste Stufe erreicht, das volle Bewusstsein ... Jetzt öffnen Sie langsam Ihre Augen ...«

Max lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, während Ivy langsam die Augen aufschlug. Ihr unscharfer Blick klärte sich, als sie begriff, wo sie war. Benommen setzte sie sich auf und schwang die Beine über den Rand des Bettes. Sie legte die Arme an der Hüfte über Kreuz und versuchte, sich zu wärmen, obwohl sie wusste, dass es mindestens 26 Grad in dem kleinen Zimmer hatte.

»Erinnern Sie sich an etwas?«

Sie berührte ihr Gesicht. »Habe ich geweint?« Mit dem Handrücken wischte sie die Tränen weg. »Das ist das Letzte, was ich tun wollte. Vor Ihnen weinen.« Sie schniefte und wischte sich noch einmal über die Wangen, dann sagte sie: »Ich erinnere mich, dass ich versucht habe, sein Gesicht zu sehen, und es war wie in den Träumen, die ich manchmal träume, wo er immer von einer schwarzen Kapuze verborgen wird.«

»Ist es eine Kapuze wie die eines Henkers? Oder vom Tod? Etwas, das er trägt, wenn er mordet?«

Sie dachte einen Augenblick nach, dann schüttelte sie den Kopf. »Es ist ein Sweatshirt. Ein schwarzes Sweatshirt. Er hat es wahrscheinlich getragen, als er das Gebäude betrat, nur falls ihn jemand sieht, damit sie ihn nicht identifizieren können. Verdammt«, sagte sie und schlug mit einer Faust auf ihren Oberschenkel. »Ich harte gehofft, etwas Neues zu erfahren.«

»Seien Sie nicht so hart mit sich. Sie haben sich nicht an sein Gesicht erinnert, aber an etwas anderes. Ein Tattoo.«

»Eine Tätowierung?« Sie dachte darüber nach, dann erhellte sich ihr Gesicht. »Ein Tattoo mit dem Wort MUTTER Auf einer Fahne, die sich um eine rote Rose wellt. Das ist gut. Das ist immerhin etwas«, sagte sie.

»Das ist sehr gut. Mehr, als wir jemals über ihn wussten.«

»Und jetzt?«

»Wir versuchen, im Internet einen Treffer zu finden. Wenn nicht, dann lassen wir von einem unserer Zeichner ein Bild anfertigen, und das prüfen wir in der Tattoo-Datenbank und geben es außerdem an die Medien.«

»Mein Gott. Können Sie sich vorstellen, wie viele Leute im Land ein solches Tattoo haben?«

»Wir werden jede Menge Kollegen brauchen, um allen falschen Spuren nachzugehen.«

»Wir hatten recht mit seiner Mutter-Fixierung«, sagte sie und erhob sich vom Bett.

»Ich hoffe, die gute alte Mami lebt noch und erkennt das Tattoo ihres Sohnes.«

»Ich bin nicht sicher, dass sie ihn anschwärzen würde. Sie würde sich möglicherweise selbst um ihn kümmern wollen.«

»Was die Morde noch beschleunigen könnte.«

Unten gaben sie den Schlüssel zurück und bekamen den Namen des vorigen Hausmeisters.

»Ich konnte den Namen des Mannes nicht finden, der das Zimmer mieten wollte«, sagte der Hausmeister. »Aber ich habe noch ein paar Kisten im Lager, die ich durchsehen kann.«

»Rufen Sie mich an, wenn Sie was finden«, sagte Max.

Sie gingen hinaus.

In der kurzen Zeit, die sie in dem Wohnhaus verbracht hatten, war das Wetter umgeschlagen, der Ostwind brachte einen der brutalen Sommerstürme mit sich, die Fenster scheppern ließen und den Himmel nachtdunkel schwärzten.

Der wütende Wind stemmte sich gegen das Kellerfenster, riss es mit einem lauten Klack auf, doch dann griff die metallene

Kette, sodass es sich nur ein paar Zentimeter öffnen konnte. Messerscharfe Regentropfen stachen in seinen Arm, als er sich bemühte, das Fenster wieder zu schließen. Endlich gelang es ihm.

Früher hatte er Angst vor Stürmen gehabt. Als er klein gewesen war, hatte er sich immer unter seinem Bett versteckt. Dort fand ihn seine Mutter und lachte ihn aus.

Aber jetzt gaben die Stürme ihm Macht. Sie machten ihn stark, machten ihn größer, als er gewesen war. Mit jedem Blitz wuchs seine Kraft. Er konnte das heiße Blut mit jedem donnernden Herzschlag durch seine Venen pumpen spüren, der Sauerstoff sättigte sein Hirn. Menschen waren so komplexe Wesen, waren ein missgebildeter, kranker Witz. Wenn Außerirdische auf der Erde landen würden, müssten sie die Menschen für beschämend scheußlich halten, mit all ihren Innereien und Flüssigkeiten und Zähnen. Er war geil. Er brauchte eine Frau. Keine Hure, sondern eine richtige Frau. Er stand im Keller, seine Hand tief in seiner Hose vergraben, um seine Kraft geschlungen. Jede Frau auf der Welt würde ihn wollen. Jede Frau auf der Welt würde nur zu gern sterben, um ihn zu haben. Selbst seine Mutter.

»Hast du einen Steifen?«, hatte sie ihn eines Morgens gefragt, da war er sechzehn. Sie hatte gelacht und ihm die Hand in die Unterhose gesteckt, und er war zu einer Rosine zusammengeschrumpft. »Glaubst du, du kriegst ein Mädchen, wenn du ihn nicht mal hochhalten kannst? Aber keine Sorge. Deine Mama wird dich immer lieben.«

So war sie. Mal züchtigte sie ihn und schimpfte, weil er masturbierte oder Mädchenmagazine hatte, dann wieder steckte sie ihm die Hand in die Hose, als gehörte er ihr ganz und gar.

Seine erste Verabredung hatte er mit einem Mädchen gehabt, das bei den Jungs beliebt war, weil sie sich von jedem

befummeln ließ, jederzeit, überall. Aber des Nachts, als er ihn ihr hatte reinstecken wollen, war er zusammengeschrumpelt, wie als seine Mutter ihre Hände in seine Hose geschoben hatte. Und das Mädchen hatte über ihn gelacht. Genau wie seine Mutter.

Huren. Sie waren alle Huren. Das war der Grund. Männer bezahlten seine Mutter für Sex. Nicht mehr viel, aber manchmal kam noch ein alter Kunde. Und er fragte sich: Bist du mein Vater? Du hässliches Arschgesicht.

Er musste sich daran erinnern, musste sich vergegenwärtigen, dass er einfach nicht aus ihr gekrochen sein konnte.

Er brauchte jemand, der keine Hure war. Jemand, der sauber und rein und jungfräulich war. Ivy Dunlap.

Der Name war plötzlich in seinen Gedanken. Er hatte sie schon halb, denn sie interessierte sich bereits für ihn.

Es war leicht gewesen, ihren Namen herauszubekommen. Er musste ihr nur von der Polizeizentrale aus nach Hause folgen. Er hatte beobachtet, wie sie in der Lobby ihres Wohnhauses ihre Post holte, merkte sich die Briefkastennummer, die zugleich ihre Wohnungsnummer war Dann musste er nur noch ihren Namen auf dem Verzeichnis neben der verschlossenen Doppeltür suchen. Ivy Dunlap.

Er war nach Hause gefahren und hatte auf seinem Computer nach ihr gesucht, er hatte nicht erwartet, etwas zu finden, er hatte gedacht, er musste andere Wege beschreiten, andere Verbindungen nutzen, andere Quellen. Aber er hatte sofort herausbekommen, dass Ivy Dunlap ein Buch geschrieben hatte. Symbolic Death: Inside the Mind of a Serial Killer.

Er harte das Buch im Internet bestellt, hatte sich gefragt, warum er nichts davon gehört hatte. Er dachte, er hätte jedes Serienmörderbuch gelesen, das herausgekommen war.

Mit ein wenig mehr Wühlarbeit bekam er heraus, dass das Buch in den USA nicht erschienen wai; es wurde von einem Kleinstverlag in Kanada herausgebracht. Aha. Ivy Dunlap war aus Kanada. Sie hatten sie hergeholt, um ihn zu fangen.

Das fand er extrem lustig. Extrem zufriedenstellend.

Das Telefon klingelte. Er nahm ab, bevor das erste Klingeln zu Ende war.

Es war Dr. Mathias.

»Mir ist etwas dazwischengekommen«, sagte Dr. Mathias. »Ich muss unseren Termin diese Woche verschieben.«

»Da es mir so gut geht, können wir ihn vielleicht auch ausfallen lassen.«

»Nehmen Sie Ihre Tabletten? Sie wissen, wie wichtig das ist.«

»Klar, ich nehme sie.«

Eine Lüge. Er hatte sie seit zwei Monaten nicht mehr genommen. Witzig, aber Dr. Mathias hatte bei seinem letzten Besuch gar nichts bemerkt. Aber Mathias war auch immer mit sich selbst beschäftigt, er redete vom Golf und seiner teuren Freundin.

»Dann lassen wir diesen Monat einfach aus«, sagte Dr. Mathias, als hätte er ihm den Gedanken ins Hirn gepflanzt. Der Manipulator. Vielleicht würde er sich von jetzt an so nennen. Gott, wie er es immer gehasst hatte, Madonna-Mörder genannt zu werden. Der MANIPULATOR. In Großbuchstaben. Das gefiel ihm. Der MEISTER-MANIPULATOR. M.M.

»Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir uns am zweiundzwanzigsten jeden Monat sehen, statt am dreizehnten?«, fragte der MANIPULATOR.

»Am zweiundzwanzigsten?«, fragte Dr. Mathias auf seine vage Art. »Ich wüsste nicht, was dagegen spräche. Ich lasse Sie von Irene eintragen.«

Der MANIPULATOR griff nach einer Schneekugel und schüttelte sie. »Super«, sagte er und schaute zu, wie die

Schneeflocken sanft auf die Mutter und ihr neugeborenes Kind herunterrieselten.

Gestern war er zu Max Irvings Haus gefahren. Er hatte seinen Wagen einen Block entfernt geparkt und einfach darin gesessen, er hatte etwas getrunken und abgewartet. Ethan Irving war schließlich rausgekommen, und er war ihm in einen Plattenladen in einer Einkaufszeile gefolgt. War ebenfalls hineingegangen und hatte beobachtet, welche CDs der Junge anschaute, was er kaufte. Jetzt wusste er, was Irvings Sohn mochte; mithilfe des Internets konnte er sich darüber informieren.

Ein interessanter Junge. Ein nett aussehendes Kind.

Er hoffte, der Regen würde bald aufhören. Er musste zu einem Hockeyspiel.