7
Es war zwei Uhr nachts in Shady Oaks. Künstliche antike Straßenlaternen folgten der Kurve des Bürgersteigs in perfekter Symmetrie. Die Sprinkler waren an, und wenn Ethan Irving an der richtigen Stelle stand und im richtigen Winkel schaute, konnte er einen kleinen Regenbogen sehen, der es niemals bis zum Himmel schaffen würde. Hinter dem Rollrasen, der von einer Rasenfarm hundert Meilen weit weg stammte, begannen Maisfelder, die einstmals Wald gewesen waren, in dem Indianer lebten und jagten.
Die Menschen sprachen schlecht über die Vororte, aber Ethan mochte das beruhigende Gemurmel des Lebens knapp außerhalb seines Schlafzimmerfensters, ihm gefiel, wo er aufgewachsen war, vor allem weil es das Einzige war, was er je kennen gelernt hatte, zumindest das Einzige, woran er sich erinnern konnte. Aber ab und zu hasste er die mangelnde Individualität. Alles war überall gleich. Manchmal hatte er das Gefühl, wenn er nur den Mut aufbrächte, abzuhauen, würde er nie zurückkommen. Nicht, wenn er den Rest der Welt zu Gesicht bekommen hätte. Aber die Gleichheit bot auch Sicherheit. Er hing schon sein ganzes Leben mit denselben Kids ab. Das Blöde daran war, dass man immer derjenige sein musste, den sie kannten und erwarteten. Und je älter man wurde, desto mehr passte man sich, wenn man beisammen war, den alten Rollen an. Ethan hatte schon lange vermutet, dass seine Freunde, wenn sie sich mit anderen Leuten trafen, anders waren. Sie wuchsen - sie wurden zu größeren, klügeren Ausgaben ihres ehemaligen Selbst.
Mit Kopfhörer auf und Walkman an, den Kopf voll mit dem Sound der Smiths, lief Ethan genau in der Mitte der Straße, die Sohlen seiner Turnschuhe klatschten auf den Asphalt, der immer noch sonnenwarm war. Er wurde langsamer, als er das Carter-Haus erreichte. John und Lily Carter. Ein Paar Mitte zwanzig. Sie waren vor zwei Jahren hergezogen, und seitdem war Ethan heimlich in Lily verknallt. Manchmal redete er mit ihr. Sie musste einsam sein, denn sie schien sich immer zu freuen, ihn zu sehen. Sie unterstützte ihren Mann, der noch zur Uni ging und Frauen mit nach Hause brachte, wenn Lily bei der Arbeit war.
Lily wollte irgendwann ein Baby haben. Sie hatte für ihr Kind sogar schon einen Apfelbaum im Vorgarten gepflanzt.
»Jeder braucht doch einen Apfelbaum zum Klettern«, hatte sie verkündet.
Ethan hatte ihr geholfen, ihn zu pflanzen. Sie hatte tief gegraben, damit die Wurzeln es nicht so schwer hatten, festen Halt zu finden, und beim Graben fand sie eine alte Pfeilspitze. Sie hatte sie Ethan schenken wollen, aber er hatte sie nicht angenommen. Sie sollte sie für ihr Kind aufheben - falls sie irgendwann eins bekäme.
So plante sie also für die Zukunft, während ihr Mann sie hinter ihrem Rücken betrog und all ihre Pläne zerstörte. Sie wusste es nur noch nicht. War das der Mist, der allen drohte? Lily war nett. Hübsch. Warum war ihr Mann nicht glücklich? War überhaupt jemand glücklich? Wirklich glücklich?
Ethan dachte zu viel nach. Das war sein Problem. Worte, Ideen, fraßen ihn auf. Das gefiel ihm nicht, dieses Denken. Er beneidete seine Freunde, die überhaupt nicht zu denken schienen. Oder taten sie auch nur so, genau wie er?
Als er sich seinem Zuhause näherte, schaltete Ethan den Walkman aus und nahm ihn ab. Früher am Abend hatte er sein Schlafzimmerfenster einen Spalt offen gelassen. Jetzt schob er es auf, dann zog er sich, nachdem er den Walkman hatte hineinfallen lassen, hoch, sein Bauch drückte gegen den Fensterrahmen, er schob den Kopf in den pechschwarzen Raum. Mit dem Kopf voran bohrte er sich hinein, schließlich rollte er auf den Teppichboden. Dort lag er eine Minute und rang nach Luft, er lauschte und hoffte, dass Max, der hörte wie ein wildes Tier, nicht aufwachte. Er glaubte gerade, dass er davongekommen war, als eine Stimme aus der Dunkelheit drang.
»Vier Stunden zu spät«, sagte Max.
In seinem Ton lag keine Wut, seine Stimme war tief und ruhig und ließ Ethans Herz rasen und seinen Magen sich zusammenkrampfen.
»Aber andererseits sollte ich mich wahrscheinlich freuen, dass du überhaupt nach Hause kommst.«
Versuch nie, einen Bullen zu verarschen. Das hätte Ethan mittlerweile gelernt haben müssen.
Er hatte keine Ahnung, woher die Idee kam, aber Ethan sagte: »Ich bleib nicht.«
Er erhob sich und riss den Vorhang zur Seite. Das Licht von der Straße flutete ins Zimmer. Er schnappte sich Klamotten, irgendwas, stopfte sie in seinen Rucksack, dachte nicht wirklich nach, wollte bloß raus, weg von Max. Um alles Weitere würde er sich später kümmern. Er stopfte seinen Walkman zwischen ein paar Klamotten, dann machte er den Reißverschluss zu.
Es war hell genug, dass Ethan sehen konnte, wie Max in einer Zimmerecke auf dem Boden saß. Er streckte die Beine und erhob sich. »Du kannst nicht weg. Die bist auf Bewährung. «
Ethans Herz hämmerte immer weiter. Er konnte es in seinem Hals spüren, in seinem Kopf. Zum Teufel mit Max, versuchte Ethan sich einzureden. Ethan war doch scheißegal, was der dachte. Der Mann bedeutete ihm nichts. Überhaupt nichts.
Warum verspürte er dann dieses nagende Gefühl im Bauch?
Zum Teufel mit Max.
Das Fenster stand immer noch offen. Ethan dachte kurz
darüber nach, einfach wieder hinauszuhechten, fürchtete aber, dass Max seine Beine zu fassen bekam, bevor er es geschafft hatte. Und wenn er zum Fenster hinaussprang, wüsste Max auch, was für eine Panik er schob. Nein, es wäre besser, an ihm vorbei zur Haustür hinauszumarschieren, als wäre ihm alles vollkommen egal. Zum Fenster rauszuspringen war gar nicht cool.
Er schnappte sich seinen Rucksack und latschte los.
An Max vorbei.
Durch den Flur.
Schloss die Haustür auf.
Nichts wie raus.
Zum Bürgersteig.
Er hörte ein Geräusch hinter sich.
Ethan ließ seinen Rucksack fallen und rannte nach rechts, quer durch den Garten, durch die Sprinkler. Er war nicht schnell genug. Hände, Arme, schlangen sich um seine Hüfte, als Max ihn ansprang und zu Boden riss. Eine Sekunde lang sah Ethan schwarze Punkte. Er zwinkerte sie weg. Wasser spritzte ihm ins Gesicht. Sein Kopf wurde auf das nasse Gras gedrückt.
Das ärgerte ihn. Es ärgerte ihn richtig. Er machte sich schlaff. Max ließ los und erhob sich gerade, als Ethan sich umdrehte. Mit einem wilden Schrei sprang er auf und griff an, sein Schädel traf Max' Magen, ließ den Mann zu Boden gehen.
Sieg!
Oh, Scheiße, er hatte seinen alten Herrn umgelegt. Und jetzt rollten sie über den Rasen, das Wasser der Sprinkler spritzte Ethan ins Gesicht. Ethan ließ Max los und wollte sich verpissen.
»Ethan!« Max' Hand schoss vor, packte ihn am Knöchel, zerrte ihn zurück. Max hatte seinen Namen gerufen, aber Ethan bemerkte, dass er nicht wütend klang.
Max ließ Ethans Knöchel los. Ethan rappelte sich auf,
während Max sich auf den Rücken rollte, einen Fuß auf dem Gras, das Bein gebeugt, die Arme ausgebreitet. Der Kerl lachte! Er versuchte, zu Atem zu kommen, aber er lachte ganz eindeutig. Er lag auf dem Gras, das Wasser durchnässte ihn, und er lachte. Und da realisierte Ethan, wie er aussah, klatschnass, ihm war kalt, seine Sachen waren schwer vom Wasser, und ein Sprinkler spritzte ihm ins Gesicht, und er begann auch zu lachen. Er wollte nicht. Wollte diesen Witz nicht mit Max teilen, aber verdammt noch mal, er konnte nicht anders. Und als er erst einmal angefangen hatte zu lachen, konnte er nicht wieder aufhören. Er lachte, bis seine Knie nachgaben und er zu Boden ging. Er lachte, bis sein Magen schmerzte, bis ihm zusammen mit dem Wasser der Sprinkleranlage auch Tränen über die Wangen rannten.
Jemand hatte die Polizei gerufen. Aber die Bullen kamen erst, nachdem Max Ethan die Hand hingestreckt und ihm aufgeholfen hatte. Sie kamen erst, nachdem die beiden Männer klatschnass ins Haus geschlappt waren, nachdem Ethan sich eine graue Jogginghose und Max eine karierte Boxershorts angezogen hatte.
Zwei Bullen standen in der Tür. Aus seinem Zimmer konnte Ethan hören, wie Max mit gedämpfter Stimme mit ihnen redete. Dann gingen sie.
Diese Runde war okay gelaufen, aber das hieß nicht, dass Ethan Max irgendetwas durchgehen lassen würde. Und er wusste, dass es auch nicht hieß, dass ihre Probleme erledigt wären. Ein oder zwei Tage würde es besser funktionieren, dann würden sie wieder aneinandergeraten. So war es immer.
Max klopfte an der Zimmertür und reichte Ethan wortlos seinen Rucksack.
Als er weg war, zündete Ethan ein paar Kerzen an, schaltete das Licht aus und warf sich aufs Bett. Dann holte er seinen Walkman aus dem Rucksack, setzte die Kopfhörer auf und drehte die Musik voll auf, so laut, dass ihm fast die Trommelfelle platzten. Aber das war ihm egal. Die Musik.
Er wusste nicht, was er tun würde, wenn er die Musik nicht hätte. Wahrscheinlich verrückt werden. Aber er hatte sie. Nicht den Dreck, den seine Freunde hörten, sondern gutes Zeug, Sachen, die tief gingen, zu bedeutungsvoll fürs Radio, Songs, die einem ein Loch in die Seele rissen und einen um mehr betteln ließen.
Ethan war sechzehn Jahre alt und hatte keine Ahnung, was er mit seinem Leben anfangen wollte. Scheiße. In zwei Jahren wäre er fertig mit der Highschool. Was dann? Was dann? Er konnte nicht über den letzten Schultag hinausdenken. Er konnte sich nicht vorstellen, irgendetwas anderes zu tun, als rumzuhängen, Videospiele zu spielen, Skateboard zu fahren, Musik zu hören.
Vor nicht allzu langer Zeit hatte Max ihm gesagt, er sollte besser mal anfangen, über seine Zukunft nachzudenken, Pläne zu schmieden. Wusste der Kerl nicht, dass man so nicht mit einem Sechzehnjährigen reden sollte? Richtige Eltern würden solchen Mist nicht sagen. Sie würden Sachen sagen wie: »Als ich in deinem Alter war, hatte ich auch keine Ahnung, was ich machen wollte. Keine Sorge. Das findet sich schon. Und wenn es so weit ist, wirst du es merken.« Aber nein, so etwas sagte Max nicht. Stattdessen fing er an, ihn zu verhören, er fragte ihn, wofür er sich interessierte. Und Ethan antwortete: »Teufel, nein, ich will kein Bulle werden!« Oder: »Teufel, nein, ich will nicht Soldat werden!« Und dann fing Max an, über die Uni zu reden, und dass Ethan besser anfangen solle, für seine Aufnahmeprüfung zu lernen. Und Ethans Herz schlug immer schneller. Er war doch bloß ein Kind. Er hatte sein ganzes Leben damit verbracht, nichts zu tun, und jetzt plötzlich sollte er genau wissen, was er wollte.
Was er wirklich wollte, war, seinen Vater zu finden. Die ganze Zeit hatte er dieses Gefühl gehabt, wenn er seinen Vater kennenlernte, würde sich alles klären. Denn sein echter Vater würde wissen, was zu sagen war. Er und sein echter Vater würden sich in den Garten setzen, Bier trinken und miteinander quatschen. Sein echter Vater würde ihm zeigen, wie man einen Vergaser sauber kriegte und wie man den Motor tunte, so wie es der Vater seines Freundes Tyler gemacht hatte. Sein echter Vater würde ihm nicht erzählen, wie wichtig es wäre, sich alle Einzelheiten einzuprägen, falls man einmal Zeuge eines Verbrechens würde - was genau das war, was Ethan vor ein paar Jahren zugestoßen war. Er war in einem Quick Stop gewesen und hatte Süßigkeiten gekauft, als der Laden überfallen wurde.
»Wie haben sie ausgesehen?«, hatte sein Vater gefragt. »Wie groß? Was für Sachen hatten sie an?« Er sagte nicht: »Ich bin froh, dass dir nichts passiert ist.« Und als Ethan ihm erklärte, dass er es nicht wusste, hatte Max ihn so komisch angeguckt, erst verwirrt, dann mitleidig. Als hätte er von Ethan sowieso nichts anderes erwarten dürfen.
Sein echter Vater hätte das nicht getan. Sein echter Vater wäre einfach froh gewesen, dass ihm nichts zugestoßen war.
Seine Mutter ...
Manchmal glaubte er, sich an sie zu erinnern, aber wie war das möglich? Er war drei Jahre alt gewesen, als sie starb. Der Tod - die Vorstellung des Todes - jagte ihm eine Heidenangst ein. Erst ist man hier, dann ist man weg.
Er konnte sich beinahe an ihre Stimme erinnern, und wie er sich fühlte, wenn sie mit ihm sprach. Geliebt. Das. war das, was ihre Stimme mit ihm tat. Aber wie konnte er sich daran erinnern? Nein, er füllte bloß die Lücken mit Fantasiegespinsten.
Max. Max war der erste Mensch, an den Ethan sich erinnerte. Es war Weihnachten, und Max und er hatten einen Baum. Max hatte ihn hochgehoben, damit er Lametta obendrauf tun konnte. Wenn Ethan sich daran erinnerte, hasste er Max nicht. Aber dieser Max erschien ihm auch nicht so angespannt wie der Max, mit dem er jetzt zusammenlebte.
Man konnte beinahe glauben, dass Max keinerlei Gefühle hatte, aber Ethan wusste es besser. Er würde niemals diese
Nacht vergessen, Vorjahren, als Max ihn beim Babysitter abgeholt hatte. Die ganze Fahrt nach Hause sagte er kein Wort. Ethan hatte ihn schließlich nach dem Geruch gefragt - ein fauliger, süßer, schrecklicher Geruch, der von seinem Vater auszugehen schien.
Max hatte lange nichts gesagt, und dann fragte er: »Du kannst es auch riechen?«
»Ja«, hatte Ethan gesagt.
»Faulige Honigmelone«, hatte sein Vater ihm schließlich erklärt.
Und als sie nach Hause kamen, hatte Max lange, lange geduscht. Und als er aus dem Bad kam, trug er eine saubere Jeans, und sein nasses Haar roch nach Zitrone. Mitten in der Nacht wachte Ethan auf. Erst konnte er das Geräusch nicht einordnen, und dann wurde ihm, mit einer eigenartigen Peinlichkeit, klar; dass sein Vater weinte.
Als er älter wurde, begriff er, dass Zitronen-Shampoo die beste Möglichkeit war, den Geruch des Todes aus dem Haar herauszuwaschen.