15
Sie durchsuchten die ganze Ruinenstadt nach ihr, bis die Dunkelheit hereinbrach. Sie ließen alle Vorsicht außer acht, riefen ihren Namen laut und schrien nach ihr, durchsuchten die näherliegenden Gebäude und fanden nur verschüttete Wege und Sackgassen, aber keine Spur von Rianna. Die Sonne ging unter. Dane erinnerte sich vage, daß sie die Absicht gehabt hatten, jetzt in einer neutralen Zone zu sein, aber es schien keine Rolle zu spielen. Sie aßen während der Suche den Rest ihrer Verpflegung auf und ruhten sich vor Mondaufgang ein paar Stunden aus, aber Dane konnte nicht schlafen, und seine Gedanken waren bitter.
Er hatte gehofft, seine ganze Gruppe lebend durchbringen zu können. Ich habe Cliff verloren und jetzt Rianna. Dallith lag dicht bei ihm und hielt ihn umfangen. Sie weinte auch, und Dane wußte, daß sie seine eigenen verzweifelten Sorgen und das Gefühl des Verlustes mit ihm teilte, als seien es ihre eigenen. Dane klammerte sich an das Wissen, daß sie Riannas Körper nicht gefunden hatten und auch nicht einen einzigen Tropfen Blut. Aber wohin kann sie gehen, verwundet, allein, ohne Nahrung oder Wasser, wahrscheinlich sterbend? Vielleicht stirbt sie irgendwo allein, während wir hier liegen und warten, dachte er. Da er nicht schlafen konnte, stand er schließlich auf, sobald Dallith und Aratak sich ein wenig ausgeruht hatten, und sie durchsuchten bei Mondlicht die Ruinen.
Das wäre eine günstige Zeit für sie, uns zu überfallen. Wen kümmert es?
Als die Sonne aufging und die Ruinen mit hellem Licht überströmte, bat Aratak ihn endlich einzuhalten. »Dane, mein lieber, mein sehr lieber Freund«, sagte er freundlich, »wir können nicht jedes alte Gebäude dieser Stadt durchsuchen. Wenn sie uns hören könnte, hätte sie uns geantwortet. Wenn sie sich bewegen könnte, wäre sie zu uns zurückgekommen. Dallith sagt, sie spürt nirgends Riannas Anwesenheit. Ich fürchte, mein lieber Freund, wir müssen uns dem Unvermeidlichen beugen. Rianna ist tot, und die Toten sind jenseits unseres Mitleids und unserer Hilfe. Wir müssen unsere Kraft jetzt für uns selbst bewahren.«
»Ich kann nicht so aufgeben«, sagte Dane verzweifelt. »Wir sollten alle leben oder alle zusammen sterben!« Dallith war in Tränen aufgelöst. Aratak kam auf sie zu und umarmte sie beide, je ein riesiger Arm um ihre Schultern gelegt, als seien sie zwei kleine Kinder, die sich an einem Erwachsenen festhielten. Er sagte in seiner tiefsten Stimme: »Glaubt mir, ich teile euren Kummer. Aber würde Rianna wollen, daß ihr sterbt?«
»Nein«, sagte Dallith und trocknete die Tränen mit einem Zipfel ihres Umhangs. »Rianna würde sagen, ich solle leben und mich um euch beide kümmern. Es tut mir leid, Aratak. Wir werden gehen.«
Dane nahm grimmig alle seine Kraft zusammen. Rianna war tot – vielleicht. Aber Dallith lebte, und sie brauchte immer noch seinen Schutz. »Laßt uns nicht über den Brunnenplatz zurückgehen«, sagte er. »Laßt uns an irgendeiner anderen Stelle durch die verfallene Mauer schlüpfen.«
»Das bedeutet, daß wir die hohe Klippe hinunterklettern müssen …« wandte Aratak ein.
»Um so besser«, entgegnete Dane. »Sie ist zu steil, als daß uns jemand unbemerkt überfallen kann. Wenn sie sich uns von unten nähern, können wir den Hang halten. Wenn sie von oben auf uns zukommen, können wir sie hinunterstoßen.«
Aber weder Angriff noch Verteidigung erwiesen sich als notwendig. Die Sonne schien leuchtend über den eingefallenen Mauern, den verlassenen Gebäuden und dem Hang unterhalb der Stadt, aber außer ihnen selbst bewegten sich dort keine lebendigen Wesen.
Wir müssen vier von ihnen getötet haben letzte Nacht. Ich möchte wissen, wie viele Beutetiere jemals sechs Jäger auf einen Schlag erledigt haben, dachte Dane.
Es ist kein Preis für Rianna. Aber es ist besser als nichts.
Bei der letzten Jagd gab es siebenundvierzig Jäger und achtzig oder neunzig Gejagte. Und neunzehn Jäger wurden getötet, ein Beutetier überlebte.
Wir sind gar nicht so schlecht. Aber sie sagten, es sei zur Zeit schwer, gefährliche Wesen zu bekommen. Ich vermute, wir sind ihnen ihr Geld wert.
Dane fiel ein, daß in einer Zeit der Allumfassenden Weisheit und allem, was dazu gehörte, ein Barbar von einer Welt mit einer kriegerischen Geschichte eine bessere Chance hatte. Die Jäger wollten vielleicht einen fairen Kampf und kein bloßes Abschlachten. Aber eine Rasse, die buchstäblich jede Gestalt annehmen konnte … Ja, es würde schwer sein, Wild zu finden, das verwegen genug war, um ihnen einen guten Kampf zu liefern … Vielleicht hatte es ein paar hundert Jahre früher mehr Kämpfer in der Galaxis gegeben. Nun schien es außer den Mekhar und den Spinnenmännern kaum Wesen zu geben, die ausdauernd und mutig kämpfen konnten. Ohne seine Hilfe wären Dallith und Rianna wahrscheinlich als erste getötet worden. Dane hatte ihre Verteidigung organisiert. Zum Teufel – ohne seine Hilfe wären die anderen vielleicht alle friedlich zum Sklavenmarkt von Gorbahl gebracht worden … und Dallith wäre in Ruhe gestorben.
Vielleicht wäre das besser gewesen. Für uns alle.
Aber was geschehen ist, ist geschehen.
Am Fuße des hohen Berges, wo Felsbrocken wie gewaltige herabgefallene Köpfe von Riesen verstreut lagen, gab Dane das Zeichen für besondere Vorsicht; dies war ein zu günstiger Ort für einen Angriff. Er warf einen schnellen Blick über die Schulter und sah die Stadt ein letztes Mal lange an. Rianna hatte sie erforschen wollen; nun würde sie dort für immer ruhen.
Am Rande seines Gesichtsfeldes fiel ihm eine einsame Figur ins Auge; klein, schmal, stark, von einer Wolke gelockten, roten Haares gekrönt. Danes Kummer und Verzweiflung explodierten in wilder Wut, und er rannte vorwärts und riß sein Schwert heraus, bereit, den Jäger zu überrennen, das falsche Ding, das Riannas Gestalt angenommen hatte, wie einer von ihnen seine eigene vor Dallith angenommen hatte. Er rannte los, das Schwert schwingend, bis Dalliths Schrei ihn erreichte.
»Dane! Nein, nein, nein, es ist Rianna, es ist Rianna, es ist wirklich Rianna …« Der Schwung trieb Dane weiter, so daß er sich nur noch im letzten Augenblick keuchend zur Seite werfen konnte. Er senkte das Schwert, drehte sich um und sah Rianna mit argwöhnischem, mißtrauischem Erstaunen an.
»Ich bin es wirklich«, sagte Rianna heiser. »Renn mich nicht über den Haufen, Dane.«
Jetzt glaubte er ihr. Noch niemals hatte er einen Jäger einen anderen Laut ausstoßen hören als das charakteristische klagende Heulen, wenn sie verwundet wurden. Dallith kam herbeigerannt und schlang die Arme um das andere Mädchen.
»Ich dachte, wir hätten dich für immer verloren«, sagte sie zitternd, und Rianna erwiderte: »Das dachte ich auch. Ich war sicher, daß ihr um Mitternacht längst fort wäret; ich hatte nur noch die Hoffnung, euch in einer der neutralen Zonen zu finden. Was ist geschehen? Was ist geschehen?« Dane zog sie überrascht und erleichtert dicht an sich. Zu schön, um wahr zu sein, zu schön … Aber stelle keine Fragen, akzeptiere es, dieses wunderbare Geschenk des Glückes. Es war wirklich Rianna, wider alle Hoffnung zu ihnen zurückgekehrt.
»Ich werde es euch erzählen, aber laßt uns weitergehen«, sagte sie ernst. »Ich denke, daß wahrscheinlich nicht viele Jäger hier in der Gegend sind. Es ist etwas sehr Seltsames an diesem Ort …«
Sie blieben dicht beieinander, als sie die felsenübersäte Ebene überquerten und durch den Spalt schlüpften, hinter dem sie mit dem Spinnenmann gekämpft hatten. Dallith hielt wachsam Ausschau nach hinten, aber keiner von ihnen wollte Rianna weit von sich fort lassen. »Ich rannte in das Gebäude«, erzählte sie. »Ich hörte einen von ihnen hinter mir – das dachte ich jedenfalls. Ich versuchte, mich umzudrehen und die Stellung zu halten, aber ich konnte nichts sehen; ich hatte das Tageslicht hinter mir gelassen. Ich lief im Dunkeln weiter und versuchte, den Weg hinaus zu finden, verlor mich aber immer mehr in der Dunkelheit, und dann kamen sie.«
»Sie kamen? Wer sind sie?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe sie nie deutlich gesehen«, erwiderte sie, und in ihrem Gesicht und ihrer Stimme lag Erstaunen. »Es konnten keine Jäger sein. Zuerst – ich habe euch erzählt, daß ich nichtverbale Kommunikationstechniken für Leute ohne Übersetzungsplatte gelernt habe – machten sie mir klar, daß sie es gut mit mir meinten. Sie gaben mir zu essen … es war nicht wohlschmeckend, eine Art Pilze, aber offensichtlich wußten sie, daß ich es ohne Gefahr essen konnte. Und sie verbanden meine Wunden neu, säuberten sie und richteten meinen Ellenbogen; er war nicht gebrochen, nur ausgerenkt. Seht her.« Sie zeigte ihnen ihren Arm, der sorgsam in eine Schlinge aus dunkelrotem Stoff gelegt war, ganz anders als das ziegelfarbene Material der Tuniken. »Selbst wenn es heller wurde, war es nur halbdunkel. Unter der Stadt existieren Meilen um Meilen von Höhlen und Tunnels. Es gibt nicht viele von ihnen … von den Leuten, meine ich; es müssen die ehemaligen Bewohner der Stadt sein. Aber ich vermute, daß dies der Grund ist, warum so viele die Jagd überleben. Anscheinend ist es für diese Wesen nichts Neues, den Gejagten zu helfen.«
Sie schwieg und zerbrach sich den Kopf darüber. Schließlich sagte sie: »Am Morgen führten sie mich herab durch die Höhlen und zeigten mir einen Eingang – einen Ausgang, müßte ich besser sagen – am Fuße der Klippe unterhalb der Stadt. Aber ich konnte keinen einzigen Blick auf sie werfen.«
Sie gingen eine Zeit lang schweigend weiter. Jeder von ihnen dachte über diesen neuen Faktor in der Jagd nach. Wenn es nur einen Weg gab herauszufinden, was sie tun konnten … aber wahrscheinlich hatten die Jäger schon vor Jahrhunderten fast das Ziel erreicht, sie auszurotten … Aratak sagte ruhig: »Auf dem Satelliten meines eigenen Planeten – dem Zwilling unserer Welt, so wie dies der Zwilling der Welt der Jäger ist – hatten wir eine ähnliche Zivilisation, und sie waren nahe daran, uns auszulöschen. Aber am Ende hatten sie genug von unserer Philosophie gelernt, daß ihnen klar wurde, daß eine Hand nicht ohne die andere klatschen kann, und jetzt sind sie unsere Brüder. Dies hier zeigt mir wieder, was aus unserer Welt hätte werden können …« Sie verließen die steinige Ebene und begannen wieder das hügelige Land zu durchqueren, das von Strömen und Unterholz durchschnitten war. Dane schätzte, daß die nächste neutrale Zone jetzt ungefähr sechs Meilen entfernt war. Wenn sie nicht durch Kämpfe aufgehalten wurden, konnten sie sie vor der Dämmerung erreichen. Da die Jäger gerne gegen Sonnenuntergang angriffen, war anzunehmen, daß sie einen Vorteil daraus schlugen und hier auf das Wild warteten, das sich ausruhen oder erfrischen wollte – aber das war eine Möglichkeit, mit der sie rechnen mußten. Vielleicht konnten sie ihnen wieder bis Sonnenuntergang standhalten. Wann, wann, wann kam diese verdammte Finsternis? Dane versuchte zu schätzen, wie viele Tage sie schon hier waren, aber er stellte fest, daß er unwiderruflich das Zeitgefühl verloren hatte. Er versuchte immer wieder, Tage und Nächte zusammenzuzählen, kam aber immer zu verschiedenen Ergebnissen.
Laß mal sehen … war das die Nacht, als wir in der neutralen Zone schliefen? Passierte das, bevor wir Cliff verloren oder danach? War es am siebenten oder am neunten Tag, als wir gegen den Spinnenmann kämpften.
Es ist fast Nachmittag, und die Welt der Jäger ist noch nicht am Himmel erschienen. Das heißt, daß sie bald voll sichtbar ist, und wenn sie voll ist, kommt die Finsternis; sie ist nah, aber, lieber Gott, wie nah? Die Finsternis könnte morgen Nacht kommen oder sogar heute Nacht – wenn es so ist, könnten wir … könnten wir es gerade noch schaffen … Ist es heute Nacht? Und wieder fing das unvermeidliche Zählen an. Die erste Nacht? Als wir hier schliefen und die Jagd in der Morgendämmerung begann und Dallith und ich zusammen waren. Dann verbrachten wir eine, oder waren es zwei Nächte in der Stadt … Die Nacht, als wir den Strom durchwateten …
Es hatte keinen Sinn. Sein Gehirn, das durch Müdigkeit, Anstrengung und Gefühlsbewegungen halb betäubt war, weigerte sich vollkommen, sich auf eine Zeit einzustellen. Die Jagd war alles, was es gab, und er konnte sie an überhaupt keine Zeit binden.
Die letzte Meile ist immer die Schwerste! An Bord der Seadrift war das härteste Stadium der Reise immer der Zeitpunkt gewesen, wenn tatsächlich Land in Sicht kam.
Dallith berührte ihn am Arm. Sie sagte mit leiser Stimme: »Jäger. Entlang dieser Anhöhe und dahinter … im Unterholz.«
Verdammt, dachte Dane, diesen Weg wollte ich nehmen. Er nickte mit zusammengepreßten Lippen und sagte: »Gut. Bleib nicht länger in Kontakt als notwendig.« Er bedeutete Aratak, die Richtung zu wechseln. Es würde ein langer Umweg sein, aber sie konnten die neutrale Zone immer noch bei Einbruch der Nacht erreichen. Noch besser, direkt danach. Ich würde uns nicht gerne den Weg freikämpfen müssen.
Nach einer Weile nickte Dallith zustimmend, und Dane entspannte sich ein bißchen, denn er wußte, daß sie zumindest für den Moment außer Reichweite waren.
Gott, wann ist diese verdammte Finsternis?
Rianna konnte jetzt wieder besser gehen. Anscheinend hatten Nahrung und Ruhe und die Pflege ihrer Wunden ihr sehr gut getan. Ich wünschte nur, Dallith würde auch so gut aussehen, armes Kind! Riannas Arm hing immer noch in der Schlinge, aber es war nicht ihr Kampfarm.
Das neutrale Gebiet kann nicht viel weiter als ein paar Meilen hinter diesem Grat sein …
»Jäger«, flüsterte Dallith zitternd. »Sie jagen uns. O Dane, Dane sie haben ein Bild von uns … ich habe es gesehen …«
»Ruhig. Ruhig.« Er legte seinen freien Arm um sie. »Zieh dich zurück, so schnell du kannst. Hier. Halt dich an mir fest, wenn du willst. Diesen Weg hinunter …«
Rianna sagte leise: »Ich glaube, sie wollen uns zusammentreiben, Dane. Sie versuchen, uns in der Bergsenke einzukesseln. Schau her …« Sie zeichnete rasch ein Diagramm mit der Speerspitze. »Berge zur Rechten, Berge zur Linken. Die neutrale Zone hier unten Richtung Sonne, aber sie treiben uns davon weg.«
Dane dachte eine Minute darüber nach. Inzwischen mußten die Jäger sicher wissen, daß sie in einer Gruppe herumzogen, und früher oder später würden sie sich ganz bestimmt zusammenschließen und sie gemeinsam angreifen. »Wir werden ihnen aus dem Weg gehen, so lange wir können«, sagte er. »Aber wenn wir uns eine Stellung suchen müssen, ist es besser, das vor Sonnenuntergang als nach Mitternacht zu tun. Ich bin nicht scharf darauf, im Dunkeln mit diesen Bestien zu kämpfen – nicht einmal im Mondenschein.«
»Das Göttliche Ei hat es uns gesagt: Es ist gut, seinen Feind bei Tageslicht zu sehen«, sagte Aratak.
Dane meinte mißmutig: »Ich wette, du wirst das Göttliche Ei noch auf deinem Totenbett zitieren.«
»Wenn ich so glücklich bin, eines zu haben, welchen besseren Ort könnte es dafür geben?« erwiderte Aratak. Und das war so unbestreitbar wahr, daß Dane nur sagte: »Laßt uns nach einem Platz Ausschau halten, an dem wir in Stellung gehen können.«
Während die Jäger sie vor sich hertrieben, überrollten sie ein oder zwei andere Beutetiere. Einmal sah Dane in weiter Entfernung eine fliehende Gestalt. Eine andere, unbeschreiblich merkwürdige Gestalt verfolgte sie; ein entferntes Triumph- oder Wutgeheul, das Klirren von Schwertern, als sich die Wesen einander zuwandten. Eins wurde getötet und blieb reglos liegen, und da der Überlebende nicht floh, sondern sich ruhig wieder im Unterholz versteckte, schloß Dane, daß ein weiterer Jäger seine Tagesbeute erlegt hatte.
»Dallith, kannst du sagen, ob sie uns noch folgen?«
Sie nickte wortlos. Er dachte: Wenn sie auf uns treffen, ist sie erschöpft. Und er fällte schließlich eine Entscheidung.
Sie kamen endlich aus den mit Gestrüpp bewachsenen Hügeln, durch die sie den ganzen Tag gezogen waren, in die Talsohle. Zu ihrer Linken floß ein tiefer Strom und vielleicht aber auch ein seichter Fluß; darüber ragte eine dunkle Klippe, die mit Höhlen durchzogen war.
»Wir wollen nicht zwischen der Klippe und dem Strom eingeschlossen werden«, sagte Dane. »Laßt uns den Strom überqueren, bevor er tiefer wird, und uns dann ins Unterholz schlagen. Die neutrale Zone liegt auf diesem Weg. Wenn wir sie uns vom Halse halten können, bis es dunkel wird …« Rianna hielt ihn zurück und deutete hinüber. Auf der anderen Seite des Stromes stand eine hohe Gestalt. Danes erste Reaktion war: »Ist das ein Bär oder ein Russe oder was?«
Rianna, sachlich wie immer, antwortete: »Es ist ein Jäger … in protoursiner Gestalt – er hat wahrscheinlich den Protoursinen getötet, den wir im Raumschiff gesehen haben.«
Dane zog sein Schwert. Dallith fragte widerstrebend: »Warum greift er nicht an?« Sie hatte ihre Schleuder bereit, aber der Jäger war außer Reichweite. »Er will nur nicht, daß wir den Strom überqueren …«
Dane sagte grimmig: »Vielleicht hat er schon seinen eigenen Kampfplatz gewählt. Oder vielleicht wartet er auf Verstärkung.« Er dachte: Wenn das Ende so nahe bevorsteht, wie ich glaube, ist vielleicht kein anderes Wild mehr am Leben – und sie sind alle frei, sich auf uns zu konzentrieren. Ein Überlebender das letzte Mal … Ein Überlebender das letzte Mal, hämmerte es in seinem Kopf. Hauptzielscheiben, das sind wir. Ein guter Sport.
Dane blickte sich um. Zur Linken floß der Strom; in ihrem Rücken bot die Klippe Schutz durch den Überhang, und rechter Hand lag ein flacher, harter und steiniger Platz. Danes krisenerprobtes Gehirn dachte: Raum zum Kämpfen.
»Wir werden hier warten«, sagte er. »Wir sind alle müde von dem Gewaltmarsch. Wenn sie uns weiterhetzen, spielen wir ihnen genau in die Hände – erst uns ermüden, dann ein Angriff. Wenn wir hier bleiben, bis seine Verstärkung ankommt, können wir uns ein bißchen ausruhen.«
Rianna widersprach: »Ich habe ein ungutes Gefühl. Wir sind eingeschlossen.«
»Wir könnten enger eingekreist sein«, sagte Dane, »wenn wir zulassen würden, daß er uns in seine eigenen bevorzugten Jagdgründe treibt.« Ihm gefiel die Art nicht, wie der Jäger sie beobachtete. Dane bekam eine Gänsehaut. Begutachtet er mich für einen Platz an seiner Wand? Hegt er einen Groll? Ist es vielleicht der eine, den ich schon früher zweimal in Gestalt eines Mekhar bekämpft und verjagt habe? Es bedurfte nicht Dalliths halb unbewußten zustimmenden Nickens, um zu wissen, daß er recht hatte: Dies mußte der Anführer der Jäger sein, wenn es einen Anführer gab.
Zumindest konnten sie, während sie hier warteten, wieder Atem schöpfen. Dane merkte, daß er eine gute Mahlzeit vertragen konnte, aber statt dessen kniete er am Ufer des Stroms und schöpfte Wasser, um zu trinken. Seine Haut prickelte, als würde er einen Schlag oder einen Pfeil erwarten, aber nichts geschah, und er dachte: Vielleicht benutzen sie keine Pfeile und Bogen. Vielleicht lieben sie das Gefühl, wenn die Klinge ins Fleisch stößt? Das Wasser schmeckte kühl und erstaunlich gut.
Heute Abend, wenn ich zur neutralen Zone komme, werde ich den guten Diener um ein Steak bitten und sehen, was er dazu sagt.
Er wiederholte das, an Rianna gewandt, und sie lächelte schwach. »Ich habe auch gerade daran gedacht. Dieses Siegermahl, wenn wir so weit kommen, wird uns verdammt gut schmecken.«
Dallith rang nervös die Hände. »Warum greifen sie nicht an? Er will angreifen, er will …« Aratak legte seine riesige Pranke auf ihre Schulter. »Ruhig, mein Liebes, ruhig. Jede Minute, in der sie nicht angreifen, ist eine Minute, in der wir unsere Kräfte sammeln können. Ich bitte dich, ruh dich aus, soviel du kannst.«
»Ich glaube, das mache ich auch«, meinte Rianna mit leiser Stimme. »Mein Bein könnte es gebrauchen.« Sie setzte sich nieder, hielt aber vorsorglich den Speer in der Hand.
Dane sah sich ihr verbundenes Bein an, aber es schien nicht allzu sehr geschwollen zu sein, und sie hatte keine Anzeichen von Fieber. Bald wird alles vorbei sein, und wir können uns ausruhen. Ich frage mich, ob sie die Absicht haben, uns als letzten Leckerbissen vor der Verfinsterung zu erledigen?
Wir können ihnen sicher nicht standhalten. Es ist die Hoffnung, die weh tut.
Er ruhte zwischen Dallith und Rianna, das Schwert in der Hand und wachsam, aber sein Körper war entspannt. Was immer jetzt passiert, ich habe sie beide geliebt. Sein Verstand bestand darauf, hinter seinem Rücken darüber zu grinsen. Typisch protosimianisch, jetzt daran zu denken. Noch einmal verfügte sein Verstand über das geätzte und durch Müdigkeit geschärfte Bewußtsein von Realität, das er am ersten Morgen der Jagd gehabt hatte. Er dachte: Welcher Zeitpunkt kannte besser sein?
Ich dachte mein ganzes Leben lang, ich sei auf der Suche nach Abenteuern, und jetzt, am Rande des Todes, habe ich herausgefunden, was ich wirklich gesucht habe. Ich habe die Realität gesucht – die beiden Realitäten, die man in der Zivilisation des zwanzigsten Jahrhunderts mit ihrer Betonung auf Sex und Grausamkeit anstatt Liebe und Tod nicht mehr findet.
Und hier habe ich sie gefunden – vielleicht zu spät, aber ich habe die beiden Dinge gefunden, die als einzige es wert sind, daß man mit ihnen fertig wird: Liebe und Tod. Wenn du sie einmal begriffen hast, weißt du, was das Leben ist. Alles andere sind nur Beiläufigkeiten. Liebe – Rianna und Dallith an seiner Seite. Und Aratak.
Und der Tod – dieser Jäger hinter dem Hügel und alle seine kleinen Brüder in jeder Form und Gestalt. Einen Augenblick lang, halb im Traum, strahlte eine irre Liebe auch dem Jäger entgegen, dem Jäger, der ihn den Tod gelehrt hatte, wie Rianna und Dallith ihn die Liebe gelehrt hatten … Er wußte, es war verrückt, und er versuchte bewußt, die Realität zu erfassen, die körperliche Situation. Die Klippe. Das Kampffeld. Die Steine. Der Schwertgriff in seiner Hand. Aber irgendein wahnsinniges Atom in seinem Gehirn bestand darauf, ihm vorzugaukeln, daß das die Realität war. Jeder Mensch tötet das, was er liebt …
Liebt jeder Mensch das, was er nicht töten würde …
Liebe deine Feinde …
Liebestod …
Dallith schlang plötzlich die Arme um ihn und küßte ihn. Ihr Mund war glühend heiß und das Gesicht gerötet, und er zog sie dicht an sich heran, aber seine Stimme blieb leise und ruhig unter der hervorbrechenden Erregung.
»Nimm es leicht. Es wird wieder gut werden.« Aber er war überrascht. Fantasierte auch sie?
Riannas Hand lag schwer auf seiner. Sie atmete tief.
»Dane – wenn irgend etwas passiert …«
»Nein«, unterbrach er sie. »Sag es nicht! Sag es nicht! Sag es hinterher!«
Und in diesem Augenblick schrie Dallith eine wortlose Warnung, und dann waren die Jäger schon bei ihnen.
Es war unmöglich zu sagen, wie viele es waren. Sie kamen plötzlich von allen Seiten, brachen so überraschend aus dem Unterholz hervor, daß kaum Zeit war, die Verteidigungslinie zu bilden. Dallith erlegte einen, dann noch einen mit ihrer Schleuder. Während sie auf eine kleine Steinsäule zurannte, die gegen den Überhang lehnte, um darauf ihre Stellung einzunehmen. Aratak lief mit erhobener Keule auf den Strom zu.
Dane sprang auf die Füße, und im selben Moment, als seine Finger den Schwertgriff fanden, kam ein Mekhar – Nein! Ein Jäger in der Gestalt eines Mekhar! – mit erhobenem Schwert aus den Felsen zu ihrer Rechten auf sie zu; hinter ihm folgten drei menschliche Gestalten … Einem Impuls gehorchend, wartete Dane, bis sein Feind fast über ihm war, und riß dann mit einem Schwung, der zwischen die Augen des Gegners traf, die Klinge aus der Scheide. Bevor das Katzenwesen sich erholen konnte, legte er auch die linke Hand an den Griff und ließ die Klinge beidhändig zu einem Schlag niedersausen, der den Löwenkopf wie eine Frucht spaltete. Blut sprudelte heraus, und der Mekhar fiel nach zwei Seiten auseinander. Dane zerrte die Klinge frei und trat einen Schritt vor, um sich der ersten menschlichen Gestalt zu stellen … Und starrte in ein unbestreitbar japanisches Gesicht: ein hageres Gesicht mit Hakennase und flinken, wachsamen dunklen Augen, ein kurzer, sehniger Körper im Gewand eines Samurai vor vierhundert Jahren. Seine lange, gebogene Klinge war in der klassischen Men-Haltung über den Kopf erhoben, und Dane wußte in dieser Sekunde, daß dies das Gesicht des Mannes war, dessen Schwert er trug. Für einen Moment ließ ihn die Erkenntnis auf der Stelle erstarren, aber dann tauchte dasselbe Gesicht in perfekter Verdoppelung hinter der Schulter des anderen auf und zeigte ihm, daß er keinem Geist gegenüberstand. Ein Jäger hatte einfach beschlossen, wie ein Ritter zuweilen die Rüstung eines tapferen gefallenen Gegners trug, das Gesicht eines Mannes anzunehmen, der seit vier Jahrhunderten tot war.
Das Schwert des Pseudo-Samurai war hoch über den Kopf erhoben. Als es niederfiel, schnellte Danes alte Samuraiklinge – die ursprüngliche? – hoch, um sie aufzufangen. Die beiden Klingen streiften einander, so daß der nach unten gerichtete Schlag abgelenkt wurde und harmlos an Danes Ellenbogen vorbeipfiff. Dann sauste Danes Schwert scharf herab. Eine halbe Sekunde lang dachte er, sein Schlag hätte das Ziel verfehlt, aber dann erschien eine feine rote Linie auf der Stirn, wo die rasiermesserscharfe Klinge getroffen hatte. Blut quoll hervor, und die Menschengestalt schwankte und fiel auf ihr geliehenes Gesicht.
Leben sie so lange? ging es Dane durch den Kopf. Oder filmen sie die Jagden; haben sie irgendwo vierhundert Jahre alte Filme, die zeigen, wie ein tapferer, einsamer Erdenmann starb? Hinter sich hörte er platschende Geräusche und Arataks tiefes, knurrendes Brüllen, aber er war zu sehr in Bedrängnis, um sich umzudrehen. Als er sein Schwert hob, um auf den zweiten falschen Samurai zu treffen, sah er die Schwächen in der Technik des Pseudo-Mannes, die leichte Unsicherheit in Haltung und Griff. Sie kopieren Bewegungen, die sie gesehen haben, dachte er, und nur die einfachsten. Mit meinem Training bin ich eine bessere Imitation eines Samurai als sie.
Der Jäger griff an, die Klinge über dem Kopf schwingend, genau wie es der andere getan hatte. Dane machte einen langen Ausfallschritt nach rechts, zog das Schwert im klassischen Doh-Schnitt an seinem Körper vorbei, und die rasiermesserscharfe Spitze traf den Körper des anderen genau unter den Rippen. Helles Arterienblut schoß hervor, und das schwere Atmen endete in einem erstickten Keuchen; der Jäger fiel ohne einen Schrei. Ein Mensch hätte Stunden gebraucht, um an diesem Schnitt zu sterben. Ich muß das getroffen haben, was bei ihm die Funktion des Herzens hat.
Dane spürte plötzlich ein wildes Frohlocken, einen fast schmerzhaften Hoffnungsstich. Sie sind verwundbar. Verdammt noch mal, sie sind doch verwundbar. Sie sind sogar leicht zu töten, wenn man weiß, wie. Aber, lieber Gott! Es ist schwer, das zu erfahren!
Noch während seine Klinge den Schwung des Schlages abfing, taxierte Dane seinen vierten Gegner und sah sich ohne Überraschung seinem eigenen Gesicht gegenüber. Was auch immer für einen Effekt es vorher auf ihn gehabt hätte, jetzt schien es ihm nur folgerichtig, sogar offenkundig. Vielleicht dachten sie, daß dieser Rianna oder Aratak erwischen könnte, während die Samuraiimitationen mich abservierten. Wie es der eine getan hatte, der Cliff überraschte.
Aber als Dane dieser Gedanke durch den Kopf ging, unterbrach sein Körper doch nicht für einen Augenblick seine fließende Bewegung. Mit einem scharfen Beugen der Gelenke kehrte er die Richtung der Schneide um. Der Pseudo-Dane kam vorsichtig näher, hielt die Klinge vor der Körpermitte, ungefähr in Danes Position; aber die Spitze war zu niedrig angesetzt. Danes Schwert peitschte im Priestergewand-Schlag nieder, fuhr durch die linke Schulter tief in die Brust; und als der Jäger zu Boden fiel, drehte sich Dane auf den Fersen um und rannte zurück zu den anderen. Die Jäger, die er getötet hatte, erlangten schon wieder ihre ursprüngliche Erscheinungsform: Fleisch, das wie Wasser zerfloß. Wird jemals einer überleben, um davon zu erzählen? fragte er sich. Ist das der Grund, warum sie am liebsten kurz vor der Dunkelheit angreifen?
Aratak stand am Ufer des Stromes, Speer und Keule waren beide blutbefleckt. Blutlachen waren auch auf der Uferböschung zu sehen, und formlose Körper trieben schon im Strom und zeigten, wo sie gewütet hatten. Ein paar Gestalten in Menschen- und Mekhar-Gestalt wateten mit gezogenen Waffen im Wasser, wahrten aber im Moment ihren Abstand. Einer der toten Körper im Wasser war viel größer als die anderen; er löste sich bereits auf, aber Dane konnte sehen, daß er riesig und behaart gewesen war. Er fragte sich, wie sie das Problem der Größe lösten.
Am gegenüberliegenden Ufer stand triefend, als ob er begonnen hätte, hinüberzuwaten und dann seine Meinung geändert hätte, eine Miniaturausgabe von Aratak, nur zweimeterfünfzig groß, aber mit einer Keule und einer Axt bewaffnet, die fast ebenso groß waren wie die des richtigen Aratak, außerdem trug er noch einen Schild. Neben ihm stand, ebenfalls triefend, der riesige Protoursine, den Dane augenblicklich als den Anführer der Jäger identifiziert hatte.
Es gab, wie es schien, ein Dutzend – vielleicht mehr – Pseudo-Menschen und etwa ebenso viele Pseudo-Mekhar. Er bemerkte, daß einige der Katzenmänner Schwänze hatten – ebenso einige des humanoiden Typus. Möglicherweise Kopien einer leicht abgewandelten Spezies? Aber Menschen und Mekhar waren immer noch in der Mehrzahl. Aus den Augenwinkeln sah er ein paar Wesen, die aussahen, als seien ihre Vorfahren Wölfe oder Waschbären gewesen, und eine Kreatur, die einem mannsgroßen Oktopus glich, nur daß sie zehn Fangarme hatte statt acht, und jeder Arm schwang eine andere Waffe. Und ganz hinten in der Masse der Jäger in allen möglichen Gestalten sah Dane einen riesigen Spinnenmann, der seinen tödlichen Speer wirbelte. Ein Schauder erfaßte ihn. Der andere Spinnenmann hätte ganz allein sie alle beinahe getötet, und nun mußten sie gegen so viele kämpfen. Aber dann sah er, wie der Spinnenmann sich in seinem Speer verhedderte und ihn fallen ließ. Der erste falsche Spinnenmann mußte ein Naturtalent gewesen sein, oder er hatte länger geübt, aber selbst er war langsamer gewesen als der echte Spinnenmann an Bord des Sklavenschiffes der Mekhar.
Aratak und er hatten alle getötet, die beim ersten Ansturm beteiligt gewesen waren, und der Rest hatte den Strom noch nicht überquert. Er hielt einen Moment inne, um sich nach den Mädchen umzuschauen. Körper im Wasser zeigten, wo Dallith am Werk gewesen war; Rianna lehnte wieder mit dem Rücken gegen die Klippe auf ihrem Speer. Zwei zerfließende Jägerkörper lagen zu ihren Füßen.
Aber kein Blutgeruch. Ihr Blut muß fast ebenso schnell verdunsten, wie es vergossen wird … Dane schöpfte Atem und bereitete sich auf den nächsten Angriff vor. Es ist nur eine Frage der Zeit, dachte er. Sie müssen uns töten. Sie können nicht vier Überlebende zurücklassen, um die Kunde von ihrer wahren Gestalt zu verbreiten – oder vom Fehlen dieser Gestalt.
Nicht mehr lange bis Sonnenuntergang. Wird sie das jetzt überhaupt noch aufhalten? Sie konzentrieren alle Kräfte auf uns.
Er bemerkte, daß sie neben dem Pseudo-Aratak und dem Pseudo-Dane, den er getötet hatte, eine falsche Dallith und eine nachgemachte Rianna hatten. ›Dallith‹ trug sogar eine Schleuder. Plötzlich jagte ihm das furchtbare Angst ein.
Sie müssen einst, wie manche Insekten, mit Hilfe von Mimikry ihre Feinde gefangen oder sich vor ihnen versteckt haben. Wäre er während der ersten Angriffswelle auf eine von ihnen anstatt auf Samurai gestoßen, hätte er vielleicht entmutigt gerade lange genug gezögert, um getötet zu werden. Er versuchte sich zu dem Gedanken durchzuringen, ›Dalliths‹ lieblichen Kopf abzuschlagen oder ›Riannas‹ weichen Körper zu durchbohren – einen Körper, den er so oft in den Armen gehalten hatte –, aber während er sich in Erinnerung rief, daß es nur Jäger waren, wuchs sein Entsetzen, und er wußte, daß ihm die Nerven durchgehen würden. Ich bin kein Empath, ich könnte nie sicher sein, daß es nicht die echte ist …
Sein Kummer und seine Verzweiflung mußten Dallith erreicht haben, denn einen Augenblick später hörte er ihren Stein durch die Luft zischen; die falsche Rianna brach mit blutüberströmtem Gesicht zusammen. Die falsche Dallith wirbelte ihre eigene Schleuder, vielleicht ahnte sie, was geschah, aber ihr Stein flog zu weit – so weit, daß man nicht sagen konnte, auf wen sie gezielt hatte, obwohl Dane vermutete, daß er selbst es gewesen war. Der Antwortstein der echten Dallith traf sie an der Schläfe, und Dane schloß schnell die Augen, um sie nicht fallen zu sehen.
Er öffnete sie sofort wieder, denn er wußte, daß jetzt die anderen über den Strom kommen würden, um anzugreifen; und schon sprangen sie in das seichte Wasser. Eines von den menschenartigen Wesen (wie eine Frau mit ziegelroter Haut und langen blau-schwarzen Haaren) wand sich die Uferböschung hoch; Riannas Speer durchbohrte den tödlichen Punkt von hinten. Das Ding spuckte Blut und blieb still liegen. Einer der Pseudo-Mekhar hatte das Ufer halb erklommen, als Arataks Keule niederkrachte und seinen Schädel zerschmetterte. Dane wartete mit erhobenem Schwert, aber keiner versuchte mehr, das Ufer hinaufzuklettern. Der riesige Protoursine stieß den klagenden Schrei aus, den Dane schon vorher gehört hatte. Darauf fielen sie zurück und blieben wartend zusammen in der Mitte des Flusses stehen. Dalliths Stein zerschlug einen ungeschützten Schädel, und sie zogen sich ein Stück zurück.
Dane warf einen erstaunten Blick auf den großen Anführer. Er hält sie zurück. Warum? Sicher weiß er, daß wir das Ufer nicht halten könnten, wenn sie alle auf einmal heraufstürmen würden …
Ein Pfeil flog über den Fluß und blieb zitternd im Boden stecken, gefolgt von einem weiteren; beide flogen zu weit. Dane macht den Bogenschützen aus, ein großes, grauhäutiges Wesen mit einem zum Greifen dienenden Schwanz, der die Pfeile einlegte, während es den Bogen mit beiden Händen hielt. Das könnte ein mittelmäßiger Schütze sein, aber ich vermute, sie haben nicht viel Übung mit Geschossen, oder diese Pseudo-Glieder können irgendwie nicht richtig damit umgehen. Vielleicht verlieren sie das Interesse, wenn sie den Kitzel nicht erleben, wie die Klinge hineinsticht …
Einer von Dalliths Steinen schlug einen Krater in den Schlamm am anderen Ufer; ein anderer landete zwischen dem Bogenschützen und einem anderen Mann. Was ist los? Sie schießt normalerweise besser … Dane drehte sich schnell um, um nachzusehen. Dalliths Gesicht war kreidebleich, und die Augen waren blind von Tränen; die Lippe blutete, wo sie sie durchgebissen hatte. Ihre Hände zitterten. O Gott! Ich wußte, daß das kommen würde. Sie bricht zusammen. Das Ding mit ihrem eigenen Gesicht zu töten, muß ihr den Rest gegeben haben … Er wollte gerade zu ihr hinlaufen, um sie zu trösten, wenn auch nur, indem er neben ihr Stellung bezog, als er im Unterholz etwas aufblitzen sah. Darauf warten sie also …
Schnell rannte er zurück zu Rianna. »Zieh dich zur Klippe zurück«, befahl er. »Aratak, halte das Ufer, so lange du kannst, aber warte nicht zu lange; weiche zur Klippe zurück, wenn du mußt. Dallith wird uns vielleicht nicht viel helfen können …« Er erhob seine Stimme und rief mit einer Munterkeit, von der er eigentlich weit entfernt war: »Dallith, hebe deine Steine für den Spinnenmann auf! Mit dem Rest werden wir fertig!«
In diesem Moment gab der Anführer einen weiteren dieser seltsamen Klagelaute von sich. Dane sah sie vorwärts stürmen und warf sich der Horde Jäger entgegen, die vom Pfad neben dem Strom auf sie zubrausten. Wenn ich noch eine Minute länger herumgestanden hätte, hätten sie uns von der Klippe abgeschnitten … uns von Dallith …
O Gott, Dallith, Armer, gequälter Liebling …
Zwei Pseudo-Mekhar waren vor ihn gesprungen; er duckte sich, als einer nach ihm schlug, wich vor dem anderen zurück, senkte sein Schwert zum Doh-Schlag und schnitt den Körper des Jägers entzwei. Der fallende Körper hielt den Stich des zweiten Katzenwesens gerade lange genug auf, daß Dane seinen Schädel spalten und weiterrennen konnte. Obwohl er jetzt mit absoluter Sicherheit wußte, daß sie alle sterben würden, daß nichts sie retten konnte, war Dane von einer Welle des Stolzes und einem merkwürdigen, beschwingenden Schwindelgefühl erfüllt. Ist das die Kampfbegeisterung, von der in den Wikingersagen die Rede ist? Dann sah er den zweiten Spinnenmann. Pseudo-Menschen mit langen Speeren umgaben ihn, und seine lange Lanze flimmerte und wirbelte im schrägen Sonnenlicht. Er ragte verhängnisvoll groß über seine Artgenossen in Menschengestalt hinaus.
Als sie aus dem schmalen Weg hervorbrachen, warf sich Dane ihnen entgegen, denn er sah keinen anderen Ausweg als den schnellen Angriff. Es waren immer noch platschende Geräusche vom Fluß her zu hören und das Krach-krach-krach von Arataks großer Keule. Er hatte keine Ahnung, wie lange Aratak die Stellung am Strom halten konnte; er wußte, er sollte sich zur Klippe zurückziehen, damit er und Rianna sich gegenseitig Deckung geben konnten, aber zuerst mußte er noch einige töten. Gott, es war befriedigend anzugreifen, anstatt wegzulaufen; er würde jeden töten, der in Reichweite seines Schwertes kam. Die Jäger sollten sich in acht nehmen! Bevor sie seinen Kopf an die Wand hängten, würde er, so viele er konnte, zu ihren gottverdammten ruhmreichen Vorfahren schicken, damit sie ihnen erzählen konnten, daß sie den Preis für Menschen in diesen Tagen anheben mußten, denn das Jagdwild wurde gefährlicher. Und wenn er und der alte Samurai an der Wand desselben Jägers hingen, konnte er seinem Gefährten von der Erde erzählen, daß er sein Schwert in Bewegung gehalten hatte, solange es in seiner Obhut war!
Die zwei vorderen Speermänner zielten auf Danes Brust; mit einer Drehung der Schulter stieß er eine Lanze beiseite, so daß sie die andere behinderte; sein Schwert sauste auf das Rückgrat seines Vordermannes nieder, und als das Blut aus dem verletzten Hals des ersten quoll, reckte sich Dane über den fallenden Körper, um den anderen Speerträger mit einem Schlag auf den Kopf zu töten. Und dann war das Spinnenwesen über ihm, sein Schild preßte sich gegen sein Schwert, und er sah die tödliche Lanze herunterwirbeln.
Es schien, als habe die Zeit aufgehört zu existieren, als habe sie sich in endlos aufeinander folgende Bruchstücke gestreckt. Er warf sich langsam zu Boden – aber in seinem Zustand der Verwirrung schien er sich in Zeitlupentempo zu bewegen –, und irgendwo gelang es ihm, beim Abrollen die messerscharfe Seite seines Schwertes von sich fernzuhalten. Die rotierende Lanze verfehlte ihn zweimal nur um Zentimeter und schlug Funken vom Felsen. Irgendwann zu diesem Zeitpunkt nahm er Jäger in menschlicher Gestalt wahr, die mit langen Speeren auf ihn einstachen; er zog die Beine über dem Bauch zusammen und war erstaunt, als er feststellte, daß er die Speere aus dieser Position leicht abwehren konnte, indem er das Schwert quer vor seinem Körper entlangzog. Dann kam einer der Speermänner zu nahe, und Dane zerschmetterte ihm die Kniescheibe mit einem Karatetritt; der Speerträger fiel über zwei Lanzen seiner eigenen Leute, und in der Verwirrung – der Jäger mit dem zerschmetterten Knie war vom Speer seines Gefährten aufgespießt worden – rollte Dane auf die Füße.
Er hieb einem die Kehle durch, erinnerte sich aber gerade noch rechtzeitig daran, daß er ihn so nicht töten konnte, und trieb die Klinge in seinen Kopf. Neun, mein Gott, neun, oder waren es zehn? Wer zählte hier noch?
Er schlug einen Speer den Bruchteil einer Sekunde zu spät beiseite, und der Stoff seiner Tunika riß; Schmerz durchfuhr seinen Arm, und das Stechen ließ seinen Kopf wieder klar werden – Gott im Himmel! Was geschah mit den anderen? Der Spinnenmann war genau an ihm vorbeigegangen. Er hob sein Schwert und schrie, und als die restlichen Speerträger sich erneut zum Angriff sammelten, rannte er wie der Teufel zur Klippe.
Aratak fiel vom Strom zurück, während seine Keule immer wieder auf den Schild niederschmetterte, der das Oktopuswesen schützte, während es am Ufer entlangkroch und mit seinen verschiedenen Waffen nach Arataks ungeschützten Fußgelenken schlug. Das ungedeckte Ufer wurde jetzt von einer Welle von Jägern überschwemmt, die von dem großen Protoursinen, dem Pseudo-Aratak und dem größeren der Spinnenwesen angeführt wurden.
Der andere Spinnenmann stand in der Mitte zwischen Aratak und der Klippe; die lange Lanze rotierte bedrohlich, während die großen roten Augen sich von Aratak zu den Mädchen und wieder zurück bewegten. Arroganz sprach aus jeder Linie seines dürren, grauen Körpers, ganz im Gegensatz zu der demütigen, gebückten Haltung des echten Spinnenmannes, den er gesehen hatte. Ein Schleuderstein zischte an seinem Kopf vorbei; er drehte sich nicht einmal um. Aratak wird zwischen dem Spinnenmann und diesem Oktopusbiest eingeschlossen werden! Dane öffnete den Mund, um ihm eine Warnung zuzurufen, aber seine Stimme drang nicht so weit.
Ein weiterer Stein traf den Spinnenmann an der Verbindungsstelle zwischen Ober- und Unterkörper. Der Jäger fuhr blitzartig herum und trippelte auf Dallith und Rianna zu.
Dane rannte los, obwohl er wußte, daß er mit der Geschwindigkeit dieses Wesens nicht Schritt halten konnte. Er sah, wie Rianna ihren Speer umklammerte, um das Wesen zu empfangen, und er sah deutlicher denn je, scharf umrissen, wie mit Säure geätzt, Dalliths weißes, in Tränen aufgelöstes Gesicht, während Stein um Stein ohne Pause aus ihrer Schleuder flog. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Aratak plötzlich zusammensank, seine Masse dann plötzlich in die Luft schleuderte, über die Waffen, die nach seinen Füßen schlugen, hinaus, und auf dem Oktopus landete. Eine große Pranke ergriff den Schild. Schild und Tentakel wurden dem Jäger vom Körper gerissen und flogen durch die Luft; die Keule krachte nieder und zerquetschte den Oktopus zu einer formlosen Masse. Der Echsenmann drehte sich um und rannte auf die Klippe zu.
Dallith straffte sich, warf die Schleuder weg und starrte entsetzt vor sich hin. Dann schlug sie die Hände vor das Gesicht. Der Spinnenmann hatte die Klippe jetzt erreicht. Rianna stieß mit dem Speer nach ihm, aber der Schild des Jägers wischte ihn beiseite, und im selben Moment schnellte sein Speer in einem direkten Stoß über Riannas vorgeneigten Kopf hinweg und durchbohrte Dalliths schlanken Körper zwischen den Brüsten.
Dane schrie ihren Namen; sein einziger Gedanke war jetzt, dieses Ding zu töten, das Schwert wegzuwerfen und sie in seine Arme zu nehmen.
Aber Aratak war schneller als er, und bevor das Spinnenwesen noch seine Lanze aus Dalliths Körper zielen konnte, ergriff Arataks große Pranke zwei seiner dürren Arme und warf die Kreatur um. Die fürchterliche Keule hieb einmal zu, und aus beiden lebenswichtigen Punkten spritzte Blut meterweit; der kraftvolle Echsenmann hob den toten Jäger hoch in seine Arme und schleuderte den großen Körper in den anstürmenden Haufen.
Danes Kopf war leer. Dallith! Es konnte nicht wahr sein! Dallith … Wieder schrie er ihren Namen, ohne einen bewußten Gedanken; ein Katzenwesen mit Schwert versuchte einen Ausfall gegen ihn, und er tötete es. Es geschah automatisch. Er konnte nicht mehr denken. Er war nur noch eine schreiende, tötende Maschine. Aratak und Rianna kämpften verzweifelt über Dalliths gefallenem Körper, und ein kleiner Teil von ihm kam in Bewegung und wachte auf. Ihr Körper gehört mir. Nicht ihnen, damit sie ihn essen, ausstopfen oder an die Wand hängen. Tot oder lebendig, sie gehört mir; sie werden sie nicht bekommen, und wenn ich dafür jeden einzelnen Jäger auf diesem verfluchten Mond töten muß … ein winziger Teil seines Gehirns wußte, daß er vollkommen verrückt war, aber sein Körper, unberührt von jedem Gedanken, explodierte in einem tödlichen Ballett. Der nächste Speerträger ging mit aufgeschlitzter Brust zu Boden; ein Schwertkämpfer vom Mekhar-Typus verlor seinen Kopf. Er war sich halb bewußt, daß Aratak an seiner Seite kämpfte und Axt und Keule in tödlichem Rhythmus wechselte. Lange Speere wurden zur Seite gefegt oder zerschmettert, und ihre Träger starben; Schwertmänner sanken nieder, bevor sie in seine Reichweite kamen. Rianna stand hinter ihnen gegen die Wand geduckt, und ihre Lanze stieß aus Arataks Kniehöhe zu. Die mannsgroßen Jäger drängten sich um Dane und traten sich gegenseitig auf die Füße; er schlug ein paar von ihnen nieder. Alles geschah jetzt automatisch. Über Arataks Kopf hinweg sah er, daß die Sonnenscheibe den Horizont berührte. Wen interessierte das jetzt noch? Töte sie alle oder stirb wenigstens bei dem Versuch!
Eine bärtige Menschengestalt rannte auf Dane zu. Sie hielt einen runden Metallschild vor dem Körper erhoben und wirbelte ein schweres, gerades Schwert über dem Kopf. Eine flüchtige Erinnerung daran, wie der Spinnenmann sein Schwert eingeklemmt hatte, ließ Dane zur Seite springen und seine Klinge vom Schild wegziehen. Er machte eine Drehung, während sein eigenes Schwert einen weiten Kreis beschrieb und durch die rechte Schulter des Mannes in seine Brust drang.
Die nächsten Augenblicke waren ein einziges Durcheinander. Es war unmöglich, den Überblick zu behalten. Aratak ließ irgendwie den bärenartigen Anführer der Jagd durch die Luft fliegen, seine Klinge war von einem Schlag mit der Keule des Echsenmannes zerbrochen. Der Protoursine bückte sich und begann, zwischen den kugelförmigen, sich auflösenden Körpern seiner Toten nach einer anderen Waffe zu suchen. Dane und Aratak stürmten gemeinsam auf ihn zu, und der falsche Echsenmann, der herbeigeeilt kam, um in den Kampf einzugreifen, traf Aratak mit einer Nachahmung seiner eigenen großen Keule am Knie. Dieser ging mit einem Seufzer zu Boden, aber seine Axt wirbelte durch die Luft, und als der Schild des Jägers herunterkam, um sie aufzufangen, trieb Rianna ihre Lanze in seine Seite, und der falsche Aratak fiel. Einen Augenblick lang dachte Dane, es sei sein Freund, der gefallen war; der echte und der falsche Aratak lagen nebeneinander auf dem Boden. Der große Protoursine hatte eine Lanze, ähnlich der von Rianna, aufgehoben und stürmte auf sie zu, stolperte aber über einen seiner eigenen Männer, den rauhäutigen Bogenschützen. Um ihn herum fielen die Jäger zurück zum Strom, und als Dane sich durch einen Nebel von Blut über seinen Augen umschaute, bemerkte er, daß der letzte Sonnenstrahl verschwunden war. Sonnenuntergang. Die Schlacht war vorüber … Die Jäger, die noch am Leben waren – es konnten kaum mehr als ein Dutzend übrig sein, dachte Dane in traumartiger Verzweiflung –, eilten durch das Wasser zurück. Das große Bärenwesen schrie ihnen etwas nach, als wolle es sie zum Stehen bringen. Es erhob seine Keule, wie um sie zu einem letzten Angriff zu bewegen; einer oder zwei der Jäger hielten inne und griffen nach ihren Waffen, aber die anderen hasteten weiter, und nach einer Minute drehte sich der riesige Protoursine entmutigt um, hob seine Waffe in einer letzten drohenden Gebärde und zog sich zurück.
Aratak und ich müssen mehr als die Hälfte von ihnen getötet haben. Ich wette, jeder Jäger auf diesem Planeten war hier – bei der letzten Jagd waren es insgesamt nur siebenundvierzig.
Er wandte sich um und rannte zu der Stelle, wo Dallith zwischen den Felsen lag. Hinter ihm erhob sich jemand auf die Füße, den er für den Pseudo-Aratak hielt, aber das interessierte ihn im Augenblick nicht. Dann merkte er, daß es der echte war, und das interessierte ihn im Moment ebenfalls nicht.
Dallith lag auf dem Rücken über dem Steinhaufen, auf dem sie ihre letzte Stellung bezogen hatte. Die Arme waren nach beiden Seiten weit ausgebreitet, die dunklen Augen – die Augen eines verwundeten Rehs – starrten blind in den dunkler werdenden Himmel.
Leben und Tod. Liebe und Tod.
Er wiegte ihren erkalteten Körper in seinen Armen; dann ließ er sich niedergleiten und blieb bewegungslos, halb bewußtlos liegen, den Kopf gegen ihre leblose Brust gelehnt.