14
Um Mitternacht war nicht daran zu denken, die Stadt zu verlassen, denn Riannas verletztes Bein war geschwollen, so daß es ihr Gewicht nicht tragen konnte. Ihr Gesicht war heiß, und Dane fragte sich, ob sie Fieber bekommen hatte oder ob sich die Wunde durch den unhygienischen Verband infiziert hatte, den sie in Ermangelung von Besserem hatten anlegen müssen. Es gab keinen Weg, das herauszufinden, aber was auch geschehen mochte, sie konnte sich im Moment nicht bewegen. Sie konnten sie vielleicht ein kleines Stückchen tragen, aber ganz sicher nicht den ganzen Weg bis zu einer neutralen Zone. Auch wären sie, wenn sie an den Toren der Stadt angegriffen wurden – und nach dem letzten Abend war anzunehmen, daß dies geschehen würde – nicht imstande, sich gegen einen Angreifer zur Wehr setzen, solange sie die hilflose Rianna beschützen mußten.
»Es sieht ziemlich schlecht aus«, sagte Dane zu Aratak, nachdem er sich außer Hörweite der Frauen begeben hatte – warum, wußte er eigentlich nicht, denn Rianna war zu schwach, um ihn zu beobachten, und Dallith wußte ohnehin, wie er sich fühlte.
Der Saurier nickte zustimmend. Er hatte den getrockneten Schlamm vom Körper abgewaschen und leuchtete wieder im Dunkeln, und Dane war klar, daß dies Jäger anziehen würde, falls welche in der Nähe waren. Nun, in letzterem Fall würden sie wahrscheinlich ohnehin gefunden; es gab keinen Grund, Aratak eine Unbequemlichkeit aufzubürden, wenn vielleicht ihrer aller Leben von seiner Kampfform abhing.
Sie blieben bis zur Dämmerung auf dem offenen Platz nahe bei dem Becken und dem verfallenen Brunnen. Dane schlief nur wenig, drängte aber Aratak, sich niederzulegen und auszuruhen. Obwohl Dallith mit ihm Wache halten wollte, sagte er düster, sie solle sich neben Rianna legen und versuchen, sie warm zu halten. Es war das einzige, was sie jetzt für Rianna tun konnten. Er dachte daran, den Verband aus dem Teil schlammsteifem Stoff, den sie aus Arataks Tunika gemacht hatten, zu wechseln, aber Dallith war dagegen. Sie meinte, man könne ganz sicher sein, daß keine Bakterien oder Pilze, die sich in Arataks Kleidung eingenistet hatten, in Riannas Wunden gelangen konnten, um sie zu infizieren. »Es gibt fast nie Infektionen zwischen verschiedenen biologischen Arten«, sagte sie. »Und Aratak ist nicht einmal warmblütig. Schädlinge, die ihm gefährlich werden können, sind wahrscheinlich völlig harmlos in der Blutbahn von Protosimianern, während alles, was wir mit uns herumtragen, ganz leicht von uns auf Rianna übertragen werden könnte.«
Während seine Kameraden schliefen, saß Dane mit dem Rücken zu dem verfallenen Brunnen und schaute zu der seltsamen Welt hinauf, die hoch am Himmel leuchtete und mindestens ein Viertel davon zu bedecken schien. Merkwürdig, merkwürdig zu denken, daß er vor drei Monaten noch friedlich mit der Seadrift gesegelt war, allein und auch zufrieden mit diesem Zustand; tatsächlich hätte er auf eine entsprechende Frage antworten müssen, daß er keinem anderen menschlichen Wesen auf der Erde verbunden war. Jetzt befand er sich nicht mehr auf der Erde, aber er war ganz sicher nicht nur mit einer, sondern mit zwei Frauen verbunden, deren Schicksal von seiner Sorge und Unterstützung abhing. Und zum ersten Mal in seinem Leben hatte er einen innig geliebten Freund seines eigenen Geschlechts, und es war kein Mann, sondern ein drei Meter großer Saurier!
Er sah die rote Welt untergehen, als der Himmel schon in der Morgendämmerung aufglühte, und er dachte bei sich, daß der Mond auf der Erde in ein paar Tagen voll sein würde. Und die Monate waren kürzer hier. Aber würden sie noch drei oder vier Tage überstehen können? Sie hatten zur Not genug Nahrung – nach dem letzten hastigen Besuch einer neutralen Zone ein paar Tage zuvor –, um für den Rest der Jagd durchzuhalten. Dane war schon einmal in den Bergen auf der Erde fünf oder sechs Tage lang ohne Essen ausgekommen. Sie hatten auch genug Trinkwasser. Könnte es ihnen irgendwie gelingen, sich in den Ruinen zu verstecken, bis Rianna wieder in der Lage war zu laufen?
Zum Teufel! Ob sie konnten oder nicht, sie mußten.
So ließ er, als der Morgen heraufdämmerte, die Frauen weiterschlafen, bis die Sonne hoch am Himmel stand, da alles ruhig schien. Dann trug Aratak Rianna in eines der größeren Gebäude, und Dallith kümmerte sich um sie. Gegen Sonnenuntergang, wenn die Gefahr eines Angriffs am größten war, konnte Dallith vielleicht auf das Dach klettern und Ausschau halten und jeden Angreifer mit ihrer Schleuder empfangen. Inzwischen würden er und Aratak abwechselnd Wachgänge machen.
Das Gebäude, in das sie Rianna brachten, war groß genug, um ein Amphitheater zu sein, mit langen Säulenreihen, die alle aus seltsamen sonnengetrockneten Ziegelsteinen gebaut waren, und den Überresten von Steinbänken und Plattformen, die in eigenartigen Abständen verstreut waren. Sie alle wiesen merkwürdige scheibenförmige Vertiefungen im Stein auf, und Dane fragte sich, welche unvorstellbar fremdartigen Gestalten sie wohl gebaut hatten. Rianna mochte es wissen, aber sie war nicht in der Verfassung, um gefragt werden zu können. Das brachte seine Gedanken unvermeidlich auf Vermutungen über die Jäger zurück. Doch das führte zu nichts. Obwohl er inzwischen eine verteufelt bedrohliche Lehre gezogen hatte: Ein Jäger konnte in jeder beliebigen Gestalt erscheinen.
Wenn du Zweifel hast, ist es sicherlich ein Jäger. Dann töte ihn.
Das würde ihr Motto sein müssen, wenn sie überleben wollten. Pfeif auf die Moral, vielleicht ein unschuldiges Wild zu töten. Im Laufe des Vormittages schlief Dane etwa eine Stunde, da Dallith berichtete, die Stadt sei ruhig, und es gäbe keine Spuren von fremden Wesen in der Nähe. Er gestattete es sich kaum zu hoffen, sie seien hier in Sicherheit, aber vielleicht war dies ein verbotener Ort für die Jäger, ein unbezeichneter, sicherer Punkt in diesem verrückten Spiel, der für die anderen vielleicht tabu war.
Später ging er hinaus, um einen vorsichtigen Blick von den Mauern hinunterzuwerfen. Wenn sich Jäger der Stadt näherten, konnte er sie vielleicht von hier kommen sehen. Er ließ die Frauen mit Aratak zurück, ging vorsichtig um das Brunnenviereck herum und stieg dann eine lange, breite Straße hinauf, die sich zwischen Ruinen und teilweise eingefallenen Gebäuden entlangwand.
Das merkwürdigste war für Dane, wie wenig fremd ihm diese Stadt erschien. Es schien ihm nicht fremdartiger, nicht entfernter als damals, als er durch Stonehenge gelaufen war, oder als die Nacht, die er im Tal der Könige verbracht hatte, bevor es für den großen Damm überflutet wurde. Jene Stätten waren durch die Zeit von ihm entfernt; diese Stadt nur durch den Raum. Aber hier waren unverwechselbar Häuser, und was machte es schon für einen Unterschied, welche Art die Geschöpfe gewesen waren, die sie erbaut hatten? Protosimianer, Protofelinen, Protosaurier – oder welche seltsamen Rassen auch immer – hatten hier gelebt und gelitten und sich gefreut und waren dann gestorben, und nicht nur die menschliche Natur, sondern auch das, was Aratak die Allumfassende Weisheit nannte, änderte sich nie … Dane bemerkte plötzlich, daß er unbewußt die Hand an sein Schwert gelegt hatte. Welches Geräusch, jenseits der Schwelle seines normalen Bewußtseins, hatte seine Aufmerksamkeit erregt? Es war leise, wie von einer Katze, die zwischen Steinen herumstreicht.
Ein dunkler Schatten schoß am Rande seines Gesichtsfeldes vorbei und fiel ihn von hinten an; aber Dane hielt sein Samuraischwert bereit. Er wirbelte herum, schlug zu und sah erst jetzt den zusammenbrechenden, zuckenden Körper eines Mekhar, der, halb in der Mitte gespalten, hinfiel und reglos liegen blieb.
Dane sah ihn mit einem leichten Gefühl von Bedauern an, als er sein Schwert zurücksteckte. Kein Jäger also. Sie sind nicht so leicht zu töten.
Aber offensichtlich war etwas hinter dem Mekhar her, und wenn es ihn verfolgte, würde es ihm nichts ausmachen, ein bißchen die Richtung zu wechseln und Dane statt dessen zu töten. Oder vielleicht jagten sie auch Dane und hatten den Mekhar dabei aus seinem Versteck vertrieben.
Oder vielleicht hatte der arme Teufel sogar gedacht, hier sei ein gutes Versteck, und hatte Dane für einen Jäger gehalten? Aber wenn es hier Jäger gibt, die entweder hinter ihm oder hinter uns herschleichen, sollten wir lieber einen sicheren Platz suchen, um einen guten Stand zu haben. Dieses Gebäude, in dem ich die Frauen zurückgelassen habe, ist nicht sicher.
Dane drehte sich um und wollte gerade zurückgehen, als er den halb erwarteten schrillen Aufschrei Dalliths hörte.
Er fiel in Laufschritt, sprang in langen Sätzen durch die ziegelgepflasterte Straße, hastete über die zerbrochenen Steine. Das Schwert hatte er wieder gezogen; er eilte vom Ende der Straße auf den Brunnenplatz zu und sah sie. Und am gegenüberliegenden Rand des Brunnens, wo das fließende Wasser noch von der zerbrochenen Einfassung tröpfelte, stand schwankend ein Mann, wie er selbst in eine ziegelrote Tunika gekleidet, und fiel mit blutüberströmten Gesicht zu Boden. Aber Danes erste Sorge galt ihr.
Sie stand mit der leeren Schleuder in der Hand, und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck blanken Entsetzens; aber als sie Dane sah, stieß sie einen Schrei der Erleichterung aus und warf sich weinend in seine Arme.
»Es war nicht dein Körper … oh, Dane, Dane, ich hatte Angst, ich hätte auch dich getötet …« Er konnte ihre Worte durch ihr wildes, unkontrolliertes Schluchzen kaum verstehen.
»Erzähl es mir, Liebling«, drängte er und hielt sie dicht an sich gedrückt. Dann ließ er sie los und fuhr herum, das Schwert wieder in der Hand, und stieß sie heftig von sich, weil er ein plötzliches Geräusch hörte; aber es waren nur Aratak, der mit erhobener Keule müde in den Hof kam, und Rianna, die an seiner Seite hing und sich auf den Speer stützte, den sie dem Spinnenmann abgenommen hatten.
Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder Dallith zu, die sich erschrocken an ihn preßte.
Wenn sie anfängt aufzugeben, dachte er, sind wir sicher alle so gut wie tot. Bis jetzt hat sie nicht geweint, aber nun … Ihr hysterisches Weinen beruhigte sich endlich ein bißchen, und ihre Schluchzer wurden zu verständlichen Worten. »Ich kam hierher, um Wasser zu holen … um Riannas Wunden zu waschen. Sie wollte mit mir kommen, aber ich sagte ihr, ich hätte ja meine Schleuder. Wenn es Gefahr gäbe, könnte ich besser damit fertig werden als sie. Ich kam zu dem Platz hier am Brunnen, blickte auf und sah dich, Dane. Nur eine Minute, natürlich, dann wußte ich, daß du es nicht warst – es war dasselbe Wesen, das den Klippenkletterer getötet hat. Und dieser Jäger hatte vor, mit mir dasselbe zu tun. Nur … nur hatte ich keine Angst. Ich spürte dasselbe Gefühl wie er! Verstehst du? Er stand da, versuchte, mich wegzulocken und zu töten, und ich überlegte mir, wie ich ihm eine Falle stellen könnte! Oh, ich fühlte mich so schlau … und so grausam!« Sie schauderte in der Erinnerung daran. »Ich winkte und lächelte, als würde ich wirklich glauben, du seist es, und die ganze Zeit drehte ich mich halb um, so daß ich meine Schleuder unbemerkt laden konnte. Und ich gab ihm ein Zeichen, näher zu kommen, und wartete, während er den Platz überquerte. Ich lächelte ihn süß an … und dann, als ich ihn genau dort hatte, wo ich ihn haben wollte, als ich einen absolut sicheren Treffer landen konnte, gab ich es ihm genau zwischen die Augen!« Der Ausdruck von Entsetzen auf ihrem Gesicht vertiefte sich. »Er sah die Schleuder natürlich in der letzten Sekunde, als es zu spät war. Und das war das Schlimmste daran. Ich wollte, daß er sie sieht! Ich wollte ihn wissen lassen, daß ich ihn an Schlauheit übertroffen hatte, gerissener und hinterhältiger als er war … Er sollte wissen, daß ich gewonnen hatte. Ich war stolz darauf!« Sie lehnte sich an Dane und weinte heftiger denn je. »Oh, Dane ich mag diese Leute nicht; ich will nie wieder Teil von so etwas sein, nie wieder so denken und fühlen. Es ist nicht nur, daß sie mich töten wollen. Das kann ich aushalten. Die Mekhar waren wild und grausam, aber es war … oh, wie kann ich das ausdrücken … es war anständig – verglichen hiermit! Cliff – ich habe ihn wirklich gemocht am Schluß; er kämpfte immer so ehrlich und aufrichtig. Er hätte niemals etwas Ähnliches getan … er hätte es feige und ehrlos genannt …« Noch einmal erstickte Schluchzen ihre Worte. Durch ihr Weinen hindurch hörte Dane Arataks Stimme.
»Dane«, sagte der große Echsenmann ruhig, »wenn du kannst, wenn sie dich läßt, dann komm für eine Minute hierher. Hier drüben ist etwas, was du sehen solltest – und was Dallith auf keinen Fall sehen sollte.« Und Dane hörte deutlich das Geräusch von reißendem Stoff.
Dalliths Schluchzen hatte nachgelassen, und es war klar, daß sie gehört hatte, was Aratak gesagt hatte. Ihre Stimme klang leise und erstickt. »Nachdem das … das Ding tot war, war alles vorbei«, sagte sie. »Ich fühlte mich nicht mehr so wie vorher. Das war der Augenblick, als ich schrie. Weil ich fürchtete, daß irgendein … ein körperloses Ding in deinen Körper geschlüpft war, deinen Geist übernommen hatte, und ich dich tötete, als ich es umbrachte … ich wäre gestorben, wenn das passiert wäre.« Und Dane wußte, daß sie buchstäblich die Wahrheit sprach.
»Komm, ich werde mich um sie kümmern, Dane«, sagte Rianna freundlich, und löste Dalliths Arme von seinem Nacken.
Dallith kam etwas zu sich und erwiderte: »Es ist schon in Ordnung, Rianna … ich sollte mich um dich kümmern …« Aber sie ließ zu, daß Rianna sie festhielt. Dane ließ sie los und ging zu der Stelle, wo Aratak ihn erwartete. Der Saurier schaute, auf seine Keule gelehnt, auf den toten Jäger hinunter.
Das Ding hatte die Gestalt eines Mannes gehabt. Danes eigene Gestalt. Aber jetzt, als er auf das, was da unter der Tunika, die Aratak aufgerissen hatte, auf den Pflastersteinen lag, hinuntersah, entdeckte Dane in einem einzigen Moment des Erstaunens und Begreifens das Geheimnis der Jäger.
Das Ding, welches da auf dem Pflaster lag, war annähernd kugelförmig. Nur kleine, schrumpfende Ausbuchtungen, Tentakeln ähnlich, zeigten, wo es Arme und Beine gehabt hatte, die nun nicht einmal mehr entfernt menschlich waren. Der Kopf war rund, eingebettet in einen gewölbten Schädelknochen, den Dalliths Schleuderstein aufgebrochen hatte, und das Entsetzliche war, daß Danes Haar und seine Gesichtszüge immer noch wie eine dünne Haut über der Vorderseite des grauen, zerfließenden Gehirns lagen. Als er es beobachtete, wurden die Züge flacher und glätteten sich, und übrig blieb nur der runde, zerschmetterte Schädel mit seltsamen flachen, schwarzen Augenhöhlen, die leblos in den Himmel starrten. Eine pulsierende Kugel fast transparenten Fleisches, die große Blutgefäße und eigenartig gefärbte Organe umschloß, gerade noch sichtbar durch die dünne Haut, die das Ding umgab, war durch einen dünnen Stengel mit dem Kopf und dem gebrochenen Schädel verbunden. Dane pfiff leise. Aratak hatte die Tunika offensichtlich aufgerissen, um zu beobachten, wie der tote Jäger sich in das verwandelte, was seine ursprüngliche Form gewesen sein mußte.
Sie benutzten also keine Hypnose. Sie erwachten nicht wieder zum Leben, nachdem sie getötet worden waren, und sie beseelten nicht die Körper ihrer gefallenen Feinde zu neuem Leben. Mit diesen Organen mußten sie schwer zu töten sein, aber wenn sie einmal richtig getroffen waren, dann waren sie auch tot. Aber wenn man nicht die tödliche Stelle traf – das Gehirn, das große, pulsierende innere System, das auch Herz und Lunge der Kreatur sein mußte –, wenn man nur die Organe traf, die sich unter dem transparenten Fleisch abhoben, dann konnte das Ding einfach seine ursprüngliche Form wieder herstellen.
Er hätte es wissen müssen. Das Ding war mit einem abgetrennten Arm weggerannt und dann mit einer aufgerissenen Kehle. Das Spinnenwesen konnte mit abgeschnittenen Beinen fertig werden, aber als Dallith seinen Kopf traf, war es tot, und nur die Ankunft der anderen Jäger hatte sie daran gehindert, zu sehen, wie sich sein Körper wie dieser hier veränderte.
Dann hatten sie also einen Jäger schwer verletzt und mindestens zwei getötet. Und die Tatsache, daß sie nun die verwundbare Stelle der Kreaturen kannten, bedeutete, daß sie eine gute Chance hatten, mehr von ihnen umzubringen. Und dennoch – der Jäger wird von niemandem gesehen, außer von dem Wild, das er tötet. Es waren also keine Gerüchte durchgedrungen, daß die Jäger ihre Gestalt veränderten. Vielleicht waren die einzigen Überlebenden der meisten Jagden diejenigen, die nie auf wirkliche Jäger getroffen waren, sondern sich versteckt gehalten oder nur andere Beutetiere getötet hatten.
Und würden die Jäger sie am Leben lassen, um diese Geschichte weiterzutragen?
O Gott. Angenommen, sie hatten ein Gruppenbewußtsein wie die Diener? Sie hatten die Diener programmiert; vielleicht hatten sie kein Gefühl für Individualität? Was einer wußte, wußten vielleicht alle, und in diesem Fall, wenn einer von ihnen herausfand, daß sie ihre wahre Gestalt kannten … Wir werden die Hauptzielscheibe für jeden Jäger auf dem Roten Mond sein, dachte Dane.
Er sagte etwas in dieser Art zu Aratak, aber der große Echsenmann meinte nur: »Warum sollten wir uns künstlich Sorgen machen? Wir wissen nicht, ob sie ein Gruppenbewußtsein haben. Und wenn sie es hätten, wie könnten sie dann so eine wildes, individuelles Gefühl des Triumphes in der Jagd entwickeln? Denk daran, was Dallith dir erzählt hat.« Das stimmte, aber Dane war nicht überzeugt. Wespen und Bienen konnten individuell stechen, obwohl es genügend Beweise dafür gab, daß ihr Bewußtsein das einer Gruppe war.
Aber Wespen und Bienen waren nicht intelligent. Aratak schien zu glauben, daß Intelligenz von einem Gefühl für Individualität abhängig war, und wer konnte sagen, daß er unrecht hatte? Und die Jäger waren ganz bestimmt intelligent. Aratak hat recht. Warum sich künstlich Sorgen machen? Wir haben genügend Probleme, mit denen wir zurechtkommen müssen.
»Rianna, kannst du laufen? Wir müssen aus der Stadt heraus, bevor sie uns alle auf einmal überfallen. Wenn sie wissen, daß wir hier sind – und ich bin sicher, sie wissen es, wie hätten sie sonst Danes Form annehmen können? –, wird das hier zu einer Falle!«
Rianna entgegnete: »Ich kann alles tun, was sein muß.« Ihr Gesicht war blaß, aber sie sah entschlossen aus.
Es gab nicht viel zu tragen, nur die Waffen und ein kleiner Rest Essen. Aratak sagte: »Wir sollten heute Nacht eine neutrale Zone erreichen und unsere Vorräte auffüllen.«
Dane meinte nur: »Na ja, wir werden sehen.« Er befestigte seinen Umhang über den Schultern. »Ich traue den Dienern nicht so recht – und sie haben ein Gruppenbewußtsein, so daß alles, was ein Diener weiß, der ganzen Bande bekannt ist. Und wer weiß? Vielleicht erzählen sie den Jägern, wo ihr Wild sich befindet?«
»Würde das in ihre Vorstellung von Ehre passen?« fragte Rianna.
»Woher, zum Teufel, soll ich das wissen?« schrie Dane, und sie schwieg erschrocken. »Laßt uns endlich gehen!«
Schweigend gingen sie auf die Tore zu. Dane sagte kurz: »Dallith, halte Ausschau. Du hast die Psychogabe. Sag uns, wenn diese Dinger sich nähern.«
Sie wirbelte zu ihm herum, ihr Gesicht war angespannt und rebellisch. »Nein!« erwiderte sie rau. »Ich will nicht. Ich kann nicht. Ich kann es nicht ertragen! Ich kann es nicht ertragen, mit diesen … diesen Dingern in Berührung zu kommen.«
Dane spürte ihre Angst, aber er wagte es nicht, sich Mitleid mit dem Mädchen zuzugestehen, sonst würde er sich zerreißen. Er ging ärgerlich auf sie zu und sah zu ihr hinunter, sein Gesicht war hart wie Stein.
»Du willst doch leben, oder nicht?« Ihre Stimme klang traurig und monoton. »Eigentlich nicht. Aber ich will, daß du lebst – ihr alle. In Ordnung, Dane; ich werde tun, was ich kann. Aber wenn ich ihnen zu nahe komme, wenn ich ein Teil von ihnen werde, könnte ich euch … nicht von ihnen fort, sondern in sie hinein führen.«
Danes Gesicht verzerrte sich krampfhaft. Er hatte nie an diese Möglichkeit gedacht … daß Dallith nicht nur die Angst der Gejagten übernehmen konnte, sondern auch die Verschlagenheit der Jäger. Er berührte sanft ihre Schulter. »Tu, was das beste ist«, sagte er. »Aber versuche, uns ein paar Sekunden bevor wir angegriffen werden, zu warnen.« Er wandte sich ab, ohne sie noch einmal zu berühren. Er wagte es nicht. »Laßt uns gehen«, sagte er und schritt ungefähr in Richtung der Stadttore davon.
Sie mußten noch einmal den Brunnenplatz überqueren, und Dane spürte eine Gänsehaut. Er wußte, er wußte, jemand beobachtete sie … Der Angriff kam plötzlich und so unorganisiert, daß sich Dane bis zum Tage seines Todes an nichts anderes erinnern konnte als an dunkle Gestalten – drei oder vier davon –, die plötzlich alle um sie herum waren. Dallith schrie wild auf. Rianna taumelte zurück, stützte sich dabei auf ihren Speer und zog mit dem gesunden Arm ihr Messer heraus. Arataks riesige Keule krachte herunter. Dane schlug mit seinem Schwert zu. Er zielte auf den Bauch eines Wesens, das der Bluthund von Baskerville hätte sein können. Es heulte, spuckte Blut und stürzte nieder. Dallith hob hastig Riannas heruntergefallenen Speer auf und stieß ihn jemandem durch die Brust. Er sah Rianna in die Dunkelheit eines Gebäudes fliehen. An einem Punkt des Kampfes lag Dane auf dem Boden und schlug nach etwas, was zwischen ihm und dem Licht stand.
Dann lagen überall tote, sich auflösende Gestalten auf dem Boden verstreut, in Stücke geschlagen, und die Jäger waren verschwunden.
Und ebenso Rianna.