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Leslie war so schockiert, daß sie aufsprang. Sie wußte nicht, daß sie schrie, ehe sie ihre eigene Stimme hörte. »Nein, Alison! Das kannst du mir nicht weismachen! Niemals!«

Doch vor ihrem inneren Auge stand immer noch wie eingebrannt das Bild von Simon, der auf Christina starrte.

Warum?

Mehr als einmal hatte Simon erklärt, Chrissy sei nutzlos, ja, ihr Leben sei weniger wert als das von Alisons weißer Katze. Und Leslie war sich zumindest unbewußt darüber im klaren gewesen, daß Simon ein weiteres Menschenopfer vorbereitete – in dem Glauben, dadurch die vollständige Heilung seiner Hand zu bewirken.

Emmie hat Simons menschenverachtende Meinung über Christina geteilt, und nun versucht er, vermittels Emily Magie zu wirken … er hatte sie hypnotisiert, hatte sie zu einer Logensitzung mitgenommen, bei denen irgendwelche Jungfräulichkeitsrituale eine Rolle spielten …

Und Chrissy hat Simon zum Opfer erkoren wie damals die drogensüchtige Prostituierte, weil er auch sie als wertlos für die Gesellschaft betrachtet …

Leslie stürmte die Treppe hinunter. Erst als ihre Hand auf dem Türknauf des Ateliers lag, fiel ihr wieder ein, daß Simon den einzigen Schlüssel besaß. Sie versuchte, mit Hilfe ihre übersinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit ins Innere des Raumes zu schauen, und sah für den Bruchteil einer Sekunde das Bild vor Augen, das sie vor längerer Zeit in diesem Raum erblickt hatte … Simon, der mit zur Anrufung erhobenen Händen dastand. Dann wurde Leslies Vision von einer Woge der Verzweiflung fortgespült, die sie zu ersticken drohte.

Wie können Sie es wagen, meinem wunderschönen Haus so etwas anzutun, diesem Ort, den ich so liebe?

Verdutzt erkannte Leslie, daß sie schon einmal so empfunden hatte. Hatte auch Alison dieses Gefühl gehabt? Hatte dieses Wissen sie bewogen, ihren Protege und Schüler Simon zu enterben, der ihr Nachfolger werden und ihre Kräfte erben sollte?

Leslie brachte es nicht über sich, Susan anzurufen. Sie zögerte sogar, die Polizei zu verständigen. Hätte sie Chrissy in der Gewalt einer anderen Person gesehen, hätte sie sich sofort an die Beamten gewandt. Doch sie war sich noch immer nicht sicher, ob die Behörden einen Irrtum begangen hatten, als sie Simon nach dem Tod von Alison Margrave verhörten. Schließlich hatte Simon zu dem Zeitpunkt, als Alison starb, im Krankenhaus gelegen und sich einer Operation unterzogen.

Aber Simon ist ein Mörder. Zumindest einmal hat er einen Menschen getötet …

Leslie erkannte, daß sie diese Tatsache bislang noch gar nicht in ihrer ganzen Tragweite begriffen hatte. Die Hand auf den Türrahmen gelegt, versuchte sie noch einmal mit aller Kraft, ihre Sinne ins Innere des Ateliers vordringen zu lassen.

Chrissy hatte bei Simons Anblick geschrien, hatte die Schokolade zu Boden geschleudert, die er ihr gereicht hatte, und war darauf herumgetrampelt … die einzige zielbewußte Handlung, die Leslie je bei dem Mädchen erlebt hatte.

Alison … Hatte die alte Frau tatsächlich versucht, sie vor Simon zu warnen? Leslie ließ die Episoden, die sich in diesem Haus abgespielt hatten, noch einmal Revue passieren. Eines war gewiß: Alison hatte versucht, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Das Unsichtbare streckt die Hand aus … Ja, das war eine gute Umschreibung der Erlebnisse in diesem Haus, der häßlichen Streiche gegen Simon, der Zerstörung seines Cembalos. War es reine Bosheit Alisons gewesen? Rache an ihrem treulosen Schüler? Oder eine Warnung an Leslie?

Mit schweren Schritten ging Leslie ins Haus zurück. Nach kurzem Überlegen hob sie den Telefonhörer ab und wählte die Nummer von Simons Wohnung, legte jedoch wieder auf, ehe er an den Apparat gehen konnte. Was hätte sie ihm auch sagen sollen?

Ach, übrigens, Simon, ist Christina Hamilton zufällig bei dir? Du weißt schon, das kleine Mädchen mit dem Hirnschaden, von dem du gesagt hast, es sei ›lebensunwert‹. Bist du gerade dabei, diesen Fehler in Gottes Ratschluß auszubügeln?

Allein der Gedanke war unvorstellbar. Eine solche Frage konnte man einem Menschen, den man liebte, nicht stellen.

Simon. Der sanftmütige Mann. Der zärtliche, leidenschaftliche Liebhaber. Der gequälte Künstler, leidend an Körper und Geist, weil seine Karriere zerstört worden war. Wer war Simon wirklich? Der Mann, der über Leichen ging und bekannte, daß er Schwarze Magie gewirkt hatte, um Heilung für seine zerschmetterte Hand und sein zerstörtes Auge zu finden? Der väterliche Freund, der mit Emily scherzte und sie mit Geschenken überhäufte? Simon besaß ein Dutzend Persönlichkeiten, und eine davon mochte in einem Moment des Wahnsinns oder der Verzweiflung Chrissy entführt haben. Und was Leslie am meisten Angst einjagte: Sie liebte ihn deswegen nicht weniger …

Aber sie würde nicht zulassen, daß es so weiterging. Sie würde alles tun, Simon und Chrissy zu finden, ehe er dem kleinen Mädchen etwas antun konnte. Seinen ersten Mord – falls er wirklich geschehen und nicht das Phantasieprodukt einer gequälten Seele gewesen war – hatte Simon wahrscheinlich in dem an Wahnsinn grenzenden Schockzustand begangen, den seine Verstümmelung ausgelöst hatte. Diesmal aber war er bei klarem Verstand, und wenn er das kleine Mädchen ermordete, würde er mit der Höchststrafe dafür büßen, falls Leslie ihn nicht rechtzeitig aufhielt.

Wohin hatte er Chrissy gebracht? Es gab viele Möglichkeiten. Das Gebäude dieser seltsamen Loge, zu deren Sitzung er Emily mitgenommen hatte. Seine Wohnung. Ein nur zu diesem Zweck angelegtes Versteck.

Leslie beschloß, den einzigen ihr bekannten Ort zu überprüfen, der in Betracht kam: Simons Wohnung.

Sie sprang in ihren Wagen und drehte hastig den Zündschlüssel. Hinter einem quälend langsamen Oberleitungsbus fuhr sie die Haight Street hinauf und bog dann in die Straßen ab, die hügelaufwärts nach Twin Peaks führten. Sie mußte in den zweiten, dann sogar in den ersten Gang zurückschalten; inzwischen hatte sie sich an Simons Mercedes gewöhnt, dessen PS-starker Motor die gesamte Steigung im dritten Gang bewältigte. Vor Simons Wohnung angelangt, ließ sie den Wagen auf der Straße stehen, denn der Parkwächter kannte sie inzwischen und hätte darauf bestanden, sie bei Simon anzumelden. Und wenn Simon tatsächlich Chrissy bei sich hatte, wollte, mußte Leslie ihn überraschen.

Doch schon als sie den Schlüssel im Schloß drehte, spürte sie, daß die Wohnung leer war. Sie trat ein, schloß die Tür hinter sich und rief: »Simon?« Aber sie wußte, daß sie keine Antwort erhalten würde. Sie hörte ihre Stimme durch die Zimmer hallen, wartete, rief noch einmal.

Dann durchsuchte sie die Wohnung: Wandschränke, Badezimmer, den stillen großen Raum, in dem der Baldwin-Flügel und das Cembalo stumm und mit geschlossenem Deckel standen, die Küche, das große Wohnzimmer. Über dem Altar im Schlafzimmer schwebte ein scharfer, bitterer Weihrauchduft, den Leslie noch nie wahrgenommen hatte.

Ein besonderes Räucherwerk für Opferhandlungen? Ist Chrissy hier gewesen?

Leslie bewegte sich langsam durchs Wohnzimmer. Die weißen Polster … auf diesem Sofa hatte sie Chrissy in ihrer Vision liegen sehen …

Sie sah kleine Stücke getrockneten Schlamms, wie sie unter den Schuhsohlen eines achtlosen oder unverständigen Kindes kleben mochten. Schmutz, den Simon längst entfernt hätte, wäre er älter als drei Tage gewesen. Nein, das war kein Beweis, noch nicht. Auch nicht der ungeöffnete, in Goldfolie verpackte Schokoladenriegel. Leslie ballte die Fäuste und begann unwillkürlich zu beten. Mach, daß Simon einen Fehler begangen hat und daß ich den Beweis finde, daß Chrissy hier istoder daß ich Simon unrecht tue, daß er unschuldig ist …

Ein blasses Rot zog Leslies Blick auf sich. Ein ausgewaschenes, abgetragenes rotes Kleidungsstück, das mit Sicherheit nicht Simon gehörte. Langsam bückte Leslie sich und hob es auf. Die alte, verschlissene Jacke eines Kindes. Leslie drehte sie in den Händen, fühlte den weichen Cordstoff. Die Ellbogen waren geflickt.

Gib acht, worum du betest! Gott könnte es dir gewähren! Hier war er, der Beweis. Ein mit krakeligen Buchstaben beschriftetes Schild: ›Christina Hamilton‹. Leslie hörte sich aufschreien und verzweifelt stöhnen. Christina war hier gewesen.

Du hättest Simon überreden, hättest ihn anflehen können. Tu es nicht, Simon, du vernichtest dich selbst, wenn du mich liebst, Simon …

Jetzt war es zu spät. Was konnte sie tun? Nach Hause in ihr Spukhaus fahren, wo Alison vergeblich versucht hatte, ihre Aufmerksamkeit zu erregen und ihr zu zeigen, daß die Liebe zu Simon sie blind gemacht hatte? Schicksalsergeben auf die grauenhafte Nachricht warten, das Entsetzen, den Skandal? Versuchen, Simon in dieser riesigen Stadt zu finden? Würde er Chrissy in seinen Tempel bringen, an den Ort, zu dem Leslie ihm voller fehlgeleitetem Vertrauen den Schlüssel gegeben hatte? Wenn er Emily in diese Sache hineinzieht, bringe ich ihn um, dachte Leslie, verdrängte den Gedanken dann aber, denn jetzt kam es allein darauf an, Simon davon abzuhalten, sich selbst zu vernichten; alles andere zählte nicht, bis auf …

… Emily. Simon hatte das Mädchen einer Gehirnwäsche unterzogen, hatte sie hypnotisiert. Plötzlich hatte Leslie den Eindruck, Alisons Präsenz zu spüren, ihre geisterhafte Stimme raunen zu hören: Ohne ihr Einverständnis kann er Emily nicht vernichten. Schaudernd dachte Leslie an die Bemerkung ihrer Schwester, Kinder wie Chrissy hätten kein Recht zu leben. Hatte Emily sich damit nicht schon selbst verurteilt?