17
Doch Leslie büßte schwer für ihre blinde Hingabe. Während der nächsten paar Wochen erlebte sie in ihren Alpträumen immer wieder das Ritual. Manchmal zerrte Simon sie in den Tempel, damit sie ihm half, eine weiße Katze zu opfern. Dann wieder war das Opfer Alison, die Claires Gesicht besaß. Gelegentlich lagen Leslie selbst oder Emily gefesselt auf dem Altar, oder ein Teil ihres Ichs beobachtete in stummem Protest, wie ein anderer Teil von ihr das Messer hob. Es kam so weit, daß sie sich vor dem Einschlafen fürchtete. Aber im Wachen sagte sie sich immer wieder grimmig, daß Simons Leben und seine Genesung das Leben einer unbekannten drogensüchtigen Prostituierten wert waren. Falls die Sache sich überhaupt so zugetragen hatte. Manchmal erklärte Simon ihr im Traum auch, er habe sie nur prüfen wollen, feststellen, ob sie das Unaussprechliche akzeptieren würde. Und das hatte sie getan. Was sollte sie sonst tun? Zur Polizei gehen? Was konnte Simon daran hindern, den Beamten zu erklären, es habe sich bloß um einen makabren Scherz gehandelt? Und dann würde er ihr nie wieder vertrauen …
Und wenn sie aus ihren Träumen erwachte und Simon anschaute, dann wußte sie, daß sie ihn liebte, was immer er getan haben mochte, und daß sie ihn schützen würde, sollte die Polizei tatsächlich bei ihr auftauchen. Aber wenn sie Simon in die Augen schaute, war sie dankbar dafür, daß seine außersinnlichen Gaben – wie immer sie beschaffen sein mochten – sich nicht auf Telepathie erstreckten, so daß er ihre Gedanken nicht lesen konnte.
Im Laufe ihrer Berufsjahre war Leslie ihnen schon begegnet – den Frauen, die sich an Verbrecher klammerten und ihre Liebe zu Kriminellen rationalisierten; Männern, die jede mögliche Straftat bis hin zu Mord begangen hatten; Männern, die lebenslang in St. Quentin einsaßen. Selbst solch wertlosen Kerlen hielten diese Frauen die Treue. Natürlich konnte Leslie sich immer sagen, Simon sei anders. Aber sie hatte diese Frauen stets verurteilt und das Gefühl gehabt, ihr Mangel an Selbstwertgefühl habe sie davon überzeugt, daß sie nichts Besseres verdienten als diese Kriminellen. Und nun gehörte sie selbst zu ihnen. Oder doch nicht? Entweder war Simon ein Wahnsinniger, ein unglaublicher Lügner, oder er hatte mindestens einen kaltblütigen Mord begangen.
Leslie studierte Alisons Buch über Reinkarnation. Waren Simon und sie vielleicht über mehr als ein Leben aneinander gebunden? Wie hätte sie sonst ihre Reaktion erklären können? Sie wünschte, Simon hätte niemals gesprochen und sie besäße noch Emilys Unschuld. Leslie fühlte sich wie Blaubarts Frau, welche die verbotene Tür geöffnet hatte und nun auf ewig mit der Antwort auf ihre schicksalhafte Frage leben mußte.
Am Morgen des Tages, an dem Nick Beckenham, Joels Bruder, heiratete, riß Leslie die oberste Seite ihres Schreibtischkalenders ab und sah ihre entsprechende Notiz. Hatte sie wirklich jemals geglaubt, Joel zu lieben und das, was sie verband, für befriedigenden Sex gehalten? Was das anging, hatte sie inzwischen eine völlig neue Wahrnehmungsebene erreicht. Sie hätte ebensogut als Jungfrau zu Simon kommen können.
Da Leslie nicht mehr an Zufälle glaubte, war sie nicht erstaunt, als Emily sie in diesem Moment ans Telefon rief. Ihre Schwester aß gerade eine Scheibe Cheddarkäse mit Knäckebrot – eine kulinarische Neuerung, die Simon eingeführt hatte. »Da ist der nette Polizist, den du in Sacramento kennengelernt hast«, erklärte Emily mit vollem Mund.
»Leslie?« Nicks Stimme klang genau wie immer. »Joel sagt, daß du nicht zu unserer Hochzeit kommst. Ist wirklich traurig. Ich hätte mich so gefreut, dich zur Schwägerin zu haben, weißt du.«
»Oh, Nick, tut mir leid.« Schüchtern verlieh sie ihrer Überzeugung Ausdruck, zu der sie gelangt war, seit sie in diesem Haus wohnte: »In gewissem Sinne bist du mein Bruder, und nichts wird jemals etwas daran ändern. Wir werden immer Freunde bleiben.« Vielleicht für mehr als ein Leben. Was außer dem Gedanken der Wiedergeburt erklärte sonst Dinge wie Emilys Begabung oder die berühmte Liebe auf den ersten Blick?
»Ganz bestimmt«, gab Nick zurück. »Als ich zur Polizeischule ging, hatte ich einen Ausbilder, der zu sagen pflegte: ›Mit seiner Familie ist man von Gott geschlagen, aber zum Glück läßt er einen wenigstens seine Freunde aussuchen.‹ Aber ich hätte mich trotzdem gefreut, dich zu sehen.«
»Wenn ihr beide, du und Margot, das nächste Mal nach San Francisco kommt, könnt ihr bei uns wohnen«, bot Leslie an.
»Danke, Les, vielleicht nehmen wir dich beim Wort. Hör mal, ich hab’ da einen Freund bei der Polizei in Frisco.« Wie alle Amerikaner – von den Einwohnern San Franciscos selbst abgesehen – bestand Nick hartnäckig darauf, die Stadt Frisco zu nennen. »Er hat sich nach dir erkundigt, und ich habe ihm deine Telefonnummer gegeben. War das okay?«
Es war nicht okay. Leslie konnte sich immer noch nicht mit ihrer hellseherischen Gabe anfreunden, doch inzwischen wußte sie, daß sie sich nicht weigern durfte. »Ich werde auf seinen Anruf warten«, meinte sie resigniert.
»Ich wäre dir wirklich dankbar, Les. Tja, ich muß jetzt los.« Leslie war tief gerührt, daß Nick an seinem großen Tag den Wunsch gehabt hatte, sie anzurufen. Mehr als alle Worte bestätigte ihr dies, daß er es ebenso wie sie spürte, diese besondere Verbundenheit zwischen ihnen beiden.
»Grüß Margot ganz herzlich von mir, Nick. Ich wünsche euch beiden alles Glück. Und ich wünschte wirklich, ich könnte bei euch sein.«
Wenn es stimmte, daß Gedanken Gestalt und Substanz besaßen, würde ein Teil von ihr dort sein und zuschauen, wie Nick und ihre Freundin getraut wurden.
Am Nachmittag erteilte Simon eine Meisterklasse; er hatte Leslie dazu eingeladen, doch sie erwartete zwei Patienten, denen sie nicht absagen konnte, und mußte ablehnen. Statt dessen nahm Simon Emily mit. Kürzlich hatte Leslie zum erstenmal ihren Namen in einer Klatschkolumne gelesen; nicht, daß es ihr etwas ausgemacht hätte. Ein berühmter Musiker von piratenhafter Eleganz – Leslie nahm an, daß der Autor sich auf Simons Augenklappe bezog, die er allerdings nicht mehr trug – wurde mit neuer weiblicher Begleitung gesehen. Doch begehrt er wirklich die dunkle Lady oder ihre Teenager-Schwester, die er mit gleicher Begeisterung durch die Stadt eskortiert? Oder hält doppelt genäht einfach besser? Wer macht hier die Anstandsdame für wen?
Es ärgerte Leslie immer wieder, daß es Menschen gab, die nichts anderes lasen als solche Blätter. Simon würde mit Emily zum Abendessen nach Hause kommen; er schien ihre viktorianische Küche ebenso zu lieben wie die elegante und hochmoderne in seiner Wohnung. Vielleicht würde sie nach dem Essen mit ihm fahren und die Nacht bei ihm verbringen … Der Gedanke erfüllte sie mit köstlicher Vorfreude, doch sie schob ihn rasch beiseite. Jetzt mußte sie erst einmal mit Judy Attenbury reden, die langsam, aber sicher wieder an Gewicht verlor.
Wahrscheinlich waren nur Transsexuelle therapieresistenter als Magersüchtige, und das aus demselben Grund: Sie glaubten sich im Recht und die ganze Welt im Unrecht. Was für eine merkwürdige Verkettung von Ursache und Wirkung aus dem jetzigen oder einem anderen Leben mochte einen Mann dazu bewegen, hartnäckig zu glauben, in Wirklichkeit eine Frau zu sein, die im Körper eines Mannes gefangen war? Oder brachte junge Mädchen dazu, immer mehr abzumagern und sich manchmal buchstäblich zu Tode zu hungern? Was wußte die konventionelle Psychotherapie schon über die menschliche Seele? Leslie fragte sich, ob die Psychologie überhaupt irgendwelche Antworten parat hatte. Sie selbst jedenfalls hatte keine.
Leslie wurde klar, daß sie wieder einmal von ernsten Selbstzweifeln gequält wurde. Aber es hatte keinen Sinn, dem nachzugeben. Dennoch war sie erleichtert, als ihre nächste Patientin anrief, um ihre Sitzung zu verschieben – eine geschiedene Hausfrau, die sich ein neues Leben aufzubauen versuchte, nachdem sie zwanzig Jahre lang ihre Identität als perfekte Hausfrau und Mutter gefunden hatte.
Leslie konsultierte ihren Kalender, um einen neuen Termin für die Frau zu finden, und ging in den Garten. Immer noch entdeckte sie in entlegenen Ecken Blumen, die sie nicht kannte. In der Sommersonne dufteten die Kräuter berauschend. Über einem stark duftenden Lantana-Busch summten die Bienen, und Hummeln brummten wie winzige Helikopter um das Geißblatt herum. Leslie fand eine schwere Gartenschere und machte sich daran, die Rizinusbüsche zurückzuschneiden. Noch zwei Stunden, bevor Susan Hamilton kam.
Im Garten war es unendlich friedlich. Die grünen Blätter fingen so viel Licht ein, daß selbst der Himmel einen grünlichen Schimmer über Leslie zu werfen schien. Für eine Stadt, die auf Sanddünen errichtet war, gab es in San Francisco erstaunlich viel Grün. Aber Leslie erinnerte sich daran, daß jeder Grashalm bis hin zu den exotischen Pflanzen im Golden Gate Park von Menschen hergebracht und Halm für Halm, Blatt für Blatt kultiviert worden war. Lag darin die Lektion, daß man nicht alles der Natur überlassen durfte? Kurz stand eine Vision der Stadt vor ihren Augen, wie sie sich kahl und leer auf Sanddünen bis ins Meer erstreckte.
Leslie stopfte die Blätter, Zweige und giftigen Schoten der Rizinusbüsche in einen Müllsack und band ihn fest zu. Vielleicht sollte sie mal zum Tierheim fahren und sich eine Katze für den Garten holen. Oder Claire könnte ihr ein weißes Tier geben. Frodo hatte erwähnt, daß sie oft Katzen fortzugeben hatte und froh wäre, für eine ein gutes Heim zu finden. Nein, keine weiße Katze. Sie war schließlich nicht Alison. Zwar lebte sie in Alisons Haus und schien ihre Praxis geerbt zu haben, aber sie würde sich ihre Umgebung nach ihrem eigenen Geschmack gestalten.
Wie wäre es mit einer schwarzen Katze wie der, die Colin Monsignore genannt hatte, einer Tigerkatze oder einem rostbraunen Tier? Leslie kannte ein paar Leute in den Hügeln von Berkeley, die einen Wurf rostfarbener Katzen mit einem Einschlag von Wildkatze besaßen. Ihr alter Kater hatte in den umliegenden Hügeln Hunderte rostbrauner Kätzchen gezeugt.
Leslie schleppte den Abfallsack zum vorderen Gartentor, wo die Mülltonnen standen, und versuchte sich dabei eine rostrote Katze unter dem Zitronenbaum vorzustellen. Am Tor blieb sie wie angewurzelt stehen. Ein schwarzweißer Polizeiwagen stand vor dem Haus, und ein uniformierter Streifenpolizist kam den Weg herauf.
»Im Haus ist niemand«, rief Leslie. »Ich bin hier im Garten. Was ist los, Officer?« Wie bei jedem Menschen, der schon einmal ein tragisches Ereignis erlebt hat, war ihre erste Reaktion Furcht. Emily war mit Simon unterwegs – ob ihr etwas zugestoßen war?
Der stämmige Polizist kam näher. Neben ihm ging eine junge Beamtin in einem khakifarbenen Hosenanzug.
»Ich kannte dieses Haus früher ganz gut«, sagte er, »und wollte nur mal nachschauen, ob hier wieder jemand wohnt. Sie sind die Freundin von Detective Beckenham, stimmt’s? Mein Name ist Joe Schafardi.«
Automatisch fuhr Leslie ein wenig zurück, obwohl sie geglaubt hatte, sich damit abgefunden zu haben. »Ich kenne ihn, ja.«
Die junge Frau schaute sich im Garten um. »Das ist einer der schönsten Gärten in der ganzen Stadt. Gut zu sehen, daß hier jemand wohnt, der sich darum kümmert«, meinte sie. »Ungefähr einen Monat hat hier mal eine Frau gewohnt, aber ich glaube nicht, daß sie auch nur einmal in den Garten gegangen ist. Eigentlich habe ich hier angehalten, weil ich fragen wollte, ob ich mir eine Zitrone pflücken darf. Dr. Margrave hat mir immer Zitronen geschenkt, und im Vorbeifahren fiel mir ein, daß am Baum bestimmt welche hängen, die nur schlecht würden, wenn niemand hier wohnte. Aber natürlich wohnen Sie jetzt hier …«
»Bitte, bedienen Sie sich.« Leslie wies auf die schwer mit Früchten beladenen Äste des Baumes. Sie hatten mehr frische Zitronen, als Emily jemals zu Bio-Limonade verarbeiten konnte. Ihre Schwester und Simon hatten schon überlegt, Marmelade daraus zu kochen. »Nehmen Sie ruhig mehrere, wenn Sie möchten. Ich freue mich, wenn die Früchte nicht verderben.«
Die Polizistin ging zu dem Baum, wählte sorgfältig drei leuchtend gelbe Zitronen aus und kam damit zurück zum Tor.
Währenddessen wandte Schafardi sich an Leslie. »Dr. Margrave war eine nette alte Dame. Merkwürdig, daß gerade Sie hier eingezogen sind – sie hat nämlich auch manchmal mit unserer Abteilung zusammengearbeitet. Vielleicht hat Sergeant Beckenham Ihnen ja davon erzählt. Wie es so schön heißt, es gibt nichts, was es nicht gibt. Mrs. Margrave hat uns gesagt, wer damals der Zebra-Mörder war, nur kamen wir leider aus politischen Gründen nicht an die Leute heran. Ich selbst würde mich ja nie ausschließlich auf Hellseherei verlassen, aber wie ich hörte, hat die Polizei von Berkeley sich an Dr. Margrave gewandt, als Patty Hearst entführt wurde …«
»Gibt es einen bestimmten Grund für Ihren Besuch?« Leslie wußte, daß sie unfreundlich klang.
»Nun ja, eigentlich schon«, antwortete die junge Polizistin. »Eine Vermißtenanzeige. Wir haben die Routineprozeduren durchgespielt, aber wir wissen einfach nicht, wo wir anfangen sollen.«
Leslie erkannte, daß einer ihrer Alpträume Gestalt annahm. Jetzt würden die beiden Beamten sie nach einer drogensüchtigen Prostituierten fragen, und sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie ihnen antworten sollte … Aber nein, der Polizist berichtete ihr von einem jungen Mann, der am San Francisco State College studierte. Kurz vor der Abschlußprüfung war er spurlos aus seinem Apartment verschwunden und hatte weder eine Nachricht noch irgendeinen Hinweis zurückgelassen – dabei war er ein guter Student, so daß Examensängste nicht der Grund gewesen sein konnten. Auch sein Motorrad hatte er stehenlassen.
Langsam stieß Leslie den Atem aus. »Ich werde tun, was ich kann. Natürlich kann ich Ihnen nichts versprechen.«
»Wollen Sie das Apartment des jungen Mannes sehen? Die Besitzerin möchte es weitervermieten, aber ich habe sie gebeten, noch eine Woche zu warten, damit sich noch jemand die Wohnung anschauen kann. Wenn wir nur eine Ahnung hätten, ob wir nach einem Mordopfer suchen oder jemandem, der sich davongemacht hat …«
Leslie versprach zu kommen und zu sehen, was sie herausfinden könne. Während die Polizisten sich bedankten, sah sie, daß Simons Auto hinter dem Streifenwagen gehalten hatte. Er war ausgestiegen und hielt Emily die Beifahrertür auf. Als er dort stand und wartete, erhaschte Leslie einen Blick auf sein Gesicht.
Er wandelt ebenfalls auf einem schmalen Grat, so wie ich, durchzuckte es sie, ohne daß sie hätte sagen können, was sie damit meinte. Dann war der Augenblick vorüber, und Simon schritt lässig auf das Tor zu, wo Leslie mit den Polizisten stand.
»Ah, da ist ja Dr. Anstey«, rief Schafardi aus. »Wir haben uns kennengelernt, als Miss Margrave … verschieden ist«, schloß er mit einem Hüsteln. »Ich habe Sie damals mit einem Kollegen im Krankenhaus aufgesucht. Wie geht’s der Hand? Wie ich sehe, können Sie bereits auf eine Schlinge verzichten.« Er wandte sich an seine Kollegin. »Pat, darf ich dir Dr. Simon Anstey vorstellen? Dr. Anstey – Officer Patricia Ballantine.«
»Oh, ich habe einen Ihrer Filme gesehen, Mr. Anstey …«, rief die junge Frau aufgeregt, und Leslie spürte beinahe körperlich, wie sie rasch den Blick von Simons schwarzem Handschuh wandte und wie dies an Simons Nerven zerrte.
»Tja, dann bis heute abend auf dem Revier«, verabschiedete sich Schafardi. »Soll ich Ihnen einen Streifenwagen schicken, Dr. Barnes?«
»Nein«, antwortete Leslie. »Ich komme mit dem eigenen Auto. Ich hoffe sehr, daß ich den jungen Mann finden kann und daß er noch lebt. Aber Sie wissen natürlich selbst am besten, daß ich Ihnen nichts versprechen kann.« Die beiden Cops dankten ihr noch einmal und gingen davon, die Hände voller Zitronen. Leslie sah dem davonfahrenden Streifenwagen nach und verzog das Gesicht.
»Anscheinend habe ich eine neue Laufbahn eingeschlagen, ob ich will oder nicht.«
»Warum empfängst du diese Leute?« wollte Emily wissen.
Leslie seufzte. »Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich, weil sie mir leid tun.« Aber sie wußte, daß dies nicht die ganze Antwort war. »Was hat noch ein Bergsteiger auf die Frage geantwortet, warum er den Mount Everest besteigen will? Weil er da ist.«
In letzter Zeit hatten viele Dinge Leslie überrascht, darunter die Ruhe, mit der sie sich inzwischen mit diesem Teil ihres Lebens abfand. Alles gleicht sich aus, dachte sie. Simon und Emily hatten der Welt ihre Musik zu geben. Sie selbst besaß nur ihre bescheidene Fähigkeit, sich um Menschen mit Problemen zu kümmern, und das war eine zu geringe Gegenleistung für alles, was ihr im Leben zuteil geworden war. Also mußte sie auch ihre andere Gabe einsetzen.
»Wir sollten die Zitronen pflücken, es sind schon sehr viele reif«, sagte Emily. »Ich möchte Marmelade daraus kochen. Ob das wohl auch klappt, wenn wir Honig statt Zucker nehmen, Simon?«
»Wenn wir als Geliermittel Pektin verwenden, schon«, meinte Simon. Emily eilte zum Zitronenbaum, wobei sie zurückrief: »Holst du die Leiter aus der Garage?«
»Nein«, erwiderte Simon, und Emily lachte. »Faulpelz!«
»Ich kann meiner Hand die Belastung nicht zumuten«, versetzte Simon grimmig. »An der Handkante habe ich kein Gefühl. Ich würde es nicht einmal merken, wenn ich mich verletzte.«
»Entschuldige bitte, Simon«, rief Emily. »Natürlich hole ich die Leiter …«
Sie rannte davon, und Simon lächelte Leslie angespannt zu. »Sollen wir in meine Wohnung fahren und dort die Nacht verbringen? Wann bist du denn mit dieser lästigen Sache auf dem Revier fertig?«
»Ich habe keine Ahnung, Liebster. Die Polizei möchte, daß ich mir eine Wohnung anschaue und das Verschwinden eines jungen Mannes überprüfe.«
Simon zuckte die Achseln. »Jedes Jahr verschwinden Hunderte junger Menschen. Der Großteil hat bloß die Anschrift geändert, ohne sich die Mühe zu machen, jemanden offiziell darüber zu unterrichten. Ich hoffe, daß nicht mehr an dieser Sache ist.«
Leslie erinnerte sich an Juanita Garcías Gesicht unter der Wasseroberfläche eines Abwasserkanals und betete ebenfalls darum. Wenn der junge Mann am Leben war, konnte sie ihn vergessen, und die Polizei ebenfalls. Schließlich beging man kein Verbrechen, indem man umzog, ohne seine Familie zu benachrichtigen. Als sie Sacramento verlassen hatte, war sie auch in die Versuchung geraten. Wäre Nick Beckenham nicht gewesen, wäre sie womöglich ebenfalls in die Vermißtenstatistik eingegangen. Aber nein, das hätte sie Emily niemals angetan. Ihren Eltern vielleicht, aber nicht ihrer Schwester.
»Wann sollst du dort sein? Haben wir noch Zeit, irgendwo zu Abend zu essen?«
»Ich habe noch einen Patienten, Simon«, sagte Leslie bedauernd. »Bis halb sieben. Anschließend muß ich gleich zur Polizei – ich hab’s versprochen.«
»Und ich kann keinen Anspruch auf deine Zeit geltend machen«, sagte Simon und tätschelte ihr sanft die Wange. »Darüber müssen wir mal reden.« Er sah, daß Emily mit der Leiter unter dem Arm zurückkehrte. »Du solltest Handschuhe tragen, mein Kind. Deine Hände sind zu kostbar. Lauf nach drinnen und zieh deine Gartenhandschuhe an.«
Gehorsam entfernte sich Emily, und Leslie fragte sich, ob sie sich Sorgen darüber machen sollte. Emily widersprach Simon nie, stellte keine seiner Aussagen in Frage. Und dabei war sie stets eine Kämpferin gewesen, die sich Autoritäten niemals hatte unterordnen können.
Vielleicht ist es nur eine Phase, die Emily durchläuft. Leslie half ihr, die Leiter aufzustellen; dann hörte sie im Haus das Telefon klingeln.
»Vielleicht ist das mein Auftragsdienst, Simon«, sagte sie und eilte ins Haus. Doch als sie den Hörer abnahm, blieb es gerade lange genug still, daß sie spürte, wie ihr Magen sich reflexartig zusammenkrampfte. Ging das schon wieder los? Doch endlich meldete sich eine verschüchterte Stimme. »Dr. Barnes, jemand hat mir erzählt, Sie hätten Dr. Margraves Praxis übernommen …«
»Das stimmt so nicht«, gab Leslie kurz angebunden zurück. »Man hat Sie falsch informiert. Ich führe eine eigene Praxis. Wenn Sie einen Termin wünschen, rufen Sie bitte meinen Auftragsdienst an.«
»Nein, darum geht es nicht … Man hat mir gesagt, Sie könnten mir helfen. Ich glaube, jemand hat mich mit einem Fluch belegt …« Abrupt verstummte die Stimme am anderen Ende der Leitung, als hätte die Frau selbst erkannt, wie verrückt das klang.
In was für eine Welt gerate ich da hinein? Das ist selbst nach den Begriffen des Außersinnlichen seltsam. Was würde Alison tun? Am liebsten hätte Leslie den Hörer auf die Gabel geknallt. War sie denn nichts als eine Attrappe, ein billiger Ersatz für diese verflixte Frau, die in diesem Haus gelebt hatte und gestorben war?
Aber ich habe einen freien Willen, verdammt noch mal. Ich kann Leute wie diese Frau einfach zum Teufel schicken.
Und wahrscheinlich würden sie genau dort landen; denn wären sie nicht verzweifelt gewesen, hätten sie sich erst gar nicht an mich gewandt.
War es Alison, die ihr diesen Gedanken eingab? Die Frau am Telefon erzählte ihr unterdessen eine verworrene Geschichte über eine gewisse Geldsumme, die ihrer Tochter zugestanden und die sie zurückgehalten hatte, weil sie mit deren Ehemann nicht einverstanden gewesen sei. »Verstehen Sie, Dr. Barnes, ich war im Recht, juristisch, meine ich. Mein Mann hatte mir die Summe vermacht, und ich sollte sie nach eigenem Ermessen an Margie weitergeben. Aber ich hielt nicht viel von ihrem Mann. Deshalb habe ich ihr gesagt, sie würde das Erbe erst erhalten, wenn ich sicher wäre, daß der Mann nicht bloß hinter Margies Geld her ist. Wahrscheinlich wollte ich mich davon überzeugen, ob er sie genug liebte, sie auch ohne Vermögen zu nehmen.«
Aus irgendeinem Grund mußte Leslie an Joel denken, der behauptet hatte, zuerst würden die Menschen sämtliches Porzellan zerschlagen, und dann hätten die Anwälte die Trümmer aufzulesen. »Hören Sie, Mrs … .«
»Terman«, sagte die Frau. »Peggy Terman.«
»Also, Mrs. Terman, für mich hört sich das an, als brauchten Sie eher einen Juristen. Im Erbrecht kenne ich mich wirklich nicht aus …«
»Darum geht es mir auch gar nicht. Verstehen Sie, Margie ist gestorben, und jetzt glaube ich, daß sie zurückgekommen ist und mich heimsucht, weil ich ihr das Geld nicht gegeben habe.«
»Haben Sie deswegen ein schlechtes Gewissen?« fragte Leslie. Schuldgefühle manifestierten sich manchmal auf höchst eigenartige Weise. Vielleicht brauchte oder wünschte diese Frau nichts weiter als eine konventionelle Therapie. »Möchten Sie einen Termin ausmachen und in meine Sprechstunde kommen? Wir könnten über Ihre Gefühle bezüglich Ihrer Tochter und des Geldes sprechen …«
»Nein, darum geht es nicht«, unterbrach Mrs. Terman sie. »Was ich mit dem Geld anfangen soll, weiß ich, verstehen Sie. Da ist diese Frau. Nach Margies Tod habe ich drei Nächte hintereinander von ihr geträumt. Sie sagt, das Geld sei verflucht, aber sie könne es für mich reinigen. Sie braucht nur hundert Dollar von dem Geld, um den Fluch zu beseitigen. Sie will diese hundert Dollar einwickeln und ein besonderes Gebet darüber sprechen. Dann muß es in ihrer Kirche drei Tage lang unter geweihten Kerzen ruhen. Nach den drei Tagen könnte ich das Päckchen öffnen, und alles wäre wieder in Ordnung …«
»Moment mal«, fiel Leslie ein. »Wer ist diese Frau?« Aber sie achtete kaum auf die Antwort. Mit Neppern und Bauernfängern kannte sie sich nicht gut aus, aber von dieser Nummer hatte sogar sie gehört. Es kam ihr unglaublich vor, daß Ende des zwanzigsten Jahrhunderts immer noch genug Leichtgläubige auf solche Betrügereien hereinfielen. »Wissen Sie denn nicht, daß dies einer der ältesten Tricks der Welt ist, Mrs. Terman? Man nennt ihn den Zigeunertrick oder die wundersame Verwandlung. Wenn Sie das Päckchen öffnen …«
»Aber die Frau hat gesagt, ich könnte das Paket selbst versiegeln«, widersprach die Frau. »Sie würde es nicht berühren und mir das Bündel ungeöffnet zurückgeben …«
»Und wenn Sie es aufmachen«, erwiderte Leslie, »finden Sie zerschnittene Zeitungen oder ähnliches darin. Aber die Frau und Ihr Geld werden Sie nie wiedersehen. Das ist einer der ältesten Hochstaplertricks der Branche.«
»Aber diese Frau war so sympathisch …«
»Das sind sie alle.«
»Und sie wollte nur hundert Dollar.«
Und hundert Dollar, dachte Leslie, wären ein geringer Preis dafür gewesen, Peggy Termans Gewissen zu erleichtern. »Kein seriöser Hellseher würde eine solche Summe verlangen.« Sie hatte keine Ahnung, welche Honorare ihre neuen Kollegen für gewöhnlich in Rechnung stellten, aber sie wußte, daß die ehrlichen unter ihnen realistische Sätze veranschlagten. Auf jeden Fall war es besser, sich von Leuten fernzuhalten, die viel Geld für fast nichts haben wollten. »Mrs. Terman, Sie sollten zur Polizei gehen und Anzeige erstatten. Beim Betrugsdezernat.«
»Da würde ich mir viel zu dumm vorkommen«, meinte Peggy Terman. »Ich wüßte nicht, wie ich diesen Leuten von Margie und dem Geld erzählen sollte. Und jetzt … was soll ich denn nun mit diesem Geld anfangen?«
»Warum fragen Sie das gerade mich? Wer sagt Ihnen, daß ich nicht ebenfalls einen Schwindel auf Lager habe, um Ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen?« fragte Leslie. »Sie könnten es Ihrem Schwiegersohn zukommen lassen …«
»Ausgerechnet diesem Kerl?«
»Dann spenden Sie es für eine gute Sache. Oder werfen Sie es in die Bucht. Sie können es sogar der Frau geben, die sich erboten hat, den Fluch aufzuheben«, antwortete Leslie trocken. »Dann brauchen Sie sich wenigstens nicht mehr darum zu sorgen.«
Wahrscheinlich gab es genau aus diesem Grund so viele falsche Hellseher: der verbreitete Widerwille zu gestehen, daß man hereingelegt worden war, menschliche Gier und Dummheit. Wollte sie sich wirklich auf einem solchen Gebiet betätigen? Es war besser, sie überließ dieses Feld Zeitungen wie dem Enquirer.
Sie entlockte Peggy Terman noch ein paar Einzelheiten. Ein altes Sprichwort besagte, daß man nur Menschen betrügen könne, die etwas umsonst bekommen wollten. Und diese Frau versuchte, auf billige Weise ihr Gewissen zu erleichtern.
Zutiefst deprimiert legte Leslie auf. Nicht lange, dann würde Susan Hamilton kommen. Gab es überhaupt ein menschliches Problem, das lösbar war? Leslie hatte das Gefühl, von der Last allen menschlichen Elends überwältigt zu werden. Wie war sie bloß darauf verfallen, ihren Lebensunterhalt als Therapeutin zu bestreiten? Sie ging nach draußen, wo Simon und Emily Zitronen pflückten.
In diesem Moment hielt Frodos Wagen vor dem Tor. Der junge Mann kam durch den Garten auf sie zu, und der Gedanke durchzuckte Leslie, daß er viel eher hierher paßte als in den Buchladen. Er wirkte wie ein hochgewachsener Elf.
»Hallo, Frodo.«
»Tag, Dr. Barnes. Ich wollte meine Leiter abholen. Sie steht hier seit dem Tag, als Emily und ich das Atelier angestrichen haben«, sagte er. »Ich würde Sie deswegen nicht belästigen, aber mein Dad braucht die Leiter. Oder brauchen Sie sie noch?«
»Nein, nein, Frodo«, gab Leslie zurück. Vielleicht war Frodos Auftauchen ja ein gutes Zeichen. Sie hoffte, daß er und Emily ihren Streit beilegen würden. Frodo trat auf den Zitronenbaum zu, an dem die Leiter lehnte, und erstarrte plötzlich.
»Hallo, Emily. Oh … guten Tag, Dr. Anstey.«
Leslie fragte sich, ob Frodo ahnte, wie offensichtlich die Empfindungen waren, die sich auf seiner Miene spiegelten. Simon nickte dem jungen Mann kühl zu.
»Hallo, Paul.«
Paul hieß er also. Leslie fragte sich beiläufig, wie er ausgerechnet auf Frodo gekommen war. Frodo erklärte den beiden derweil die Sache mit der Leiter.
»Nein, nein, nimm sie nur mit. Wir brauchen sie nicht mehr«, sagte Emily. »Danke, daß wir sie so lange behalten durften.«
Der junge Mann klemmte die Leiter unter den Arm. »Es sieht hier wirklich klasse aus. Wenn ihr Hilfe bei der Gartenarbeit braucht …«
»Vielen Dank, aber wir haben alles im Griff.«
»Hättest du Lust, heute abend zur East Bay rüberzufahren und das Mittelalter-Ensemble anzuhören, Emily? Sie treten im griechischen Theater auf und spielen einige der Instrumente, die ich gebaut habe. Wir fahren mit einer ganzen Clique.«
Emily strahlte. »Oh, das wäre schön«, rief sie. Dann zögerte sie und warf Simon einen Blick zu. Der schüttelte kaum merklich den Kopf. »Aber ich fürchte, ich habe keine Zeit, Frodo. Trotzdem danke für die Einladung.«
Der junge Mann trat auf Simon zu und starrte ihn finster an. »Sagen Sie mal, Dr. Anstey, braucht Emily Ihre Erlaubnis, um auszugehen? Haben Sie sie adoptiert oder so was? Halten Sie sich für ihren Vormund?«
»Selbstverständlich nicht«, erwiderte Simon. »Emily kann gehen, wohin sie möchte. Ich glaube allerdings, daß sie heute abend etwas anderes vorhat.«
»Frodo«, sagte Emily, »ich muß wirklich arbeiten. Und wenn du dich nicht mal anständig benehmen kannst …« Sie hielt inne und fuhr höflicher fort: »Tut mir wirklich leid. Vielleicht ein andermal.«
»Na schön. Aber es hätte dir bestimmt gefallen, ein paar von diesen Instrumenten zu hören.« Er schaute Emily unverwandt an und schien nicht gehen zu wollen.
»Spielst du wieder in einem Orchester, Paul?« fragte Simon kurz angebunden.
»Nein, im Moment nicht. Ich wollte mal eine Zeitlang aussteigen und herausfinden, ob das wirklich mein Lebensziel ist«, antwortete Frodo. »Mir gefällt es, mit den Händen zu arbeiten, alte Instrumente zu erforschen und nachzubauen. Gerade Sie mit Ihren Cembalos müßten das eigentlich verstehen.«
»Nein, das verstehe ich nicht«, versetzte Simon. »Du vergeudest dein Talent.«
»Das sagt mein Dad auch. Aber ich habe einfach keine Lust, in einem Orchester zu spielen, wenn ich mich dazu in eine Affenjacke werfen muß. Was hat elegante Kleidung damit zu tun, ob ich Querflöte spielen kann oder nicht? Das kommt mir alles so verflucht künstlich vor, als wäre die Musik bloß ein Spielplatz für reiche Leute. Und das ist nicht meine Vorstellung von Musik.«
Simon zuckte die Achseln. »Diese Theorie habe ich schon öfter gehört. Manche nennen sie kommunistisch oder radikal. Für mich zeigt sie bloß einen bedauerlichen Mangel an Disziplin. Was macht es schon aus, welche Kleidung man trägt? Das Wichtige ist, nach bestem Vermögen zu spielen.«
»Das ist es ja gerade«, entgegnete Frodo. »Ist es nicht egal, was ich anhabe, wenn ich spiele?«
»Ich fürchte, wir werden uns über dieses Thema nicht einig, Paul«, meinte Simon und warf eine letzte Zitrone in den Korb. »Emily, ich sollte den Korb lieber nicht heben. Könntest du ihn für mich nach drinnen tragen? Ich räume inzwischen die Gartengeräte weg.«
»Natürlich, Simon.«
Frodo folgte Emily und versuchte, ihr den Korb abzunehmen. »Emmie, darf ich später noch einmal vorbeikommen und mit dir reden? Allein?«
Sie schlug die Augen nieder. »Ach, Frodo, ich weiß nicht, was für einen Sinn das haben sollte. Und ich bin kein Schwächling, ich kann die Zitronen allein tragen!«
Ärgerlich stapfte der junge Mann durch das Gartentor, die Leiter unter den Arm geklemmt, während Emily den Korb in die Küche brachte. Leslie folgte ihr und sah, wie sie sich verstohlen eine Träne abwischte. »Ich weiß, daß Frodo nicht gut für mich ist«, seufzte Emily. »Aber ich kann nicht anders, er fehlt mir trotzdem.« Sie stellte die Zitronen auf die Küchentheke, wischte sich übers Gesicht und ging ins Musikzimmer.
Simon kam herein. »Emily braucht Freunde in ihrem Alter, Schatz«, sagte Leslie.
»Daß ich ausgerechnet von dir hören muß, wie du das Hohelied der gesellschaftlichen Anpassung singst«, erwiderte der Musiker steif. »Emily ist anders als andere junge Leute. Ich dachte, du wüßtest das und würdest es schätzen.«
»Sie wäre heute abend gern mitgefahren …«
»Ich kenne Paul Frederick gut«, meinte Simon. Leslie brauchte einen Moment, bis ihr klar wurde, daß er von Frodo sprach. »Er ist talentiert, wirklich sehr begabt, aber er hat keinen Ehrgeiz, keinen Antrieb. Man kann eine solche Gabe nicht vergeuden und trotzdem erwarten, daß man es je zu etwas bringt. Paul und Emily leben in verschiedenen Welten. Ich hätte gedacht, du begreifst das. Oder findest du wirklich, daß dieser … dieser Hippie der richtige Mann für deine Schwester ist?« Er ging ins Musikzimmer. Leslie wollte ihm folgen, seufzte dann aber und ließ es bleiben. Simon mußte sich selbst mit Emily auseinandersetzen; sie durfte sich nicht einmischen, wenngleich sie einen Mangel an Ehrgeiz oder Erfolgsorientierung nicht für ein Kapitalverbrechen hielt.
Es wurde Zeit für Susan Hamiltons Termin. Leslie ließ sie ein und erkundigte sich wie üblich nach Christinas Befinden und ihren Fortschritten. Doch als Susan in Leslies Büro saß, stellte sie eine merkwürdige Frage.
»Leslie, glauben Sie, daß Träume etwas zu bedeuten haben?«
Die junge Psychologin hatte nie an die Freudsche Heilslehre der Traumdeutung geglaubt, und noch weniger hielt sie von der übersteigerten Bedeutung, welche die New-Age-Psychologie der sogenannten »Traumarbeit« zumaß. Sie teilte die Meinung, daß Träume lediglich eine Manifestation des REM-Schlafes darstellten, eine Art Sortierfunktion, um das Bewußtsein von den Resten des Tages zu befreien. Gehirnstatik, während die Nervensynapsen knisterten und sich wieder aufluden. »Hatten Sie einen Traum, von dem Sie mir erzählen möchten, Susan?«
»Ich habe von Chrissy geträumt«, antwortete ihre Patientin. »Sie war verschwunden. Jemand hatte sie gekidnappt. Und als ich sie wiederfand, konnte sie sprechen. ›Wo ist meine Mommy? Ich will zu meiner Mommy‹, hat sie gesagt.«
Sie schwieg so lange, daß Leslie nachhakte. »Was glauben Sie, was dieser Traum bedeutet, Susan?«
»Nun ja, ich habe natürlich schon früher geträumt, sie könnte reden. Ich weiß, daß es nur Wunschdenken war. Im Traum habe ich Chrissy so gesehen, wie ich sie mir wünschte. Aber diesmal war es anders. Deswegen habe ich Sie ja gefragt, ob Sie an Träume glauben. Ich hätte mich anders ausdrücken sollen. Meinen Sie, Träume können – wie hieß das Wort noch – präkognitiven Charakter haben? Die Zukunft voraussagen? Ich glaube nämlich, daß Chrissy lernen wird zu sprechen. Irgendwie war ich mir nach dem Traum sicher, daß es kein reines Wunschdenken ist. Das Gefühl war irgendwie … anders.«
»Können Sie mir beschreiben, in welcher Hinsicht?«
Vor einem Jahr hätte Leslie Susans Eindruck noch als »magisches Denken« abgetan, wie ihre Professoren es genannt hatten, wodurch Susan sich der Realität entzog, ihr Kind nicht erreichen zu können. Aber in den letzten Monaten hatte Leslie ein paar harte Lektionen zu diesem Thema gelernt. Hatte Susan sich wirklich eine Phantasievorstellung geschaffen, um die Wirklichkeit besser ignorieren zu können? Aber was war überhaupt Realität?
»Glauben Sie immer noch an ein Wunder, Susan?«
»An ein Wunder nicht«, antwortete Susan stockend und suchte nach den richtigen Worten. »Aber ich hoffe auf eine Art Durchbruch. In letzter Zeit scheint Chrissy mir besser zuzuhören und zu verstehen, was ich sage. Kürzlich zum Beispiel wurde es Zeit, sie zum Tagescamp zu fahren, und ich habe sie gebeten, mir ihre Jacke zu bringen. Statt dessen hat sie mir ihren Regenmantel geholt. Ich hatte nicht einmal bemerkt, daß es regnete, aber das Kind hat die Verbindung hergestellt.«
»Sie meinen, Sie haben im Traum eine Schlußfolgerung gezogen, die Sie bewußt nicht in Worte zu fassen vermochten?«
»Möglich. Ich habe Chrissys Sachen für das Camp gepackt, und zum erstenmal schien sie mitzubekommen, was geschah.«
»Dann war es vielleicht gut, daß Sie noch keine unwiderrufliche Entscheidung getroffen haben«, bemerkte Leslie.
»Chrissy scheint mich nicht zu erkennen, und wenn sie gar nicht mitbekommt, ob sie zu Hause ist oder anderswo, sollte ich vielleicht Margarets Rat befolgen und sie weggeben. Dann wäre es ja egal, ob sie in einem … Heim lebt oder nicht. Aber wenn sie weiß, wer ich bin … wenn sie bei mir sein möchte … Vielleicht spricht irgend etwas in Chrissy zu mir und will mir sagen, daß ich die Hoffnung noch nicht aufgeben soll.«
So etwas könnte sich als gefährliche Illusion erweisen. Die Standarderklärung lautete, daß Susan nicht akzeptieren wollte, wie gering die Aussichten waren, daß Chrissys Zustand sich besserte. Leslie war unsicher. Deshalb wiederholte sie ein weiteres Mal, was sie während der Sitzungen mit Susan schon oft geäußert hatte.
»Sie dürfen keine Entscheidung treffen, ehe Sie nicht genau wissen, daß Sie damit leben können. Bis Sie wissen, was das Beste für Sie und Chrissy ist.«
Die Kuckucksuhr schlug.
»Unsere Zeit ist um, Susan«, sagte Leslie gedankenversunken. Zumindest theoretisch bestand die Möglichkeit, daß Chrissys Geist eine von ihrem behinderten Körper unabhängige Existenz führte. Vielleicht hatte Christina Hamiltons gefangenes Bewußtsein auf diese Weise versucht, mit ihrer Mutter zu kommunizieren. Über einen Traum? Warum eigentlich nicht?
Wenn das so weitergeht, dachte Leslie, kann ich meine Patienten ebensogut gleich mit Prophezeiungen behandeln, sie zu einem Astrologen schicken oder ihnen raten, die Lösung ihrer Probleme aus Tarot-Karten zu lesen.
Susan zog ihre Jacke an, als die Uhr noch einmal schlug.
Aber das ist unmöglich! rief eine Stimme in Leslies Innerem.
In diesem Moment sprang die Uhr von der Wand und krachte zu Boden. Der kleine Kuckuck sauste quer durchs Zimmer und prallte an die gegenüberliegende Wand. Leslie stand wie erstarrt da, doch Susan bückte sich nach der Uhr.
»Oh, Leslie, Ihre schöne Uhr! Wodurch mag sie nur von der Wand gefallen sein?«
Leslie zwang sich zu einem Lachen. »Zweimal dürfen Sie raten«, versetzte sie leichthin. »Entweder ein Erdbeben oder unser freundlicher Haus-Poltergeist. Suchen Sie es sich aus.«
»Ich habe keine Erschütterung gespürt«, meinte Susan verwirrt. »Aber natürlich könnten die Vibrationen auch von einem vorbeifahrenden Lastwagen gekommen sein.« Sie sammelte die Bruchstücke des Uhrengehäuses auf, während Leslie den kleinen Vogel vom Boden nahm und die Fragmente auf ihren Schreibtisch legte. Sie glaubte nicht, daß die Uhr noch zu reparieren war.
Was willst du mir mitteilen, Alison? Sie projizierte den Gedanken mit aller Kraft, während sie Susan zur Tür begleitete, erhielt jedoch keine Antwort. Warum meldete Alison sich bei einem schwachen Medium, aber nicht bei Leslie? Konnte das Erbe Alison Margraves, das sie angetreten hatte, tatsächlich neue Hoffnung für ihre Patienten bedeuten? Oder wurde sie langsam verrückt?
Im Musikzimmer spielten Emily und Simon im Duett – ein Stück von Debussy, vermutete Leslie. Ein harmonischer Dialog von Flügel und Harfe. Es war zu früh, die beiden zu unterbrechen und zu Abend zu essen. Doch Leslie konnte sich nicht zwingen, ins Büro zurückzukehren, wo auf dem Schreibtisch die zerschmetterte Uhr lag. Sie brachte es einfach nicht fertig.