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Das Essen war ausgezeichnet: knackiger Salat mit reichlich Fetakäse, dazu Blätterteigpastete, gefüllt mit gehacktem Hühnerfleisch und Rosinen und mit Zimt und Kardamom gewürzt. Joel, der heute besonders attraktiv aussah und vor guter Laune nur so sprühte, bestellte eine Flasche guten Wein. »Soll ich dir mal etwas Interessantes über den Fall Hanrahan erzählen?«

»Deinen letzten Fall?« sagte Leslie interessiert. Da auch sie bei der Arbeit ständig nach Hinweisen suchen mußte, was mögliche psychische Probleme ihrer Patienten betraf, hörte sie Joel gern zu, wenn er von seinen Mandanten erzählte. »Da ging es um Erregung öffentlichen Ärgernisses, nicht wahr? Was war denn nun? Hat man bloß versucht, dem Mann etwas anzuhängen?« Exhibitionisten begingen zwar selten schwere Straftaten – auf einer Skala der Sexualdelikte wären sie am entgegengesetzten Ende eines Joaquin Mendoza angesiedelt –, aber gestört waren solche Menschen allemal.

»Ach was, die Sache war einfach nur blöde«, antwortete Joel, steckte sich ein Stück Hähnchenfüllung in den Mund und versuchte weiterzusprechen. Lachend gab er auf, kaute zu Ende und erzählte dann weiter. »Erinnerst du dich noch an das Rockkonzert letztes Jahr? Ach, nein, da hast du ja noch in Sacramento gewohnt. Aber du weißt ja, wie es bei solchen Veranstaltungen zugeht. Die Jugendlichen knutschen, befummeln sich oder treiben es unter den Wolldecken, die sie mitschleppen.«

Leslie nickte. »Und weiter?«

»Also, dieser Hanrahan ist homosexuell. Er und sein Freund leben seit neun Jahren zusammen. Sie führen einen kleinen Buchladen oben in Castro, unserem berühmten Schwulenviertel. Jedenfalls, sie waren auch auf dem Konzert. Offenbar haben sie diesen Kids zugeschaut, kriegten romantische Anwandlungen und faßten sich an den Händen – du lieber Himmel, das ganze Theater wegen ein bißchen Händchenhalten! Eine alte Frau hat sich über die beiden beschwert, und irgendein übereifriger Trottel von Polizist hat sie wegen unzüchtiger Handlungen in der Öffentlichkeit festgenommen.« Joel hob sein Weinglas, schüttelte den Kopf und nahm einen tiefen Schluck.

»Das kann ich mir gar nicht vorstellen, Joel. Die beiden müssen außer Händchenhalten noch etwas anderes getan haben, sonst wären sie doch nicht verhaftet worden.«

»Das dachte ich zuerst auch. Aber diese alte Kuh, die sich gestört fühlte, hatte das ›anstößige Benehmen‹ der Jungs sogar mit einer Polaroid-Kamera verewigt«, erklärte Joel. »Ich hab’ das Foto gesehen, Les. Ron hält Joes Hand, und Joe hat den Kopf an die Schulter seines Freundes gelegt. So ein perverser Schweinkram, was? Weißt du, Les, ich halte auch nicht viel von den Typen, die in den Szene-Bars herumhängen – ganz abgesehen davon, daß ich mir nicht vorstellen kann, warum ein Mann unbedingt mit einem anderen Mann ins Bett gehen will, wo es doch so viele tolle Frauen gibt …« Er legte die Gabel neben den Teller und bedachte Leslie mit einem zärtlichen Lächeln. »Aber zwei Männer zu verhaften, weil sie sich an den Händen halten … vor allem wenn man bedenkt, was um die beiden herum vor sich ging.«

Leslie lächelte. »Wie hat der Polizist die Verhaftung begründet?«

»Nach Aussage der alten Frau und des Beamten haben Ron und Joe die jungen Leute schockiert. Schockiert! Dabei waren diese Teenies so sehr miteinander beschäftigt, daß sie nicht mal mitgekriegt hatten, wenn der Präsident persönlich es auf der Bühne mit einem Esel getrieben hätte. Jedenfalls haben wir endlich erreicht, daß die Klage abgewiesen wurde. Aber Ron hat mir leid getan. Die Zeitungen haben über den Fall berichtet, und Joes Eltern hatten keine Ahnung, daß ihr Sohn schwul ist.«

»Da kann man ja von Glück sagen, daß der arme Kerl nicht auch noch in den Knast gesteckt wurde.«

»Stimmt. Auch wenn Joe allenfalls im Bezirksgefängnis gelandet wäre. Erregung öffentlichen Ärgernisses gilt nur als Vergehen. Das eigentliche Verbrechen hat diese alte Frau begangen, nämlich, wegen der Sache überhaupt Anklage zu erheben. Einfach lächerlich. Idiotisch!«

»Solche idiotischen Fälle scheint’s öfter zu geben«, meinte Leslie. »Eine Freundin meiner Mutter ist mal knapp einer Verhaftung entgangen, weil sie im Supermarkt ihr Baby gestillt hat. Das arme Kind war hungrig und schrie wie am Spieß. Das ist natürlich schon eine ganze Weile her. Mom hat mir die Geschichte erzählt, als ich zwölf war.«

»Nun ja, ich kann mir passendere Orte zum Stillen vorstellen«, meinte Joel. »Wenn wir selbst mal Kinder haben, erledigst du so was hoffentlich in heimischeren Gefilden, Schatz.«

Leslie errötete und lächelte Joel an, der sich Salat in den Mund schaufelte. »Oder du setzt dich in den Wagen.« Er kicherte. »Da fällt mir ein Fall ein, den wir letztes Jahr verhandelt haben. Ein Typ war splitternackt mit seinem Auto an die Mautschranke auf der Bay Bridge gefahren. Der Richter hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, das Innere eines Wagens sei juristisch mit einer Privatwohnung gleichzusetzen – deshalb genieße jedermann das Recht, sich in seinem Auto zu kleiden oder zu entkleiden, wie es ihm gefällt. So will es das Gesetz.«

»Lex dura; lex est«, zitierte Leslie schmunzelnd.

»Ich frage mich nur«, meinte Joel, »wie der nackte Kerl an der Mautschranke die Autobahngebühr bezahlt hat.«

»Weißt du, diese alten Frauen, die sich über alles mögliche beschweren«, sagte Leslie, »sind im Grunde kränker als die Menschen, die sie vor Gericht zerren. Aber wir machen Fortschritte. Zumindest ist dein Freund Hanrahan nicht im Gefängnis gelandet. Was wäre wohl passiert, wenn er an einen Richter geraten wäre, der sich durch zwei händchenhaltende Männer in seiner eigenen Sexualität bedroht gefühlt hätte?«

»Daran möchte ich nicht einmal denken«, gab Joel zurück. »Aber manchmal hat das Ganze auch seine komischen Seiten. Nick hat mir kürzlich am Telefon von einer anderen verrückten Geschichte erzählt. Offenbar sollte er vor Ort einer Beschwerde nachgehen. Wieder von einer alten Dame, die sich durch einen Hausbewohner belästigt fühlte, der angeblich nackt in seinem Apartment herumlief. Also ist Nick losgefahren, um diesem Nudisten auf den Zahn zu fühlen …«

Leslie lehnte sich zurück, lauschte Joel und dachte an dessen Bruder Nick, der sie beide zusammengebracht hatte. Als der Skandal damals ausuferte und Leslie aus Sacramento fortgezogen war, hatte Nick einen Möbelwagen gemietet, Leslie nach San Francisco gefahren und Joel zum Auspacken bestellt. Nachher hatte er vorgeschlagen, Joel solle Leslie zum Abendessen ausführen. Wahrscheinlich hatte er damit gerechnet, daß sich zwischen den beiden ein ähnliches Bruder-Schwester-Verhältnis entwickeln würde wie zwischen ihm und Leslie, aber sie hatten sich verliebt.

Vielleicht war Leslie damals – passend zu ihrem neuen Leben – auch für einen neuen Mann bereit gewesen. Alt genug, um endlich zur Ruhe zu kommen, wie ihre Mutter gemeint hatte. Nach ihren Begriffen war Leslie mit ihren siebenundzwanzig Jahren beinahe schon eine alte Jungfer. Und Joel, der vielversprechende junge Anwalt, wäre Mom bestimmt noch lieber gewesen als ein Polizist, der ihrer Tochter gegenüber wie ein Bruder empfand. Obwohl sie zweifellos Joels Engagement in einem »skandalösen« Fall wie der Verhaftung von Ron Hanrahan mißbilligt hätte.

„… und der Mann sagte: ›Madam, würden Sie mir bitte zeigen, von wo aus Sie mich angeblich nackt in der Wohnung gesehen haben?‹ Natürlich konnte die alte Schnepfe nur etwas erkennen, wenn sie sich buchstäblich die Nase am Fenster des Mannes plattdrückte. Also hat der Nachbar den Spieß umgedreht und die Alte als Spannerin angezeigt!«

Leslie lachte herzhaft, doch sie bemerkte, daß Joel sie besorgt betrachtete.

»Du siehst müde aus, Les. Hattest du einen schweren Tag?«

»Ziemlich.« Wenn sie Joel von dem Poltergeist erzählte, würde er sie wahrscheinlich für verrückt erklären. Ob es später einmal zu Spannungen zwischen ihnen führen würde, daß Joel ihr Geschichten über seine Arbeit erzählen konnte, sie aber über ihre Tätigkeit schweigen mußte? Sie mußten irgendwann darüber reden. Wenn Joel ernsthaft an eine Ehe und Kinder dachte, war diese Diskussion unumgänglich.

»Was die Suche nach einem neuen Haus angeht, stehe ich wieder am Anfang. Das Objekt, das ich mir angeschaut habe, war viel zu klein, um eine Praxis und Emilys Flügel darin unterzubringen. Ich kann wieder von vorn anfangen.«

»Du weißt, was ich davon halte«, erwiderte Joel unverblümt. »Ich habe ja nie ein Geheimnis daraus gemacht. Die Sache sähe ganz anders aus, würdest du nach einem Haus für uns beide statt für dich und deine Schwester suchen.«

Leslie wußte, daß es nun Ärger geben konnte. Doch es war ihre Schuld. Warum hatte sie ausgerechnet heute abend davon angefangen? Andererseits konnten sie das Thema nicht ewig vor sich herschieben.

»Joel, wir sind noch nicht soweit, an ein gemeinsames Zuhause zu denken. Und ich kann nicht in dieser gemieteten Klitsche wohnen bleiben, bis wir für eine Ehe bereit sind.«

Joel schenkte sich Wein nach. »Du solltest auch noch ein Glas trinken«, sagte er. »Ich schaffe die Flasche zwar auch allein, aber dann müßtest du einen Teil der Verantwortung dafür übernehmen, falls ich wegen Trunkenheit am Steuer und ungebührlichen Verhaltens festgenommen werde.«

Liebevoll schaute sie ihn an. »Die Trunkenheit nehme ich gern auf mich«, entgegnete sie leichthin, »aber das ungebührliche Verhalten geht auf deine Kappe.«

Joel nippte am Weinglas. »Hör mal, Leslie«, begann er. »Wenn du mit deiner Haussuche … na ja, die Dinge beschleunigen willst, heirate ich dich sofort. Ich finde zwar, wir sollten noch abwarten, aber wenn es dich glücklich macht …«

Leslie runzelte die Stirn. Sie konnte Joel nicht ganz folgen. »Was redest du denn da? Ich möchte noch nicht heiraten. Wir waren uns doch einig, zu warten, bis Emily das Konservatorium abgeschlossen hat und du zum Seniorpartner befördert bist. Bis dahin dürfte auch meine Praxis …«

»Ach, immer deine Praxis! Komm schon, Les, red keinen Unsinn. Gerade deshalb bist du doch so wild auf ein eigenes Haus – damit ich zugreife, solange es noch geht. Bevor du dir dein eigenes Leben eingerichtet hast. Du willst mir unbewußt zu verstehen geben, daß du bereit bist, ein Nest zu bauen – und daß du das zur Not auch allein anpackst, wenn wir es nicht gemeinsam tun. Stimmt’s?«

Das alles klang so logisch, daß Leslie sich für einen Moment fragte, ob sie tatsächlich derart hinterhältige Motive hegte. Dann aber packte sie die Wut.

»Das glaubst du doch wohl selbst nicht, Joel!«

»Ich habe eingehend darüber nachgedacht. Wir lieben uns. Also sollten wir heiraten, zusammenziehen und uns unser Leben gemeinsam und vernünftig aufbauen.«

»Nein, Joel«, entgegnete sie ruhig, »ich finde, wir sollten an unseren ursprünglichen Plänen festhalten. Du solltest erst einmal Karriere machen, ohne Rücksicht auf eine Ehefrau nehmen zu müssen, und ich möchte meine Praxis aufbauen und mich um die Ausbildung meiner Schwester kümmern.«

»Und du bist immer noch entschlossen, ein Haus für dich allein zu kaufen?«

»Gibt es einen Grund, der dagegen spricht, Joel?«

»Allerdings. Ich will nicht, daß du dir dein Leben so einrichtest, daß darin hinterher kein Platz mehr für mich bleibt.«

»Ich glaube, darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen, Joel«, entgegnete Leslie, griff über den Tisch und nahm seine Hand. »Ich möchte doch nur beruflich vorankommen, genau wie du …«

»Jetzt klingst du wie eine von diesen verdammten Emanzen. Dein Eigentum. Deine Karriere. Immer redest du nur davon, was du willst, nicht davon, was ich will – oder was wir wollen. Ich, ich, ich … das ist alles, woran ihr Frauen denken könnt!«

Seine Anschuldigungen waren so unfair, daß es Leslie beinahe den Atem verschlug. »Du selbst hast doch gesagt, du wolltest noch nicht heiraten …«

»Dann habe ich meine Ansicht eben geändert.«

»Ich aber nicht«, erwiderte Leslie. »Wenn du wirklich so über mich denkst, sollten wir gar nicht erst weiter darüber reden. Außerdem – wenn es einen Ausdruck gibt, den ich hasse, dann das Wort ›Emanze‹. Und ich kann es nicht fassen, daß gerade du mich so nennst.« Sie erhob sich und schob ihren Stuhl zurück. »Ich glaube, du solltest mich jetzt nach Hause fahren.«

»Nein, verdammt.« Joel stand nicht auf, senkte nur die Stimme. »Ich bin das allmählich leid, Leslie. Jedesmal, wenn dir etwas nicht paßt, willst du nicht darüber reden. Wir können nicht immer vor unseren Problemen weglaufen. Komm, setz dich wieder.«

»Ich versuche nicht wegzulaufen«, widersprach Leslie und nahm wieder Platz. »Aber im Unterschied zu mir scheint dir ein Streit Spaß zu machen.«

»Ich bin Anwalt«, erwiderte er. »Und man wird kein guter Jurist, indem man bei jeder kleinen Meinungsverschiedenheit den Schwanz einzieht.«

»Und ich mag es nicht, jedesmal ins Kreuzverhör genommen zu werden, wenn wir eine ›kleine Meinungsverschiedenheit‹ haben, wie du es so schön nennst.« Jetzt war sie richtig wütend. »Außerdem geht es hier um eine grundlegende Sache. Mit vernünftigen Argumenten komme ich offenbar nicht dagegen an. Du willst, daß ich hierbleibe und mich solange von dir unter Druck setzen lasse, bis ich meine Meinung ändere, da du nicht vorhast, deine zu ändern. Und weil ich keine Lust habe, mich von dir tyrannisieren zu lassen …«

»Liebes, ich versuche doch nicht, dir etwas aufzuzwingen. Aber laß uns die ganze Sache mal vernünftig betrachten. Was willst du denn mit deinem Haus anfangen, wenn wir verheiratet sind?«

»Vermieten. Verkaufen. Emily dort wohnen lassen, bis sie das Konservatorium abgeschlossen hat. Selbst darin wohnen, bis wir etwas Besseres finden.«

Joel schob das Weinglas fort und starrte auf seinen Teller. Seine Hände waren lang und wohlgeformt, mit muskulösen, geschickten, zärtlichen Fingern. Doch Leslie wehrte die intimen Erinnerungen an diese Hände ab. Jetzt war nicht die Zeit dafür.

»Na schön«, meinte Joel schließlich. »Vielleicht bin ich im Grunde meines Herzens altmodischer, als ich mir eingestehen will. Was Menschenrechte und persönliche Freiheiten angeht, bin ich Liberaler. Aber ich glaube, wenn man an der Oberfläche eines Jungen vom Lande kratzt – und das sind Nick und ich –, kommt darunter ein Konservativer zum Vorschein. Deshalb ist Nick Polizist geworden. Er glaubt, man könne Recht und Ordnung auf der Straße verteidigen, wo Menschen überfallen, zusammengeschlagen, erschossen oder erstochen werden. Ich gehe den leichteren Weg, indem ich vor Gericht für Recht und Gesetz eintrete. Wie sagt man so schön: In der Gesellschaft sollen die Gesetze herrschen und nicht die Menschen. Und zu all dem gehört für mich ein konservatives Wertesystem, ein angesehener Beruf, eine traditionelle Ehe, ein ganz normales Heim, eine ganz normale Ehefrau. Ich hatte gehofft, du wärst bereit, dich darin einzufügen und …«, er zögerte und suchte nach Worten, »ja, die Hälfte eines Ganzen zu werden. Eine richtige Ehe, keine lose Partnerschaft, in der zwei getrennte Persönlichkeiten eine Zeitlang nebeneinander durchs Leben zockeln, bis sie jemand Besseren finden. Ich habe ja gar nichts dagegen, wenn du zuerst ein paar Jahre arbeitest, um dich selbst zu verwirklichen, wie ihr modernen Frauen es so gern nennt.« Sein verächtlicher Tonfall krampfte Leslie den Magen zusammen. »Ich bin bereit, mich dir fürs ganze Leben zu verpflichten, Leslie, erwarte von dir aber dasselbe. Ich hatte gehofft, du wärst erwachsen genug, um eine solche Bindung einzugehen.«

Das war die längste Rede, die Leslie je von Joel gehört hatte, und irgendwie rührte es sie, daß er sich so vehement für seine Überzeugung einsetzte. Aber was er sagte, entsprach nicht ihrer Auffassung vom Leben und von der Ehe.

»Ich bin froh, daß du mir ehrlich gesagt hast, was du willst«, erklärte sie bedächtig, wobei es ihr so vorkam, als würde sie wie eine Therapeutin reden und nicht wie eine mögliche Ehefrau. »Aber ich muß dir gegenüber ebenfalls aufrichtig sein. Was du gesagt hast, entspricht nicht meinen Vorstellungen. Ich möchte ein unabhängiger Mensch sein und neben der Ehe mein eigenes Leben führen. So wie deine Karriere nichts mit unserer Partnerschaft zu tun haben soll, wünsche ich mir eine eigene berufliche Existenz. Ich habe nicht vor, eine Laufbahn als Mrs. Joel Beckenham einzuschlagen. Ich möchte weiter als Therapeutin arbeiten. Oder glaubst du im Ernst, ich könnte den Rest meines Lebens damit verbringen, das Geld zu verwalten, das du verdienst?«

»Ja. Das hatte ich jedenfalls gehofft. Ich brauche eine Frau, die eine Zierde für mich ist – und für die Kanzlei. Eine Frau, die weiß, was sich gehört, und eine konservative Ehe führen möchte …«

»Merkst du eigentlich gar nicht, was für einen Quatsch du redest? Außerdem kann ich mir keine Ehe vorstellen, die auf politischen Prinzipien basiert. Vor allem nicht auf konservativen«, erwiderte Leslie. »Am Ende soll ich wohl noch die Republikaner wählen?«

»Ich hatte gehofft, du würdest einsehen, das dies der einzig vernünftige Weg ist«, erklärte er. »Ich betrachte die Ehe als ein Zusammenwachsen, nicht als ein Auseinanderstreben in verschiedene Richtungen.«

»Bei uns wäre es kein Zusammenwachsen. Du willst mich vereinnahmen«, erwiderte Leslie. »Und mein Beruf …«

»Du kannst nicht von mir erwarten, daß ich es gern sehe, wie du deine Zeit mit Verlierern und Verrückten vertust«, unterbrach er sie gereizt. »Ich hatte gehofft, du würdest durch deine Arbeit erkennen, wie krank und schmutzig diese Welt ist, und einsehen, um wie vieles schöner dein Leben mit mir wäre. Laß uns heiraten, Leslie! Diesen Sommer noch, vielleicht im August. Laß uns zusammen ein Haus kaufen … oder bauen. Du könntest ja noch ein, zwei Jahre weiterarbeiten, bis Emily auf eigenen Füßen steht.«

»Das ist äußerst großzügig von dir«, gab Leslie schnippisch zurück. »Aber laß mir ein bißchen Zeit, so viele wundervolle Neuigkeiten zu verdauen.« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Weißt du, Joel, ich glaube, wir haben einen großen Fehler begangen. In einer solchen Ehe könnte ich niemals glücklich sein.«

»Leslie, bitte, können wir uns denn nicht vernünftig darüber unterhalten?«

Leslie saß ein Kloß in der Kehle, und sie wäre am liebsten in Tränen ausgebrochen. »Immer reibst du mir das Wort ›vernünftig‹ unter die Nase, Joel. Hast du dich schon mal gefragt, ob es außer der Vernunft noch andere wichtige Dinge im Leben gibt?«

»Ich dachte, du hättest in Sacramento genug Verrücktes erlebt. Bist du nicht deshalb dort weggegangen?« sagte er und schob ihr sein Weinglas hin. »Trink einen Schluck, Les. Du bist bloß überarbeitet … durcheinander. Ich will nicht, daß du mich wegen einer kleinen Meinungsverschiedenheit sitzenläßt.«

»Es ist mehr als eine kleine Meinungsverschiedenheit«, erwiderte sie, nippte zögernd am Wein und wünschte, der Alkohol könnte ihre Nerven beruhigen. »Zwischen unseren Ansichten liegen Welten, Joel. Wir hätten dieses Gespräch schon viel früher führen sollen. Vielleicht bin ich schuld daran, daß wir es nicht getan haben. Aber wir sollten akzeptieren, daß wir vollkommen unterschiedliche Dinge wollen …«

»Ich will dich«, versetzte Joel und beugte sich über den Tisch, um ihre Hand zu ergreifen. »Wir sind lange genug zusammen, um zu wissen, daß es nur darauf ankommt.«

Leslie spürte, wie sich eine verräterische Wärme in ihrem Inneren ausbreitete. Sie dachte an die wundervolle Zeit, die sie gemeinsam verbracht, und an den leidenschaftlichen Sex, den sie miteinander gehabt hatten. Ein Teil von ihr begehrte Joel immer noch. Und seine nüchterne Logik, sein ausgeprägtes Vernunftdenken hatten Leslie in all dem Wahnsinn, als in Sacramento die Wellen der Hysterie emporgeschlagen waren und ihr Gesicht im National Enquirer erschienen war, mehr geholfen als alles andere. Dennoch sagte sie: »Sex ist nicht alles, Joel. In einer glücklichen Beziehung …«

»Wenn es im Bett stimmt«, unterbrach er sie, »kann man alles andere auch in den Griff bekommen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Hast du mir denn überhaupt nicht zugehört, Joel? Verstehst du denn nicht? Selbst wenn ich sofort heiraten wollte – was nicht der Fall ist –, würde es niemals gutgehen. Jetzt, da ich deine Ansichten über die Ehe kenne …«

»Ansichten, die jeder vernünftige Mann und jede kluge Frau vertritt. Laß uns heiraten, Leslie. Ich wette mein Leben darauf, daß du glücklich wirst.«

»Verwette du ruhig dein Leben«, erwiderte sie, »aber ich habe nicht vor, meines aufs Spiel zu setzen. Und jetzt möchte ich nach Hause, Joel. Wenn du also …«

Sie verstummte, als der Ober die Rechnung brachte. Ohne hinzuschauen hielt Joel ihm seine Kreditkarte hin.

»Nein, Les. Wir müssen das endlich ausdiskutieren. Wir können nicht immer vor der Entscheidung davonlaufen …«

»Das hast du schon mal gesagt«, erklärte Leslie kühl.

»Und ich werde es immer wieder sagen. Ich bin ein Dickschädel. Ich weiß, was ich will. Und früher oder später wirst du schon nachgeben.« Er beugte sich vor, um den letzten Rest Wein in ihr Glas zu gießen.

»Ich möchte nicht, Joel.« Sie schob seine Hand zurück und hielt den Flaschenhals fest, doch er lachte nur und schenkte ihr ein.

»Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, daß ich vielleicht besser als du selbst weiß, was du willst?« Verführerisch strichen seine Finger über die ihren und riefen erotische Erinnerungen wach. »Das viele Reden bringt uns nur in Schwierigkeiten, Les. Laß uns zu mir nach Hause fahren und unsere Probleme an dem einzigen Ort lösen, wo ein Mann und eine Frau sich wirklich verstehen …« Er drückte Leslies Hand. Warm strich sein Atem über ihr Gesicht, und trotz ihres Zorns spürte sie Begierde in sich aufsteigen.

Wenn ich jetzt mit ihm gehe, kann er mich zu allem überreden. Wie ein Blitz stand ihr das Bild vor Augen, wie sie sich liebten, und ein Schauer durchrieselte ihren Körper. Wie konnte sie das aufgeben? War das nicht wert, worum er sie bat?

Nein, das ist es nicht wert! Denn auf genau dieselbe Weise gerät die Hälfte meiner Patienten in jene Zwangslagen, von denen sie mir Tag für Tag erzählen. Sie lassen sich von ihren Gefühlen leiten, statt ihren Verstand zu benutzen.

Leslie versuchte sich freizumachen, doch Joel hielt ihr Handgelenk umklammert. In der anderen Hand hielt er immer noch das Weinglas. Schockiert beobachtete Leslie, wie das Glas sich plötzlich aus seinen Fingern löste und in die Höhe schoß. Der Inhalt klatschte in Joels Gesicht. Hustend und spuckend ließ er sie los und griff nach einer Serviette, um sich den Wein aus dem Gesicht zu wischen.

»Verdammt! Wie ist das denn passiert?« Er trocknete sich ab, rieb über seinen Hemdkragen und die durchnäßte Krawatte. Leslie rappelte sich auf. Sie konnte immer noch nicht glauben, was sie gesehen hatte.

»War das nötig, Leslie? Mein Gott, sind wir schon so weit, daß du dich mit Gewalt von mir losreißen mußt?«

Er hatte das Glas in der Hand, nicht ich. Meine Hand ist nicht einmal in die Nähe des Glases gekommen. Aber das wird er mir niemals glauben. Vielleicht habe ich es ihm tatsächlich irgendwie aus der Hand gerissen und umgekippt. Doch Leslies Zähne schlugen plötzlich aufeinander, und vor ihrem inneren Auge sah sie den Aschenbecher, der weit außerhalb von Eileens Reichweite gestanden hatte, aber trotzdem von allein auf das Mädchen zuflog und ihr eine blutende Wunde schlug.

Der Ober kam an den Tisch, trocknete Joel dienstbeflissen mit frischen Servietten ab und entschuldigte sich unablässig, obwohl Leslie keine Ahnung hatte, wofür. Joel stieß den jungen Mann unwirsch beiseite.

»Das war ein Versehen, Joel. Es tut mir leid«, sagte Leslie. Ihre Zähne schlugen immer noch hörbar aufeinander. »Das wollte ich nicht. Bitte, glaub mir.«

»Ich glaube, es ist wirklich am besten, ich fahre dich nach Hause«, sagte er und rang sich ein Lächeln ab. »Du siehst total erschöpft aus. Dieser Job mit all den Verrückten, und dann auch noch die Wohnungssuche … kein Wunder, daß du mit den Nerven runter bist. Und eigentlich sollte ich dir dankbar sein. Die Krawatte ist ein Geschenk meiner Tante. Ich hab’ sie immer schon gehaßt. Und das Hemd weiche ich in kaltem Salzwasser ein, dann bleiben keine Flecken.«

Als Leslie daran dachte, wie das Glas sich aus seiner Hand gelöst hatte, lief es ihr von neuem kalt über den Rücken. Joel suchte nach einer plausiblen Erklärung für das Geschehen, wie jeder andere es auch getan hätte. Aber es gab keine plausible Erklärung. Leslies Hand war nicht einmal in die Nähe des Weinglases gekommen. Sie hatte es nicht berührt … genausowenig wie den Aschenbecher.

Also war es gar nicht Eileen gewesen, die den Ascher durch die Luft hatte fliegen lassen. Leslie hatte das selbst bewirkt.

»Bring mich nach Hause, Joel. Ich … ich muß mir einen Virus oder so etwas eingefangen haben.«

Genau. Einen Poltergeist-Virus. Und was soll ich jetzt tun? Einen Gehirnklempner anrufen? Herrgott, ich bin selbst einer!

Sie ließ sich von Joel in den Wagen helfen, und er fuhr sie nach Hause.

 

Als um sieben Uhr der Wecker schrillte, stöhnte Leslie und barg den Kopf unter der Bettdecke. Sie hatte noch gehört, wie die Uhr drei schlug, und dann vier, und ihre Augen brannten, als hätte sie die ganze Nacht irgendwelche Akten studiert. Sie erinnerte sich an gräßliche Träume … die Laken waren wie Schlangen von ihr fortgekrochen, zu Joel, der neben dem Bett stand, und hatten sich um ihn gewunden und ihn zu erwürgen gedroht, und er hatte sich erbittert gewehrt … Leslies erster Impuls war, wieder unter die Decke zu kriechen und den ganzen Tag im Bett zu bleiben.

Nach einer heißen Dusche war sie zumindest äußerlich wiederhergestellt; sie streifte sich Rock und Pullover über und ging nach unten, um Kaffee aufzusetzen.

Für gewöhnlich trank sie nur eine Tasse. Doch heute morgen gönnte sie sich eine zweite und hatte auch die dritte halb ausgetrunken, als das Telefon klingelte. Sie streckte die Hand nach dem gelben Nebenapparat an der Wand aus und vernahm zornig das Summen des Besetztzeichens. Das hatte ihr gerade noch gefehlt – ein defektes Telefon. Doch als sie auflegte und es noch einmal versuchte, hörte sie das normale Freizeichen. Um sicherzugehen, rief sie den Wetterdienst an. Die Tonbandstimme kündigte feuchte Witterung und weitere Niederschläge an; die Frühlingsregen hielten sich länger als gewöhnlich. Draußen hingen dicke Wolken am Himmel, und Nebelschwaden schwebten geisterhaft in der dunstigen Luft.

Sie durchwühlte die Küche nach einem Stück Toast, aber alles, was sie auftreiben konnte, war ein dunkler, fast steinharter Brotlaib, dessen Einwickelpapier verkündete, daß er aus neun biologisch angebauten Getreidesorten und Weizenkeimen gebacken war. So riecht es auch, dachte Leslie, als sie eine Scheibe in den Toaster steckte und mißmutig schnüffelte. »Haben wir kein richtiges Brot, Em?« fragte sie, als ihre Schwester ins Zimmer kam.

Emilys große blaue Augen blickten ungläubig. »Was hast du gegen biologischen Anbau? Das Verhältnis von Proteinen zu Kohlehydraten ist günstiger als bei jedem anderen Brot, und es enthält überhaupt kein Weißmehl oder raffinierten Zucker.«

»Das glaube ich gern«, versetzte Leslie düster. »Der Geruch ist dementsprechend.« Seufzend griff sie nach der Butter.

»Und das ist eine neue Margarine, ausschließlich aus Ölen mit mehrfach ungesättigten Fettsäuren hergestellt«, erklärte Emily, als Leslie gerade ins Brot gebissen hatte.

»Sind wir so abgebrannt, daß wir uns keine richtige Butter mehr leisten können, Emmy?«

»Nein, aber ich habe die Untersuchungen über gesättigte Milchfette gelesen und dachte mir, das hier wäre gesünder.«

Leslie betrachtete das steinharte Vollkornbrot. »Sofern man sich nicht die Zähne daran ausbeißt«, sagte sie.

Seufzend setzte Emily den Teekessel auf und kramte in der Blechdose, in der sie ein Dutzend verschiedene Kräutertees aufbewahrte. Sie trank weder schwarzen Tee noch Kaffee, und wenn Leslie sich Emilys makellose Haut und ihr glänzendes Haar anschaute, mußte sie zugeben, daß es funktionierte, was immer ihre Schwester tat, um einen schönen Teint und wundervolles Haar zu bekommen. Emily steckte ebenfalls ein Stück Biobrot in den Toaster. Ihr Tee roch entfernt nach Zitrone, sah jedoch aus wie Mundwasser oder Limo mit Kirschgeschmack, und Leslie schauderte bei dem Anblick. Emily machte sich begeistert über einen Becher Bio-Hüttenkäse her.

»Möchtest du was abhaben, Les? Es ist gut für …«

»Ja, gern«, sagte Leslie rasch, denn heute morgen stand ihr nicht der Sinn nach einer Vorlesung über Proteine. Sie ließ sich von Emily einen Löffel Hüttenkäse auf den Teller geben. Wo waren nur die guten alten Zeiten hin, als sich Teenager von Pizza, Hamburgern und diversen Limonadengetränken ernährt hatten?

»Wer hat denn eben angerufen?« fragte Emily mit vollem Mund. Leslie grinste. Wenigstens diese Frage war vorhersehbar gewesen.

»Niemand. Entweder ein Kurzschluß, oder jemand hat sich verwählt und aufgelegt, ehe ich abheben konnte.«

Emily stand am Spülbecken, beide Hände voller Vitamintabletten und Bierhefe. »Keiner dran? Vielleicht sollten wir das Telefon überprüfen lassen«, erklärte sie. »Gestern abend hat es auch ein paarmal geläutet, und es war niemand dran. Na ja, wenigstens hat dieser Spinner nicht wieder angerufen. Hattest du einen netten Abend mit Joel?« Sie schluckte den Berg Vitaminpillen herunter. Leslie sollte dankbar sein, daß ihre Schwester süchtig nach Vitaminen statt Amphetaminen war. Und kein Marihuana rauchte wie Juanita García. Juanita war in Emilys Alter gewesen; die beiden Mädchen hatten einander sogar gekannt, wenngleich sie sich in verschiedenen Welten bewegten.

»Joel und ich haben uns gestritten«, sagte Leslie und beförderte den Rest ihres Biotoasts in den Mülleimer. Doch Emily war bereits in die Diele gestürmt, griff nach ihrer Windjacke und kramte in ihrem Rucksack, um festzustellen, ob sie alle Bücher eingesteckt hatte.

»Um neun hab’ ich Musikgeschichte«, rief sie in die Küche zurück. »Dieser Schwachkopf von einem Dozenten verteufelt die Romantik. Als wäre Mahler eine ansteckende Krankheit oder so was und als hätte die Musikgeschichte schon vor Beethoven geendet. Drei Tage haben wir uns mit Scarlatti aufgehalten – Alessandro Scarlatti wohlgemerkt –, ehe wir uns Domenico Scarlatti zugewandt haben. Und dann sollten wir alle möglichen dämlichen Opern von Bononcini studieren, weil dieser Pauker behauptet, Händel sei nur aus politischen Gründen berühmter geworden als Bononcini. König Georg der Dritte sei schwul und hinter Händel her gewesen; deshalb hören wir heute keinen Bononcini an der Met. Und die Komponisten der Romantik wären allesamt tuberkulosekrank oder Syphilitiker gewesen. Stimmt das, Leslie?«

»Entschuldige, was hast du gesagt?«

»Haben die Komponisten des neunzehnten Jahrhunderts wirklich alle an Syphilis und Tuberkulose gelitten?«

»Nun ja, die Tuberkulose war damals ziemlich verbreitet«, erklärte Leslie und erinnerte sich vage an Kupferstiche aus dem vorigen Jahrhundert, auf denen bleiche junge Komponisten vor sich hin schmachteten. Emily war in die Küche zurückgekehrt und schenkte sich ein Glas Orangensaft ein.

»Sag mal, Les, wenn die Künstler alle krank waren, heißt das auch, daß ihre Musik kränklich sein muß? Oder morbide?«

Der Gedanke war irgendwie einleuchtend, aber Leslie konnte sich um alles in der Welt nicht vorstellen, weshalb das eine Rolle spielen sollte. »Ich würde sagen, das hängt von der Musik ab«, meinte sie schließlich. »Auch ein Mensch mit gesundem Körper kann alle möglichen krankhaften und makabren Dinge anstellen – ich denke da an diesen jungen Mann, der in ein Wohnheim eingedrungen ist und neun oder zehn Schwesternschülerinnen umgebracht hat. Körperlich scheint er ein Prachtexemplar gewesen zu sein, aber eben geistig verwirrt. Hätte er komponiert, wäre dabei bestimmt etwas wirklich Krankhaftes herausgekommen, trotz seines gesunden Körpers.«

»Da bin ich nicht so sicher«, entgegnete Emily. »Sieh dir Charles Manson an. Ich meine, der Mann war angeblich Musiker, und schau ihn dir jetzt an.«

»Schau du ihn dir an«, gab Leslie zurück. »Mir ist der Kerl ganz egal. Das ist deine Theorie, und ich will nicht darüber streiten. Gib mir auch ein Glas Orangensaft, ja?«

»Die Theorie stammt nicht von mir, sondern von Dr. Whittington. Wie ist der Mann bloß Musikprofessor geworden?« Den Saftkrug in der Hand, beugte Emily sich zu Leslie hinüber und wollte ihr einschenken. In dem Moment, als sie sich umdrehte, sauste ihr eigenes Glas ins Spülbecken und zersprang mit lautem Klirren. Leslie schrie auf und hielt ihr Saftglas fest.

»Verdammt!« Emily knallte den Krug auf den Tisch, und Leslie brachte ihn in Sicherheit, während ihre Schwester die Scherben aus der Spüle fischte. Wie zu erwarten hielt sie bald einen Finger in die Höhe, von dem Blut tropfte. Leslie mußte loslaufen und Heftpflaster suchen – zum Glück war es ein sauberer Schnitt. Zähneknirschend fluchte Emily vor sich hin. Leslie hatte nicht einmal geahnt, daß sie in ihrem zarten Alter solche Ausdrücke kannte. Dann stürmte sie aus der Tür und rief über die Schulter, sie müsse los, um ihren Bus nicht zu verpassen. Immer noch zitternd wickelte Leslie sich zur Vorsicht ein Geschirrtuch um die Hand und suchte nach den restlichen Scherben. Dabei redete sie sich ein, gesehen zu haben, wie Emily mit dem Ellbogen gegen das Glas gestoßen war. Trotzdem klapperten ihr die Zähne.

 

Als sie allein war, wurde Leslies Herzschlag allmählich wieder ruhiger. Sie trank ihren Kaffee aus (vier Tassen! schalt sie sich), rief dann den Auftragsdienst an und sagte sämtliche Termine für den heutigen Tag ab.

Wie kann ich etwas für meine Patienten tun, wenn ich selbst ein Poltergeist bin? Leslie wußte nur wenig über Poltergeister. Angeblich wurden entsprechende Phänomene in der Regel durch hysterische junge Mädchen an der Schwelle ihrer ersten Menstruation hervorgerufen. Aber das traf weder auf Emily noch auf Leslie zu.

Oder bin ich tatsächlich hysterisch? Habe ich auf diese Weise meiner angestauten Wut auf Joel Luft gemacht? Leslie fragte sich, wie viele Psychiater ihren Patientinnen so lange zugesetzt hatten, bis diese sich die Ansichten ihrer Ehemänner oder Liebhaber zu eigen machten. Noch zu Anfang ihres Psychologiestudiums hatten Therapeuten steif und fest die Meinung vertreten, ›emotional gesunde‹ Frauen würden nicht mit Männern konkurrieren, sondern ihre Hauptaufgabe bestünde in der Vorbereitung auf eine gesunde heterosexuelle Ehe. Zumindest diese Denkweise hatte die Frauenbewegung überwunden. Dennoch fragte sich Leslie, ob ihr Unterbewußtsein ihr auf diese Weise mitteilte, daß sie letztlich nachgeben, Joel heiraten und auf ihren Beruf und ihre Unabhängigkeit verzichten wollte.

Unsinn. Wäre das wirklich ihr Wunsch – warum hatte sie Joels Antrag dann nicht angenommen? Wahrscheinlicher erschien es Leslie, daß ihr Unterbewußtsein sich auf durchaus gesunde Weise dagegen wehrte, daß Joel die Oberhand behielt.

Leslie fluchte, als schon wieder das Telefon klingelte.

»Dr. Barnes? Ich habe genau das richtige Haus für Sie. Wir haben das Angebot erst heute morgen hereinbekommen. Ein nettes ruhiges Viertel in der Nähe von Haight Ashbury, und das Haus hat ungefähr die Größe, die Sie sich vorgestellt haben. Könnten Sie gleich vorbeikommen und sich das Objekt anschauen?«

»Wie wär’s mit elf Uhr?«

 

Als der Dunst sich aufgelöst hatte, zog einer der seltenen herrlichen Tage herauf, mit denen San Francisco seine Bewohner für mehr als dreihundert Tage Nebel und Regen jährlich entschädigte. Als Leslie über die Bay Bridge fuhr, spiegelte sich ein strahlend blauer Himmel im ruhigen Wasser. Den gewohnt dichten Verkehr auf der Brücke hatte sie einkalkuliert, doch die Straßen waren nicht allzu befahren, so daß sie gut durchkam und Haight Ashbury fast eine halbe Stunde vor dem Termin erreichte.

Die Gegend war früher ein Sammelpunkt für Hippies und Esoteriker gewesen, denen Ende der sechziger Jahre Zigeuner und Drogendealer gefolgt waren. Dann war Haight Ashbury eine Zeitlang zu einem Slum verkommen. Derzeit trat das Viertel in einen neuen Lebenszyklus ein, für den irgend jemand das Schlagwort ›Edelsanierung‹ geprägt hatte. Immobilienfirmen kauften billig heruntergekommene Gebäude und alte, halbverfallene Lebkuchenhäuschen aus viktorianischer Zeit, renovierten sie, verpaßten ihnen einen neuen Anstrich und verkauften sie an wohlhabende Kunden. Leslie betrachtete die frisch in leuchtenden Farben gestrichenen Häuschen, die von den Einheimischen liebevoll »Painted Ladies« genannt wurden. Ihr gefiel besonders eines, an dem sich die elfenbeinfarbenen, holzgeschnitzten Zierleisten vor einem Hintergrund aus Wedgwood-Blau abhoben.

Im Schaufenster eines Ladens für Künstlerbedarf sah sie Pinsel und Leinwand. Mehrere kleine Buchläden öffneten gerade eben, und die Verkäufer schoben Ständer und Wühltische vor die Tür und stellten Schilder auf: »Drei Bände einen Dollar!« oder »JEDES BUCH IN DIESEM STÄNDER 50 CENT!«

Müßig drehte Leslie einen der Bücherständer. Sie sah schreiend aufgemachte Reißer über fliegende Untertassen oder das Bermuda-Dreieck; ein anderer Band warnte vor den Katastrophen, die bei der Ankunft des Kometen Kohoutek eintreten würden. Leslie blätterte in dem Werk. Für den Verfasser hatte der Komet irgend etwas mit der Offenbarung des Johannes zu tun, und er sagte das Ende der Welt voraus. Leslie erinnerte sich, daß Kohoutek Ende der siebziger Jahre völlig unspektakulär an der Erde vorbeigezogen war. Kein Wunder, daß das Buch sein Dasein jetzt als 50-Cent-Schmöker fristete. Einer ihrer Professoren hatte solche Werke als ›Psychoschund‹ bezeichnet.

Als Leslie das Buch zurückstellte, streifte sie ein weiteres Taschenbuch mit rissigem Rücken. Unglaubliche Poltergeister, stand da. Verblüfft zog sie es hervor und blätterte ein paar Seiten durch. Trotz des grellbunten Titelbilds besaß der Autor einen respektablen akademischen Grad einer angesehenen Universität. Der Klappentext verriet, daß er als Psychotherapeut praktizierte und im Laufe seiner Arbeit mehrere Male auf Poltergeist-Phänomene gestoßen war. Was hatte sie zu verlieren außer fünfzig Cent? Leslie ging mit dem Buch in den Laden.

Hinter dem Tresen stand eine Frau mittleren Alters. Sie war zierlich und blaß, besaß jedoch außerordentliche Augen. Leslie hatte das verwirrende Gefühl, die Frau könne allein daran, wie ihre Kundin das Buch in den Händen hielt, deren Geringschätzung ablesen. Sie nahm die zwei Vierteldollarmünzen, die Leslie ihr reichte. »Das Buch ist gar nicht übel«, sagte sie dann. »Interessieren Sie sich für das Poltergeist-Phänomen?«

Plötzlich sah Leslie ihr eigenes Gesicht über einem doppelseitigen Artikel im National Enquirer vor sich. RATTENSCHWANZ-MÖRDER VON HELLSEHERIN ENTTARNT!‹ Die Leute in einem solchen Laden glaubten womöglich an solche Dinge. Bei dem Gedanken, jemand könnte sich an dieses Foto erinnern und sie erkennen, lief es ihr kalt über den Rücken. »Ich kenne mich mit dem Thema kaum aus«, antwortete sie steif. »Ist dieses Buch … äh … seriös?«

Die Verkäuferin lächelte gutmütig. »Die Monographie von Margrave und Anstey ist besser, im Moment aber ausverkauft. Das hier« – sie wies auf ein Buch mit dem Titel Mentale Selbstverteidigung – »wurde vor fünfzig Jahren verfaßt, ist aber sehr populär geschrieben. Falls Sie bereit sind, sich durch einen Haufen psychoanalytisches Gewäsch zu wühlen, kann ich Ihnen auch Dem Poltergeist auf der Spur von Nandor Fodor empfehlen.«

Der Name Nandor Fodor war Leslie bekannt; er gehörte zu den Klassikern der psychologischen Literatur. Ihn konnte man bestimmt nicht zu den Sensationsschriftstellern oder Spinnern zählen. »Dann nehme ich den Fodor auch noch«, erklärte sie und suchte in ihrer Handtasche nach ihrer Geldbörse. Während die Frau im Hinterzimmer verschwand, um Leslie ein Exemplar zu holen, ließ sie beklommen den Blick über die Regale schweifen. Margaret Murray, Hexerei in der heutigen Welt. Ein Buch hieß Okkulte Jahreszeitenrituale, ein anderes Magie: Rituale, Macht und Ziele. Ein Band trug den Titel Okkulte Psychologie, ein anderes hieß Rationaler Okkultismus, was Leslie ein Widerspruch in sich zu sein schien. Daneben entdeckte sie ein Regalbrett mit Werken von Carl Ransom Rogers, dessen Arbeiten sie bewunderte, und eine ähnliche Auswahl der Bücher von Abraham Maslow. Klassiker wie Spielarten religiöser Erfahrung von James standen neben Gespräche mit Seth von Jane Roberts und ein paar Büchern über das versunkene Atlantis. Auf einer eigenen Ausstellungsfläche waren zahlreiche Exemplare eines Buchs in einem blauen Schutzumschlag gestapelt. Der Titel lautete Hol den Mond auf die Erde; auf dem Umschlagbild schien eine junge Frau, die einen langen Umhang trug und mit einem Schwert bewaffnet war, irgendein Ritual durchzuführen.

Als die Verkäuferin mit einem abgegriffenen Exemplar des Buchs von Nandor Fodor erschien, war Leslie gerade bei einem Band mit dem Titel Reinkarnation – Phantasie oder Realität? Zwanzig Fallbeispiele angelangt, verfaßt von einem Psychologen, dessen guter Ruf ihr bekannt war. Ob der Autor tatsächlich an Wiedergeburt glaubt?, fragte sich Leslie. Die Leser jedenfalls waren offensichtlich überzeugt davon, denn Leslie entdeckte ein ganzes Regal mit Werken über Reinkarnation.

Sie wandte sich der Frau zu, die, wie Leslie erst jetzt bemerkte, einen schmalen Silberreif mit einem fünfzackigen Stern um den Hals trug. Ein Pentagramm. War der Drudenfuß nicht ein Hexenzeichen? Leslie hatte schon über Hexenkulte und sogar einen Satanstempel hier in San Francisco gelesen. Nun ja, Fodor zumindest war kein Okkultismus-Spinner, sondern ein seriöser Psychologe.

Leslie bezahlte das Buch und verließ eilig den Laden. In Sacramento hätte sie es nicht gewagt, sich beim Verlassen einer ›Buchhandlung für Okkultismus und Esoterik‹ blicken zu lassen. Im Schaufenster sah sie ein Buch mit dem Titel Erlebnisse eines übersinnlichen Gangsterjägers. Jemand von der Polizei in Los Angeles hatte das Vorwort verfaßt. Genauso hatte der Enquirer Leslie genannt – ›übersinnlich begabte Gangsterjägerin‹ – worauf sie eine Flut merkwürdiger Anrufe erhalten hatte, von Eltern verschwundener Kinder, von Ehefrauen, die ihre Männer vermißten. Keinem von ihnen hatte Leslie eine Auskunft geben können.

Für wen hielt die Frau im Buchladen sich eigentlich, daß sie so herablassend von ›psychoanalytischem Gewäsch‹ sprach? Leslie überflog ein paar Seiten aus dem Kapitel über den ›Poltergeist von Baltimore‹. Darin erklärte Fodor tiefernst: ›Im vergangenen Jahr waren zweimal ohne ersichtlichen Grund die Kugeln am Weihnachtsbaum explodiert. Ich war der Meinung, der Sohn der Familie müsse eine tiefe Abneigung gegen das Weihnachtsfest hegen.‹ Im folgenden erklärte der Psychoanalytiker, das Weihnachtsfest stelle ein Geburtssymbol dar, und der Junge habe vermittels des Poltergeists sein Geburtstrauma ausgelebt.

Geburtstrauma, also wirklich! Der alte freudianische Quatsch! Leslie las weiter. Der Poltergeist von Baltimore war ein kreativer und begabter Junge gewesen. Dem Psychologen war es gelungen, den Poltergeist auszutreiben, indem er der Großmutter des Jungen riet, dessen schriftstellerische Neigungen zu fördern und ihn seine Arbeiten in einer Literaturzeitschrift für Amateur-Autoren veröffentlichen zu lassen. Auf diese Weise hatte er ein Ventil für das blockierte kreative Potential des Jungen geschaffen, das wahrscheinlich für das Auftreten des Poltergeist-Phänomens verantwortlich gewesen war.

Leider traf das alles weder auf Eileen noch auf Leslie zu. Eileens Vater förderte die Kreativität des Mädchens vielleicht sogar zu stark, so daß sie sich nichts sehnlicher wünschte als die Freiheit, ein ganz normaler Teenager zu sein. Was Leslie selbst anging, so fühlte sie sich weder auf schöpferischem noch auf sexuellem Gebiet frustriert: Sie übte einen qualifizierten Beruf aus, den sie liebte, verdiente genug Geld, hatte einen Freund und sogar eine jüngere Schwester, an der sie möglicherweise aufkommende Anflüge von Mutterinstinkt abreagieren konnte.

Fodor hätte dafür natürlich eine Diagnose in seinem antiquierten freudianischen Jargon bereit gehabt: Penisneid, das Bedürfnis der Frau nach sexueller Unterwerfung, Ablehnung ihrer weiblichen Rolle. Na schön, die Frau im Laden hatte recht. ›Psychoanalytisches Gewäsch‹ war doch die richtige Bezeichnung. Aber sollte sie, Leslie, etwa all ihre Bedürfnisse verleugnen, ihrem bewußten Selbst Gewalt antun und Joel heiraten, nur um ihr aufgewühltes Unterbewußtsein zu beruhigen?

Is’ nich’, sagte sie sich – einer von Emilys Lieblingsausdrücken. Sie steckte die beiden Bücher in ihre Aktentasche, stieg ins Auto und fuhr zu der Kreuzung, wo der Immobilienmakler sie erwartete.

Eine kleine Straße wand sich hügelaufwärts um einen Park herum, der Leslie noch nie aufgefallen war, und verzweigte sich bald zu einem Labyrinth aus Seitenstraßen, Plätzen und winzigen Sackgassen. Der Makler hielt vor einem kleinen, mit braunen Schindeln verkleideten Haus und winkte Leslie, ebenfalls zu stoppen. Die Haustür lag ein Stück zurückgesetzt zwischen zwei symmetrischen Erkerfenstern. Leslie stieg aus und ging die mit Platten ausgelegte Einfahrt hinauf.

Die Tür, die Treppe und die hell getünchten Zierleisten wirkten so frisch, als wären sie gestern erst gestrichen worden, obwohl das Haus noch aus der Zeit vor dem großen Erdbeben in San Francisco stammen mußte. Drinnen fiel durch einen fächerförmigen Bogen Licht in eine elfenbeinfarben gehaltene Diele, und rechts und links führten zwei breite weiße Türen in jeweils zwei durch Glastüren abgeteilte Räume. Leslie betrat die Zimmer auf der rechten Seite. Sofort konnte sie sich Emilys kleinen Flügel und die noch immer eingelagerte Konzertharfe in diesen Räumlichkeiten vorstellen. Hinter dem Fenster war eine grünbelaubte Wildnis zu erkennen. Auf der anderen Seite der Diele befanden sich zwei identische Räume, die fast die gesamte Länge des Hauses einnahmen.

»Miss Margrave hat diese Zimmer schalldicht isolieren lassen«, erklärte der Makler. »Ich dachte gleich daran, daß Sie hier Ihre kleine Praxis einrichten könnten, Dr. Barnes.«

In der Mitte des größeren, zur Straße liegenden Zimmers hing eine farbenfrohe Tiffany-Lampe von der Decke. Hinter der Glaswand befand sich ein kleinerer Raum mit einem breiten Fenster an der Rückfront. Die altmodische, gold und weiß gestreifte Tapete war zu neu, um zur ursprünglichen Einrichtung des Hauses zu gehören, strahlte jedoch die konservative Eleganz einer versunkenen Epoche aus. Leslie fragte sich, ob der Raum dadurch wohl zu steif und förmlich auf ihre seelisch aufgewühlten Patienten wirken konnte.

»Eine schöne Aussicht hat man von hier«, bemerkte der Makler. Leslie trat an das rückwärtige Fenster. Tief unter ihr lag die Stadt, und in blauen Fernen breitete sich das Panorama des Golden Gate aus, wo die schmale, anmutig geschwungene Kontur der Brücke sich zwischen Meer und Himmel spannte. Der Raum hinter Leslie strahlte Ruhe und Frieden aus. Sie fühlte sich eins mit der Natur und der Stadt, dem Himmel und dem Meer. Allein dieser Blick würde den Bekümmerten Frieden schenken.

Ihrem Gesprächspartner gegenüber gab Leslie sich allerdings weitaus zurückhaltender. Womöglich kam er auf die Idee, für diese Aussicht ein paar tausend Dollar auf den Preis aufzuschlagen.

»Wenn die Sonne scheint, wird es zu hell hier drin. Ich müßte noch zusätzliche Vorhänge anbringen«, sagte sie. »Und dann werden in den nächsten zehn Jahren hier wahrscheinlich ein halbes Dutzend Wolkenkratzer gebaut, stimmt’s? Was habe ich dann noch von der Aussicht? Außerdem muß ich die Küche sehen können. Wenn wir diesen Teil des Hauses als Praxis und die Räume auf der anderen Seite des Flurs als Musikzimmer einrichten wollen, müssen wir in der Küche essen und dort vielleicht auch Gäste bewirten.«

Aber die Küche, riesig nach viktorianischer Art, bot ausreichend Platz für einen Eßtisch, Waschmaschine und Trockner sowie ein halbes Dutzend Kinder. Einer der Vorbesitzer hatte sie gründlich umgebaut und mit Neonbeleuchtung und modernen Elektrogeräten ausgestattet.

Von der Küche aus gelangte man in einen ziemlich großen Garten. Er wirkte verwildert und vernachlässigt, doch die feuchte Luft war von würzigen Pflanzengerüchen erfüllt. An der rückwärtigen Mauer wuchs ein Zitronenbaum, in dessen dunklem Laub weiße Blüten und gelbe Früchte leuchteten, und spendete Schatten und seinen unverkennbaren Duft.

Der Garten ist einsam. Er will, daß ich mich um ihn kümmere, durchfuhr es Leslie. Sie hatte das Gefühl, endlich heimgekehrt zu sein. Das war ihr Haus. Eine weiße Katze sprang von der Gartenmauer und verschwand unter den Wunderbaum-Sträuchern.

»Gibt’s die Katze als Zugabe?«

»Katze? Ich habe keine gesehen. Gehört wahrscheinlich einem der Nachbarn«, meinte der Makler. Aber das Tier hatte sich so verhalten, als wäre es hier zu Hause, und Leslie hatte sich immer schon eine Katze gewünscht. Haus und Grundstück waren ideal; aber wahrscheinlich kostete das Objekt viermal mehr, als sie sich leisten konnte.

»Und hier haben wir noch eine Garage, die zu einem Apartment ausgebaut ist. Sie besitzt einen eigenen Eingang und ein kleines Badezimmer«, erklärte der Makler. »Ich glaube, ursprünglich sollte sie als Atelier dienen, aber Sie könnten sich hier ja ein Büro einrichten.«

Leslie hatte sich zwar den Doppelraum im Erdgeschoß als Musikzimmer vorgestellt, aber vielleicht würde Emily sich ja lieber in einem eigenen Apartment ausbreiten. Oh-oh, dachte sie dann. Ahnte ich doch, daß die Sache einen Haken hat. Obwohl man in die Wand der einstigen Garage drei große Fenster eingelassen hatte, wirkte das Haus von hier aus düster und bedrückend. Auf der Gartenseite war die Mauer von einem dichten Klettergewächs überwuchert, von dem ein Übelkeit erregender Geruch ausging. Im Inneren des Hauses waren sämtliche Zimmer blitzsauber gewesen, doch als der Makler nun das Licht im Atelier anknipste, runzelte sogar er die Stirn. In der Mitte des Raumes stand eine Töpferscheibe. Die Tonreste darauf waren mit einer schleimigen Substanz überzogen, und inmitten dieser ekligen Masse lag eine gesprungene Tasse, aus der eine farblose Flüssigkeit sickerte.

Leslie schüttelte sich. Das kalte, feuchte Zimmer wirkte bedrückend. Dasselbe fluoreszierende Neonlicht, das der Küche eine helle, moderne Atmosphäre verliehen hatte, ließ das Atelier wie ein verlassenes Lagerhaus wirken. Auch der kleine Kamin, in dem sich Asche und Schmutz häuften, verlieh dem Raum nicht gerade einen freundlicheren Anstrich.

Dann aber ermahnte Leslie sich, nicht voreilig zu urteilen. Frisch gestrichene Wände und neue Möbel konnten Wunder wirken; außerdem konnte man den Efeu – oder was immer das für eine Pflanze war, die das Fenster zum Garten verdunkelte – zurückschneiden. Naserümpfend inspizierte Leslie das Duschbad. Es war einigermaßen sauber, aber von einem abgestandenen, dumpfigen Geruch wie von einer verstopften Abwasserleitung erfüllt.

»Das Atelier würden wir natürlich noch ausräumen und reinigen, ehe Sie einziehen«, meinte der Makler entschuldigend und führte Leslie zurück ins Haupthaus, wo sie die Treppe hinaufstiegen. Die Stufen bestanden aus Hartholz und die geschwungene Balustrade aus einem dunkleren, schimmernden Holz. Auf dem Treppenabsatz hing ein Spiegel.

Ja, das ist mein Haus. Ich bin heimgekehrt. Nun verschwinde und laß mich in Ruhe, dachte Leslie mit einem Blick auf den Makler. Trotzdem besichtigte sie gehorsam die Wandschränke im Flur, das Bad, das vom Korridor im ersten Stock abging, einen kleinen Raum, den sie als Gästezimmer benutzen könnten – der Makler nannte es das »Mädchenzimmer« –, und ein großes Schlafzimmer, das dieselbe Aussicht auf Himmel und Meer bot wie das Büro im unteren Stockwerk und ein eigenes, in zarten Blautönen gekacheltes Badezimmer besaß.

Auf der anderen Seite des Flurs lag noch ein weitläufiges Schlafzimmer. Ein Fensterflügel stand offen, so daß aus dem Garten Jasminduft ins Innere drang. Genüßlich sog Leslie ihn ein, bevor ihr auffiel, daß es derselbe Geruch war, der in der Garage so muffig gewirkt hatte.

Der Makler setzte eine finstere Miene auf. »Wieso steht das Fenster schon wieder offen? Sind diese verdammten Kinder hier herumgeklettert?« Er schloß das Fenster und betrachtete den Riegel. »Es ist nicht das erste Mal, daß ich hier offene Fenster vorfinde, wissen Sie.«

Seine Bemerkung erinnerte Leslie daran, ein paar Fragen zu stellen, die sie unter dem beinahe zauberischen Einfluß des Hauses vergessen hatte. »Sind die Straßen hier sicher? Oder muß ich mit halbwüchsigen Rabauken und Gangs rechnen?«

»Aber nein. Wenn hier jemand herumgeklettert ist, dann waren es Kinder. Größere Schäden haben wir hier nie entdeckt. Sie haben sicher bemerkt, daß sämtliche Fenster im Erdgeschoß vergittert sind, sogar das Atelier in der Garage. Stammt noch aus der Zeit, als sich Zigeuner und Drogensüchtige in Haight herumtrieben. Lauschen Sie mal – hier oben ist es so ruhig, daß man kaum glaubt, in der Stadt zu sein.«

Tatsächlich war es so still, daß Leslie das Summen der Bienen und anderer Insekten in dem von köstlichen Düften erfüllten Garten hörte. In dem Mietshaus, das sie momentan bewohnte, dröhnte vierundzwanzig Stunden am Tag der Verkehrslärm einer Straße in der Nähe. Doch hierher drang nur das ferne Raunen der Stadt. Ja, sie würde dieses Haus kaufen, und wenn sie ihren letzten Cent dafür hinlegen mußte. Entschlossen richtete sie sich darauf ein, den ganzen Nachmittag feilschen zu müssen, um die Kaufsumme auf eine bezahlbare Höhe herunterzuhandeln, und fragte nach dem Preis.

Ungläubig vernahm Leslie die Antwort. Der Kaufpreis lag sogar um ein paar tausend Dollar niedriger als die Summe, die sie für das kleine schmucke Haus in Russian Hill ausgegeben hätte – und dieses hier war doppelt so groß und besaß einen Garten. Sicher, die Adresse war nicht so vornehm, und in den Jahren, als Haight Ashbury zum Slumviertel verkam, waren die Grundstückspreise gesunken, aber trotzdem …

»Ist das Haus von Termiten oder Trockenfäule befallen? Und muß ich noch mal fünfzigtausend Dollar ausgeben, um irgendwelche Bauvorschriften zu erfüllen?«

»Aber nein. Ich habe das Gutachten eines Architekten, das Sie in meinem Büro gern einsehen können. Wenn Sie wollen, können Sie schon morgen hier einziehen.«

»Und wo ist der Haken?« fragte Leslie skeptisch.

»Für Sie gibt es keinen, Dr. Barnes. Die Leute, die dieses Haus geerbt haben, möchten es so schnell wie möglich veräußern. Tatsache ist, daß das Objekt im vergangenen Jahr schon dreimal verkauft wurde, aber jedesmal ist das Geschäft geplatzt. Die alte Dame, der dieses Haus gehörte, ist plötzlich verstorben, nachdem sie fünfzig Jahre hier gewohnt hatte. Sie war kinderlos; deshalb fiel das Haus an entfernte Verwandte in Nebraska oder South Dakota. Sie haben es zum Verkauf angeboten. Aber dann kam es zu einer Reihe unglücklicher Vorfälle, die den Preis gedrückt haben – wahrscheinlich sind die Erben inzwischen überzeugt, daß das Haus verhext ist. Zuerst hat ein älteres Ehepaar es gekauft, aber genau an dem Tag, an dem die Besitzurkunde hinterlegt werden sollte, ist der alte Herr tot umgefallen, und die Witwe mochte nicht allein hier wohnen. Dann ist eine junge Familie eingezogen, aber einen Monat später …« Er zögerte. »Nun ja, die Mutter … sie hat Selbstmord begangen. Daraufhin ist der Mann mit den Kindern ausgezogen und hat die Anzahlung und die erste Hypothekenrate verfallen lassen. Und die Eigentümer standen wieder mit dem Haus da.«

Irgendwie war Leslie sicher, daß die Frau sich in dem feuchten Atelier umgebracht hatte, dessen gespenstische Atmosphäre alles übertraf, was ihr bisher begegnet war. Doch sie ermahnte sich zornig, nicht abergläubisch zu sein. »Sie sprachen von drei Zwischenfällen …«

»Die letzte Käuferin hat es sich einfach anders überlegt. Sie hat hier einen Monat gewohnt; dann hat sie das gleiche getan wie ihr Vorgänger – sie hat ihre Anzahlung in den Sand gesetzt und ist von der Bildfläche verschwunden. Sie haben die Hinterlassenschaft der Frau im Atelier gesehen. Die Eigentümer haben also bereits einige unerwartete Gewinne eingestrichen. Jetzt wollen sie das Haus einfach nur loswerden.«

Was der Mann sagte, gab Leslie zu denken. Manche Gebäude besaßen tatsächlich eine Ausstrahlung, mit der ein sensibler Mensch nur schwer zu leben vermochte. Bis jetzt schien das Haus sämtlichen Käufern nur Unglück gebracht zu haben. Wollte sie wirklich in einem Haus mit einer solchen Geschichte wohnen?

»Ist die alte Frau, die ehemalige Besitzerin, im Haus gestorben?«

Der Makler zögerte. Offensichtlich rückte er nicht gern mit der Sprache heraus. »Ich hab’s erraten, stimmt’s?« fragte Leslie, und der Mann nickte widerwillig.

»Hat man sie in ihrem Bett ermordet oder so was? Nun sagen Sie schon, sonst stelle ich mir noch viel schlimmere Dinge vor.«

»O nein, nichts dergleichen! Sie ist im Erdgeschoß von ihrem Klavierschemel gefallen, hat sich den Schädel gebrochen und hat ein paar Tage tot im Haus gelegen. Die Polizei hat eine Untersuchung angestellt und sogar einige ihrer Freunde verhört. Aber schließlich kam man zu der Ansicht, daß ihr Tod ein unglückseliger Unfall war. Eine so alte Frau sollte wirklich nicht allein leben«, fügte der Makler mit aufrichtiger Empörung hinzu.

Kein Wunder, daß die weit entfernt lebenden Eigentümer der Ansicht waren, ein Spukhaus geerbt zu haben! Ein mysteriöser Todesfall und ein Mordverdacht, ein zweiter Todesfall, ein Selbstmord, eine spurlos verschwundene Person – wahrscheinlich hatten die Besitzer das Gefühl, in einen Horrorfilm geraten zu sein. Amityville oder so etwas. Bei diesem Gedanken mußte Leslie lächeln. Sie würde von diesen Ängsten profitieren und den Vertrag unterschreiben, ehe die Erben zur Besinnung kamen und herausfanden, was ein solches Haus tatsächlich einbringen könnte.

»Ich werde noch heute eine Kaution hinterlegen«, erklärte sie. »Ich kaufe das Haus – vorbehaltlich der Überprüfung des Baugutachtens.« Denn Leslie war klar, daß die mündlichen Versicherungen eines Immobilienmaklers juristisch ebenso wenig verbindlich waren wie die Worte eines Gebrauchtwagenhändlers, und sie wollte sich schwarz auf weiß davon überzeugen, daß sich das Haus in einwandfreiem Zustand befand.

Noch einmal trat Leslie in das Zimmer im Erdgeschoß, das sie für sich bereits das »Musikzimmer« getauft hatte. Sie stellte sich Emilys Flügel und die Harfe in diesem Zimmer vor und fragte sich, ob das Klavier der alten Frau, die hier gestorben war, wohl in der Ecke des Zimmers gestanden hatte, in der sie es plötzlich vor dem geistigen Auge erblickte. Doch sie war weder erschrocken noch verängstigt; sie hatte sich mit ihrer übersinnlichen Begabung abgefunden – und was sie hier spürte, hatte nichts mit dem Entsetzen zu tun, das sie empfunden hatte, als sie Juanita García sah, die blutüberströmt und mißbraucht in einem Abwasserkanal lag. Statt dessen vernahm sie ein fernes Wispern, das vage an Musik erinnerte, und fühlte eine wohlwollende, gütige Präsenz. Die alte Frau war zu sterben bereit gewesen und hatte einen raschen Tod durch einen Gehirnschlag oder einen Herzanfall gefunden – an ihrem geliebten Instrument. Gewiß ein Ende, das eine Musikerin sich gewünscht hätte.

Trotzdem, dachte sich Leslie, während der Makler ihre Anzahlung quittierte, sollte man Emily besser nichts davon sagen, daß diese alte Frau – wie war noch ihr Name gewesen? Miss Graves? Nein, Margrave – genau dort von der Klavierbank gefallen und gestorben ist, wo Emily ihren Flügel aufstellen wird.