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»Bei diesem Preis muß etwas faul an der Sache sein«, erklärte Emily. Leslie hatte ihr von der Reihe unglücklicher Zufälle berichtet, durch die der Verkauf des Hauses dreimal geplatzt war, doch Emily blieb skeptisch. »Das Ganze könnte eine kriminelle Verschwörung sein. Diese Verwandten in Nebraska, meine ich. Vielleicht verkaufen sie das Haus immer wieder und vergraulen die Leute anschließend. Sie streichen die Kaution und die Anzahlung ein und fangen wieder von vorn an. Auf diese Art kann man ein Vermögen verdienen.«

»Ich glaube, du hast deinen Beruf verfehlt, Emily. Würdest du Krimis schreiben, wärst du mit zwanzig Millionärin. Falls wirklich jemand auftaucht, um uns zu verjagen, kannst du den Fall ja aufklären«, fügte sie grinsend hinzu.

Dann setzte sie Emily ihre eigene Theorie auseinander: »Wahrscheinlich vermuten die Besitzer, daß in dem Haus so eine Art ›Amityville‹-Spuk umgeht, und wollen es loswerden, ehe die Geschichte sich herumspricht.«

Kühl erwiderte Emily, der Vorfall von Amityville sei schließlich als Schwindel entlarvt worden; ohnehin hätte niemand, der auch nur einen Funken Verstand besäße, an solchen Unsinn glauben können. Emily holte sich einen Becher Joghurt aus dem Kühlschrank, als das Telefon klingelte. Sie wollte abnehmen, doch Leslie stand näher am Apparat.

»Barnes.«

»Leslie Barnes?« fragte eine unbekannte Stimme, und Leslie seufzte erleichtert. Jetzt erst wurde ihr klar, daß sie mit angehaltenem Atem auf das heftige, nicht-menschliche Keuchen des anonymen Anrufers gewartet hatte.

»Ja. Wer spricht denn da?«

»Sie kennen mich nicht, Dr. Barnes, aber ich habe Ihren Namen und Ihre Telefonnummer von Sergeant Beckenham von der Polizei in Sacramento bekommen. Ich bin Lieutenant Charles Passevoy, Mordkommission Santa Barbara. Wir haben hier eine sehr merkwürdige Vermißtenanzeige. Ein kleines Mädchen. Wären Sie bereit, sich in ein Flugzeug zu setzen und herzukommen, um das Kind zu suchen? Wir haben davon gehört, wie Sie das junge Mädchen gefunden haben, als damals in Sacramento dieser Rattenschwanz-Mörder …«

Panik schnürte Leslie die Kehle zu. Es ging schon wieder los. Innerlich verfluchte sie Nick, diesen Trottel, der ihre Nummer herausgerückt, und den Enquirer, der mit seinen Sensationsberichten dafür gesorgt hatte, daß sie immer wieder solche Bitten erhielt …

»Tut mir leid«, sagte sie mit belegter Stimme. »Das ist völlig unmöglich. Bitte, ich kann das nicht. Ich will nicht …«

»Hören Sie, Dr. Barnes«, entgegnete die angenehme, sonore Stimme am anderen Ende der Leitung, »ich verstehe Ihre Gefühle vollkommen …«

»Das kann ich mir kaum vorstellen …«

»Keine Reporter, kein Presserummel. Das könnten wir Ihnen zusichern, Doktor. Aber hier geht es um ein kleines Mädchen – eine Siebenjährige, die aus einem geparkten Wagen verschwunden ist …«

Wieder stieg grelles Entsetzen in Leslie auf. Sie wollte nichts mehr davon hören! Doch vor ihrem inneren Auge formte sich das Bild eines kleinen Mädchens mit Ponyfrisur und Zahnlücken. Reine Einbildung, sagte sich Leslie. Du siehst bloß irgendeine Siebenjährige. Sie heißt Phyllis.

»Die Mutter sitzt hier in meinem Büro. Würden Sie kurz mit ihr sprechen? Wir werden Ihnen selbstverständlich den Flug und alle sonstigen Auslagen erstatten …«

»Es geht mir nicht um Geld«, erwiderte Leslie. »Es ist nur … ich kann das nicht. Ich habe Patienten. Ich kann nicht einfach verreisen …«

Plötzlich hatte sie jemand anderen in der Leitung. Eine Frau, die schluchzte und sie mit einem Wortschwall überschüttete.

»Dr. Barnes, hören Sie mich bitte an. Mein kleines Mädchen. Phyllis. Sie war erst … erst sieben Jahre alt. Sie ist einfach aus meinem Auto verschwunden, während ich ihren Geburtstagskuchen gekauft habe. Ich bin in den Laden gegangen, um den Kuchen zu holen, und als ich auf den Parkplatz zurückkam, war sie fort … Bitte, bitte kommen Sie her und suchen Sie meine Kleine. Ich gebe Ihnen tausend Dollar …« Die Frau schluckte hörbar.

»Ich nehme kein Geld«, entgegnete Leslie kühl.

»O Gott, ja, ja, das weiß ich … ich wollte Ihnen auch nicht zu nahe treten, ganz bestimmt nicht, aber meine Phyllis …« Ein lautes Schluchzen. »Sie ist noch so klein, und wenn ich an die vielen Verrückten denke, die sich auf den Straßen herumtreiben … Mein Gott, wenn meine Kleine so einer Sexbestie in die Hände gefallen ist …« Die Frau hielt plötzlich inne, und augenblicklich spürte Leslie, wie das Grauen durch das Telefon auf sie überschwappte. Rasch redete sie dagegen an, ohne zu wissen, was sie sagte, bis sie ihre eigenen Worte vernahm.

»Sie ist nicht tot. Es geht ihr gut. Sie ist mit einem Mann zusammen.« Aus weiter Ferne vernahm sie einen leisen Entsetzensschrei. »Sie ißt Geburtstagskuchen und redet ihn mit Daddy an.« Leslie schluckte und hörte sich hastig weitersprechen. »Sie ist bei ihrem Vater. Ihr ist nichts passiert. Er hat ihr ein … ein Paar rote Lackschuhe gekauft …«

Sie spürte, wie die Frau am anderen Ende der Leitung erstarrte. »Phyllis … hat mich angebettelt, ihr rote Lackschuhe zu kaufen, aber ich habe ihr gesagt, solche Schuhe wären unpraktisch. Aber daß sie bei ihrem Vater ist … Er hat das Sorgerecht ausdrücklich abgelehnt … er wollte das Mädchen nicht. Deshalb würde er sie bestimmt nicht entführen …«

»Das hat er aber«, versetzte Leslie kurz angebunden. »Er hat sie über die Staatsgrenze gebracht. Suchen Sie nach ihr in …« Ein Bild stieg in ihr auf … Wüstensand, Kakteen, grelle Sonne … und sie versuchte mehr zu erkennen. »Er arbeitet in Phoenix«, flüsterte die Frau am anderen Ende.

Das klang richtig, Leslie spürte es deutlich. »Phoenix«, wiederholte sie. »Ja, sie ist in Phoenix …«

»Ich setze mich noch heute abend ins Flugzeug«, stieß die Frau hervor. »Wie kann ich Ihnen nur danken?«

»Indem Sie niemandem davon erzählen«, bat Leslie, die plötzlich eine tiefe Erschöpfung spürte. Mit dem Fuß zog sie einen Stuhl heran und ließ sich darauf sinken. »Sie müssen es mir versprechen. Ich will weder Geld noch sonst etwas. Reden Sie bitte mit keinem Menschen über die Geschichte …«

Noch einmal würde sie das nicht ertragen. Ihr Gesicht auf den Titelseiten der Revolverblätter, Verrückte, die ihr auflauerten. Sie würde Nick anrufen und ihm mit Prozessen und einstweiligen Verfügungen drohen – aber Nick war ein guter Bekannter, der Bruder ihres Freundes, und er wußte, wie sie empfand. Was sollte sie tun?

Lieutenant Passevoy kam wieder an den Apparat. »Wir überprüfen das, Dr. Barnes«, erklärte er ruhig. »Und zwar sofort. Kann ich Sie später zurückrufen?«

»Nein«, schrie Leslie panisch, knallte den Hörer auf die Gabel und schlug die Hände vors Gesicht. Emily stand immer noch neben ihr, den Joghurt in der Hand. »Was war das?« flüsterte sie. »Hast du wirklich etwas … gesehen?«

»Ein kleines Mädchen. Es wurde vermißt …« Leslie wäre lieber gewesen, Emily hätte nichts von dem Gespräch mitbekommen. »Eigentlich wollte ich gar nichts sagen. Die Frau … hat mir Geld geboten.« Leslie fühlte sich durch das Angebot irgendwie beschmutzt. »Aber sie … sie hatte schreckliche Angst, das kleine Mädchen wäre vergewaltigt oder von einem Verrückten entführt worden … Ich konnte es nicht ertragen, ich mußte ihr einfach das Herz erleichtern. O Gott, Emily, wenn sie das Kind jetzt tot auffinden, will ich auch sterben. Ich weiß doch gar nicht …« Die völlige Gewißheit und der Druck, sich mitteilen zu müssen, fielen allmählich von Leslie ab, und sie fühlte sich verunsichert.

»Du meinst, du hast der Frau erzählt, was dir gerade in den Sinn kam, um sie loszuwerden?« Emily blickte die ältere Schwester entsetzt an.

»Um Himmels willen, nein«, beruhigte Leslie sie. »Während ich mit der Frau gesprochen habe, war ich mir sicher, vollkommen sicher. Ich hätte vor jedem Richter einen Eid darauf geschworen. Aber jetzt verschwimmt alles wieder …«

Munter klopfte Emily der Schwester auf die Schulter. »Na ja, wenn du schon übersinnliche Eingebungen hast, dann lieber gute als schlechte. Ist doch besser, etwas Nettes zu sehen als lauter Scheußlichkeiten. Vielleicht hast du ja auch diesmal Glück gehabt.«

»Glück!« Wieder schlug Leslie die Hände vors Gesicht.

»Ich koche dir eine Tasse Tee«, erbot sich Emily. »Wie wär’s mit Baldrian? Ein rein pflanzliches Beruhigungsmittel, sehr entspannend und vollkommen unschädlich. Es wird seit Jahrhunderten gegen Nervosität angewendet.«

»Laß uns die Sache einfach vergessen, Em. Und ich rufe Nick an. Wenn er mich je wieder in so etwas hereinzieht, kann er sich auf was gefaßt machen.«

»Oder soll ich dir einen Drink holen, Les? Wir haben noch Wein im Schrank. Du siehst ziemlich blaß aus, Leslie.«

»Es geht schon.«

»Wir hatten eben von dem Haus gesprochen …«

Erleichtert packte Leslie die Gelegenheit beim Schopf, das Thema zu wechseln.

»Ich habe eine hohe Kaution gezahlt, und mit Großmutters Geld kann ich die Hälfte der Kaufsumme abdecken. Das bedeutet, daß die Kreditraten trotz der hohen Zinsen niedriger liegen als unsere jetzige Monatsmiete. Das Haus hat ein großes Zimmer für deinen Flügel, und du kannst auch die Harfe aus dem Lagerhaus holen lassen. Die frühere Eigentümerin war ebenfalls Musikerin. Und es gibt ein schönes großes Zimmer, schalldicht isoliert, in dem ich mir mein Büro einrichten möchte.« Leslie machte sich daran, Gemüse für einen Salat zu putzen. Emily schnappte sich eine kleine Möhre und kaute darauf herum. Den Joghurt hatte sie inzwischen verputzt, wie Leslie bemerkte. So wählerisch Emily beim Essen war, besaß sie wenigstens den Riesenappetit eines gesunden Teenagers.

»Kann ich nicht das schalldichte Zimmer haben? Dann könnte ich auch üben, wenn du Patienten hast.«

»Ich möchte den Raum wirklich als Büro, Em. Ich habe mich in die Aussicht verliebt, weißt du. Außerdem läuft es ja auf dasselbe hinaus – wenn die Praxis schalldicht isoliert ist, kannst du auch in jedem anderen Zimmer spielen, wenn ich Patienten habe.«

Emily runzelte die Stirn und legte den Kopf auf die Seite. »Warum in aller Welt richtet eine alte Frau sich einen schalldichten Raum ein?«

»Vielleicht war sie Musikkritikerin und hat die Platten gern mit voller Lautstärke gespielt. Oder sie hat eine Urschrei-Therapie gemacht und wollte sich in aller Ruhe die Lunge aus dem Leib brüllen. Woher soll ich das wissen?«

»Mir kommt das komisch vor«, meinte Emily düster. »So etwas tut man doch nicht ohne Grund.«

Leslie lachte leise und nahm ein Kotelett aus dem Kühlschrank. »Das klingt wie die alte Theorie aus New England. Du weißt schon – die Puritaner waren der Meinung, wer bei Nacht das Rollo runterzieht, hat was zu verbergen. Möchtest du auch ein Kotelett, Em?«

»Igitt! Nein, danke, ich mache mir ein Käsesandwich. Wie bringst du es nur fertig, Teile von toten Tieren zu essen?«

»Besser als von lebendigen«, versetzte Leslie. Sie hatten dieses Thema bereits zur Genüge diskutiert.

»Im ersten Stock liegen drei Zimmer«, erzählte sie weiter. »Ein kleines, das wir als Gästezimmer einrichten können, und zwei große, von denen du dir eines aussuchen kannst. Hast du Lust, heute abend noch hinzufahren und dir das Haus anzuschauen? Wir wären um zehn Uhr wieder zurück.«

»Würde ich sehr gern, aber ich kann nicht. Am Sonntag muß ich den Chor begleiten und noch üben. Wie wär’s mit Freitag? Du könntest mich nach der Vorlesung abholen.«

Im Geiste ging Leslie ihren Terminkalender für Freitag durch. Schon wieder Eileen Grantson und keine Zeit, vorher noch etwas über Poltergeister zu lesen. Nicht, daß Fodor und sein psychoanalytisches Gewäsch – wirklich ein sehr passender Ausdruck – Leslie eine große Hilfe gewesen wären.

Und wenn du selbst der Poltergeist bist, nützt es Eileen sowieso nichts …

»Also gut, am Freitag«, sagte sie. »Aber wir müssen um fünf zurück sein, weil ich dann eine Patientin habe.«

Während das Kotelett brutzelte, berichtete Leslie ihrer Schwester weiter von dem Haus. Emily nahm das Waffeleisen auseinander, baute das kombinierte Gerät rasch zu einem Sandwichtoaster um und grillte sich ein Käsebrot. Dann stürzte sie ein Glas Milch herunter, schnappte sich einen Apfel und verschwand ins Wohnzimmer. Kurz darauf vernahm Leslie eine Reihe von Arpeggios, gefolgt von donnernden Akkorden, die nach Liszt klangen. Vielleicht sollte sie den schalldichten Raum doch Emily überlassen.

Eigentlich hätte Leslie sich auf die Suche nach ihren Poltergeist-Büchern machen sollen – nach dem Buch von Fodor und von dem anderen Autor. Aber sie saß nur da und hörte Emily beim Üben zu. Leslie wußte, daß es ein Zögern war, von neuem die Welt des Unerklärlichen zu betreten, die sie aus Sacramento vertrieben und nun auch ihrer Beziehung mit Joel noch einen weiteren Knacks zu geben drohte. Falls es zum Bruch kam, würde er ihr fehlen.

Das Telefon klingelte, und Leslie wollte zum Apparat in der Diele. Dann hörte sie, wie das Klavierspiel abbrach, und vermutete, daß Emily schon hingelaufen war. »Für dich, Leslie«, rief sie kurz darauf. »Wieder dieser Polizist aus Santa Barbara.«

»Sag ihm, daß ich nicht ans Telefon kommen kann«, erklärte Leslie und ging mit langsamen Schritten in die Küche zurück.

»Sie kann nicht ans Telefon kommen«, sagte Emily; dann lauschte sie eine Zeitlang. »Das ist ja wunderbar!« rief sie plötzlich aus. »Mensch, Les, sie haben das Kind gefunden – genau da, wo du es gesehen hast.« Sie hielt ihrer Schwester den Hörer hin, und Leslie nahm ihn entgegen.

»Ich wollte, daß Sie sofort davon erfahren, Dr. Barnes«, vernahm sie die Stimme von Lieutenant Passevoy. »Wir haben das kleine Mädchen gefunden – Phyllis Anne Chapman. Genau da, wo Sie gesagt haben. Die Kollegen in Phoenix haben den Vater des Kindes überprüft, und wissen Sie was? Das Mädchen saß bei ihm und futterte seinen Geburtstagskuchen. Der Vater behauptet, er sei nach Santa Barbara geflogen, um seine Tochter zum Geburtstag zu besuchen. Als er das Kind allein antraf, hat er sich gedacht, er könnte seiner Frau einen kleinen Schrecken einjagen – der verdammte Idiot! Also sagte er bloß: ›Wir wollen Mommy überraschen‹ und hat Phyllis mitgenommen. Angeblich wollte er seine Exfrau am nächsten Morgen anrufen. Er hätte sie nie für so dumm gehalten, daß sie die Polizei einschaltet, sagt dieser Hampelmann. Ich persönlich halte den Typen für einen Sadisten, aber dem Mädchen geht es gut. Phyllis hat mit ihrer Mutter telefoniert. Der Vater hat versprochen, das Mädchen ins nächste Flugzeug nach Santa Barbara zu setzen. Wir konnten den Kerl nicht mal belangen, sondern ihm bloß die Sorgerechtsbestimmungen auseinandersetzen und ihn freundlich bitten, so etwas nie wieder zu tun.«

Leslie stieß erleichtert den Atem aus. Lieutenant Passevoy wiederholte seine Dankes- und Lobeshymnen, doch Leslie hörte ihn gar nicht mehr. Sie kam erst wieder zu sich, als sie irgendwann auf ihrem Stuhl in der Küche kauerte. Der Hörer lag wieder auf der Gabel, und Emily spielte im Wohnzimmer Klavier, immer noch Liszt.

Der Irrsinn, der Leslie aus Sacramento vertrieben hatte, streckte von neuem die Hand nach ihr aus. Und wenn die Konfrontation mit dem Übersinnlichen ihr Angst einjagte – einer erwachsenen Frau, die sich ihrer Feindbilder und Schwachpunkte bewußt war –, was würde das erst bei der vierzehnjährigen, emotional verwirrten Eileen anrichten?

Emily entlockte dem alten Flügel kräftige Akkorde. Sie spielte wundervoll. Leslie blieb einen Moment in der Tür stehen und lauschte. Natürlich war sie ihrer Schwester gegenüber positiv voreingenommen, doch Emily spielte besser als die meisten Konzertpianisten, die Leslie gehört hatte. Das Mädchen legte beim Spielen den Kopf zur Seite wie ein Vögelchen, das auf einem Springbrunnen sitzt, und lauschte den Tönen, die wie ein Wasserfall dahinplätscherten; sie wiederholte die Phrase, und die Töne glitten dahin wie Perlen auf einer Schnur. Dann sah sie Leslie, verdrehte die Augen und unterbrach ihr Spiel.

»Was ist denn jetzt schon wieder?«

»Habe ich hier ein Buch vergessen? Oder hast du es dir ausgeliehen? Nandor Fodor, Dem Poltergeist auf der Spur …«

Emily starrte ihre Schwester verständnislos an. »Was sollte ich damit anfangen? Ich wußte nicht einmal, daß du ein solches Buch besitzt.«

»Schon gut. Ich dachte ja nur, ich hätte es hier liegen lassen.«

Beim Hinausgehen hörte sie, wie Emily die perlende Tonfolge ein ums andere Mal wiederholte. Ob sie überhaupt lange genug aus ihrer Trance aufgewacht ist, um zu verstehen, was ich sie gefragt habe? Es war ohnehin eine dumme Frage gewesen. Emily las sehr wenig; sie verbrachte jede freie Minute entweder im Ballettstudio oder an ihrem Flügel. Jedem, der es hören wollte, verkündete sie, daß sie Lesen für Zeitverschwendung hielt. Emily hätte ein Buch wahrscheinlich nur dann bemerkt, wenn es auf den Tasten ihres Klaviers gelegen hätte. Oder – aber nur vielleicht –, wenn sie darauf getreten wäre.

Nervös sah Leslie noch einmal in ihrer Aktentasche nach; dann gab sie die Suche vorerst auf. Nach dem Anruf aus Santa Barbara war es ohnehin wahrscheinlich besser, auf die Lektüre eines Buches über Poltergeister zu verzichten.

Sie setzte sich in die Diele und hörte Emily zu. Wieder klingelte das Telefon, und sie nahm rasch ab.

»Leslie Barnes.«

»Bist du das, Alison?«

Leslie runzelte die Stirn. »Welche Nummer haben Sie gewählt? Ich kenne keine Alison«, erklärte sie und legte auf. Sofort schrillte der Apparat wieder, aber diesmal war niemand in der Leitung. »Hallo? Hallo?« wiederholte Leslie. Doch ihre Stimme hallte nicht, wie es bei einer abgebrochenen Verbindung der Fall gewesen wäre. Sie hörte jemanden atmen. O Gott, nicht schon wieder.

»Wenn Sie nicht sofort auflegen«, sagte sie scharf, »melde ich Sie bei der Telefongesellschaft.«

»Das wird dir noch leid tun, du Schlampe«, erklärte eine belegte, nuschelnde Stimme. Dann erklangen ein Klicken und das Freizeichen.

Die Musik hatte aufgehört. Offenbar konnte Emily den Gedanken nicht ertragen, einen Anruf zu verpassen.

»Wer war dran, Les? War das für mich?«

»Nein. Das war mal wieder unser freundlicher Nachbar, der anonyme Spinner«, antwortete Leslie und versuchte, beiläufig zu klingen.

»Du solltest ihn anzeigen«, meinte Emily und schlenderte zu ihrem Flügel zurück.

»Du hast recht.« Leslie rief bei der Telefongesellschaft an, wurde aber nur mit einem Ansageband verbunden, auf dem eine freundliche Stimme sie bat, es am nächsten Morgen ab neun Uhr noch einmal zu versuchen.

Als das Telefon wieder klingelte, mußte Leslie sich zwingen, die Hand nach dem Hörer auszustrecken.

»Hier Dr. Barnes.« Schaudernd wartete sie darauf, von neuem das unartikulierte Murmeln zu hören, das nichts Menschliches besaß. Statt dessen vernahm sie eine helle, beinahe kindliche Stimme.

»Dr. Barnes? Es ist mir peinlich … aber ich meine, Sie haben gesagt, ich dürfte Sie privat anrufen, wenn was schiefläuft. Ich hab’s wieder getan. Es tut mir so leid, Sie zu stören …«

»Ist schon gut, Judy«, sagte Leslie. Die Stimme gehörte einer der Jugendlichen, die bei ihr in Behandlung waren. Judy Attenbury – magersüchtig. Mit fünfzehn Jahren hatte sie ausgeprägt weibliche Formen entwickelt und war zu stämmig für das Ballett geworden, das sie liebte. Das Mädchen hatte mit einer selbstverordneten Hungerdiät reagiert, fast dreißig Pfund abgenommen und war nun nicht mehr in der Lage, zu einem normalen Eßverhalten zurückzukehren, so sehr es sich auch bemühte.

»Ich hab’s wieder getan, Dr. Barnes. Ich hab’ gefressen. Mom hat keine Ruhe gegeben, bis ich ein bißchen Huhn und Salat genommen habe, und dann habe ich mir noch von dem Kartoffelpüree aufgetan und gefressen und gefressen. Ich konnte einfach nicht aufhören.« Judys Schluchzen klang beinahe hysterisch. »Ich kam mir wie ein Schwein vor, so schrecklich fett. Ich konnte es nicht ertragen, also hab’ ich alles wieder ausgekotzt …«

Gott sei Dank. Ein richtiger Anruf. Ein echtes Problem.

»Davon geht doch die Welt nicht unter, Judy. Zuerst solltest du mit dem Weinen aufhören. Und jetzt möchte ich, daß du mir deine Empfindungen schilderst, als du die erste Portion Huhn genommen hast. Was hat denn deine Mutter dazu gesagt?«

»Sie wollte ja, daß ich esse. Dauernd hat sie mich gelöchert: Iß was, Judy! Iß was! Aber als ich dann mit dem Kartoffelpüree anfing, hat sie gesagt: Entweder du hungerst, oder du übertreibst, Judy. Du findest nie das richtige Maß. Und ich hab’ mich so aufgedunsen gefühlt. Wie ein fettes Schwein …« Judy brach wieder in Tränen aus.

Judys Mutter – trotz ihrer fünfundvierzig Jahre gertenschlank – wurde nicht damit fertig, daß ihre Tochter die Ballettschule nicht mehr besuchen konnte. Es war für sie ein noch größerer Schock gewesen als für das Mädchen. Judy war eine überragende Tänzerin, doch sie besaß einfach nicht den grazilen Körperbau einer Ballerina. Doch ständig hatte die Mutter ihr zugesetzt, sie solle abnehmen.

Es gelang Leslie, Judy zu beruhigen. Sie ließ sich Mrs. Attenbury ans Telefon holen und bat die beiden, morgen gemeinsam zu einer Sitzung zu kommen. Den Rest des Abends verbrachte sie in ihrem Arbeitszimmer und packte Bücher ein. Aber das Buch von Fodor blieb verschwunden.

Am nächsten Morgen stand Leslie früh auf und machte sich von neuem daran, die Bücher aus ihrem Büro in Pappkartons zu packen und diese mit Etiketten zu versehen. Als sie hörte, wie Emily zum Frühstück herunterkam, hatte sie den Fodor immer noch nicht gefunden; inzwischen war sie ziemlich sicher, daß er sich nicht in ihrem Arbeitszimmer befand. Sie hatte sogar im Wagen nachgesehen, um sich zu vergewissern, daß sie das Buch nicht dort vergessen hatte.

Als sie in die Küche trat, war sie mit anderen Gedanken beschäftigt. Sie fragte sich, wo sie Umzugskisten für die Küchengeräte auftreiben sollte, sagte sich dann aber, daß es besser sei, sich nicht zu sehr auf das Haus zu versteifen, ehe sie die Gelegenheit gehabt hatte, sich den Bericht des Architekten anzuschauen. Sie hatte ihn zwar im Büro des Maklers überflogen, und soweit schien alles in Ordnung zu sein. Aber gerade weil das Haus sie derart verzaubert hatte, wollte Leslie das Gutachten noch einmal aufmerksam lesen. Es würde ihr das Herz brechen, sollte der Kauf sich doch noch zerschlagen.

Jetzt weiß ich wenigstens, wo meine Prioritäten liegen. Joel hat seit unserem Streit nicht angerufen, und ich könnte es ihm nicht verübeln, wenn er sich überhaupt nicht mehr meldet. Schließlich habe ich ihm – auf welche Weise auch immer – ein Glas Wein ins Gesicht geschüttet. Und ich rede von gebrochenen Herzen und denke dabei nur daran, daß ich mein neues Haus verlieren könnte. Das sagt wohl genug über meine Beziehung zu Joel.

Emily stand an der Küchenanrichte, rührte löffelweise Weizenkeime in einen Joghurtbecher und nippte zwischendurch an einer Tasse dünnen gelblichem Tee, aus der ein angenehmer Zitronenduft aufstieg. Sie blickte auf. »Stimmt was nicht, Les?«

»Nein, nein, alles in Ordnung. Ich hoffe nur, daß der Bericht des Architekten bestätigt, daß mit dem Haus wirklich alles in Ordnung ist.«

»Du hörst dich an, als hättest du dich verliebt.«

»Genau das hab’ ich vorhin auch gedacht. Jetzt, wo Joel möglicherweise aus dem Spiel ist, wird dieses Haus vielleicht die Liebe meines Lebens. Eine große Leidenschaft möglicherweise.«

»Naja, diese Art Leidenschaft hat zumindest einen Vorteil«, meinte Emily grinsend. »Sie hängt dir weder einen Tripper noch eine Schwangerschaft an!«

Leslie blinzelte und befahl sich streng, nicht schockiert zu wirken.

»Ich kann es gar nicht abwarten, dieses wunderbare Traumschloß zu besichtigen«, fuhr Emily fort. »Meinst du, wir könnten schon heute dorthin statt am Freitag?«

In Gedanken ging Leslie ihren Terminkalender durch. »Wann hast du heute frei?«

»Um neun Uhr habe ich Musikgeschichte, dann Unterricht bei Agrowsky. Um halb zwei bin ich fertig. Sollen wir uns am Haus treffen, oder könntest du mich vom Konservatorium abholen?«

»Ich komme in die Stadt. Steck mir auch ein Stück Brot in den Toaster«, sagte Leslie, die gerade an der Kaffeemaschine herumwerkte. Genießerisch sog sie den Dampf ein, der von Emilys Tee aufstieg. »Riecht gut. Was ist das?«

»Zitronengras. Möchtest du einen Schluck? Sehr gut für die Nerven. «

»Heute nicht, vielen Dank.« Sie setzte sich auf ihren Stuhl und blinzelte verblüfft. »Oh, du hast ja das Buch gefunden, das ich gesucht habe.«

»Was?« Emily drehte sich um. Auf Leslies Platzdeckchen lag ein schmuddeliges, wasserfleckiges Taschenbuch. Vor einem dunklen Hintergrund und einer Lichterkette, die an die UFO-Sequenz aus Spielbergs Unheimliche Begegnung der Dritten Art erinnerte, prangte der reißerische Titel: Unglaubliche Poltergeister. Bei ihrer Suche nach dem Fodor-Band hatte Leslie ganz vergessen, daß sie dieses Buch ebenfalls gekauft hatte.

»Danke, Em. Aber eigentlich hab’ ich ein anderes Buch gesucht.«

»Bedank dich nicht bei mir«, erwiderte Emily, »denn ich habe den alten Schmöker noch nie gesehen. Glaubst du wirklich, ich würde etwas so Schmutziges auf den Tisch legen?«

»Und wie ist das Buch dorthin gekommen? Ich war das bestimmt nicht«, erklärte Leslie und hob es vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger hoch. »Willst du mir weismachen, das Buch sei aufgestanden und gewandelt?«

»Gar nichts will ich dir weismachen. Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst«, gab Emily zurück. »Was sollte ich mit einem Buch über« – sie reckte den Hals und las den Titel – »Poltergeister«?«

»Emily, falls das ein Scherz ist – ich bin heute morgen nicht in der Stimmung dazu!«

»Was soll der ganze Quatsch?« fuhr Emily auf. »Ich finde das auch nicht witzig.«

»Nun komm schon, Em, sag mir die Wahrheit …«

»Mein Gott, ich sehe das Ding zum ersten Mal! Wieso regst du dich eigentlich so auf?«

»Weil ich weiß, daß ich das Buch nicht auf den Tisch gelegt habe, verflixt noch mal. Und wenn du es auch nicht warst – wer dann?«

Emily knallte ihren Joghurtbecher so heftig auf die Tischplatte, daß er hochsprang und der Rest seines Inhalts sich auf den Boden ergoß. »Vielleicht war es ja einer von deinen bescheuerten Poltergeistern! Du glaubst doch an diesen ganzen parapsychologischen Quatsch, oder?« Emily stürmte aus der Küche und knallte die Flurtür hinter sich zu. Einen Moment später hörte Leslie, wie die Badezimmertür krachend ins Schloß fiel.

Benommen hob Leslie den Joghurtbecher auf, wischte den Fleck auf dem Boden weg und setzte sich, um ihren Kaffee zu trinken. Das Buch schob sie zur Seite. Sie fragte sich, ob sie allmählich den Verstand verlor – und genau diese Frage holte sie auf den Boden der Tatsachen zurück. Zu oft hatte sie dieselbe Frage von ihren Patienten gehört.

Sie formulierte die Antwort, die sie einem Patienten gegeben hätte.

Wie kommen Sie darauf, daß Sie den Verstand verlieren?

Nun ja, da war dieses Buch auf dem Tisch …

Glauben Sie nicht, Sie haben sich das Ganze nur eingebildet?

Zögernd streckte Leslie die Hand aus und berührte das schmierige, fleckige Cover. Nein, das Buch gibt es wirklich. Emily hat es ja auch gesehen.

Eine folie à deux? Nein, Emily stand mit beiden Beinen fest auf der Erde. Und Leslie selbst hatte sich gründlichen psychologischen Untersuchungen unterziehen müssen, bevor sie ihren Beruf ausüben durfte. Sie waren beide geistig gesund. Aber wie lautete dann die Antwort?

Emily kam zurück. Sie war bereits für den Unterricht angezogen. Unsicher griff sie nach ihrem Zitronengras-Tee und nippte daran. »Tut mir leid, daß ich dich angeschrien habe, Les. Alles in Ordnung mit dir?«

»Glaub’ schon. Entschuldige bitte, Em. Ich weiß, daß du nicht lügst.«

»Schon gut. Wenn ich einen Funken Verstand besäße, hätte ich diesmal gelogen. Ich hatte ja keine Ahnung, daß du dich so aufregst.«

Von neuem ergriff eine dumpfe Furcht Besitz von Leslie. Dieser ganze parapsychologische Quatsch. »Aber … aber was ist dann die Erklärung? Haben wir kleine grüne Männchen im Haus? Oder Kobolde?«

»Was ist eigentlich so verwunderlich an einem Buch auf dem Küchentisch? Vielleicht möchte es, daß du es liest.« Emily kramte im Kühlschrank herum, nahm sich einen Becher Hüttenkäse und einen Löffel und aß.

»Bücher können keine Wünsche äußern«, erklärte Leslie pikiert. »Und sie können sich ohne die Einwirkung einer äußeren Macht nicht bewegen.«

»Möge die Macht mit uns sein«, witzelte Emily mit vollem Mund. »Wenn sich irgend etwas von allein bewegt, dann doch wohl am ehesten ein Buch über Poltergeister, oder? Oder eine von uns wandelt im Schlaf. Das ist jedenfalls vernünftiger als anzunehmen, daß eine von uns beiden ein Poltergeist ist, ohne es zu wissen.« Sie warf den Becher in den Mülleimer und kritzelte ›Hüttenkäse‹ auf die Einkaufsliste, die am Kühlschrank hing. »Jetzt muß ich aber los, sonst komme ich zu spät. Du holst mich um halb zwei am Konservatorium ab, ja?« rief sie auf dem Weg nach draußen über die Schulter.

Leslie schenkte sich die zweite Tasse Kaffee ein und betrachtete den reißerisch aufgemachten Buchdeckel. Vielleicht wandelt ja wirklich eine von uns im Schlaf, dachte sie. Wenn, dann wahrscheinlich ich. Vor ihrem inneren Auge sah sie den Aschenbecher über den Schreibtisch segeln und Joel, dem der Rotwein in die Augen spritzte. Emily wußte weder von dem einen noch vom anderen Vorfall. Ihre Bemerkung war ein reiner Zufallstreffer gewesen.

Vielleicht will das Buch, daß du es liest …

Mit einem Küchentuch wischte Leslie den schlimmsten Schmutz vom Einband ab und starrte den Band argwöhnisch an. Ihr kurzer Ausflug in Fodors Geschreibsel hatte nichts als psychoanalytisches Gewäsch zutage gebracht. Mit einer Hand begann sie die fleckigen, eselsohrigen Seiten durchzublättern.

 

Das Poltergeist-Phänomen stellt für gewöhnlich ein Produkt chronisch angespannter Emotionen dar, die meist – wenn auch nicht immer – von einem Mädchen auf der Schwelle der Menses ausgehen. Weniger häufig treten Fälle auf, in denen ein geistig verwirrter Jugendlicher oder eine schwangere Frau den Ausgangspunkt bilden. Im Verein mit familiären Konflikten bringen die erwachenden sexuellen Gefühle eine Kraft hervor, die sich durch Pochen, Klopfen und ähnliche Geräusche äußert. Nicht selten zerspringen Objekte wie Glühlampen oder Geschirr, oder Gegenstände bewegen sich ohne sichtlichen Grund. Häufig liegt den Erscheinungen die Ambivalenz eines pubertären Mädchens zugrunde, das darauf bedacht ist, einen Erwachsenenstatus zu erlangen und die Schuld für kindliche Haßgefühle von sich zu weisen. So entsteht eine starke Spannung zwischen dem unbewußten Bedürfnis, sich wie ein Kind zu verhalten, und dem bewußten Wunsch nach dem Erwachsensein.

Poltergeist-Phänomene sind in der Regel von kurzer Dauer und vorübergehender Natur. Sollte das Phänomen jedoch zu erheblichen interfamiliären Spannungen führen, wird das junge Mädchen die Phänomene mit der Zeit dazu benutzen, Aufmerksamkeit zu erlangen, die sie auf andere Weise nicht bekommen kann. (Dies ist einer der Gründe dafür, daß Poltergeist-Phänomene zuerst bei hysterischen Hausmädchen oder Gouvernanten beobachtet wurden; Personen von niedrigem Status, deren emotionale Bedürfnisse ignoriert wurden.)

Gelegentlich jedoch äußert der Poltergeist sich massiver, indem er schwere Möbelstücke oder andere Gegenstände rückt. Durch die Luft fliegende Gegenstände können durchaus Verletzungen hervorrufen, und mancher Poltergeist verfällt sogar darauf, Feuer zu legen. Solche Entwicklungen sollten ernst genommen werden; die schwächeren Ausprägungen dagegen, bei denen Teller zerspringen oder kleinere Objekte bewegt werden, kann man getrost als nebensächlich betrachten. Solche Erscheinungen sollten weder ignoriert noch überbewertet, sondern als Symptom eines tiefer liegenden emotionalen Problems gedeutet werden. Auf eine bedenkliche Erscheinung bei Poltergeist-Kindern muß noch hingewiesen werden: Die Aufmerksamkeit, die solche eigenartigen Phänomene hervorrufen, kommen mitunter den emotionalen Bedürfnissen des Jungen oder des Mädchens derart entgegen, daß sie von unwillkürlichen Poltergeist-Aktivitäten zur bewußten Manipulation übergehen, nachdem die erste Welle von Erscheinungen verebbt ist. Dann werfen die Kinder verstohlen Porzellan oder andere kleine Gegenstände, streiten dies jedoch ab (manche Kinder können sogar in einem Zustand somnambulischer Dissoziation handeln). Gelegentlich greifen sie sogar zur Brandstiftung. Dies ist natürlich eher ein Thema für den Psychologen oder Therapeuten als für eine parapsychologische Untersuchung. Poltergeist-Phänomene – ob bewußt oder unbewußt hervorgerufen – dürfen niemals ignoriert oder auf die leichte Schulter genommen werden. Selbstverständlich sollte man die Kinder nicht bestrafen, beschämen oder tadeln noch ihnen vorwerfen, die Phänomene vorzutäuschen. Denn die Erscheinungen, ob sie nun auf Hysterie, Somnambulismus oder tatsächliche außersinnliche Kräfte zurückzuführen sind, unterliegen nicht der Kontrolle des Kindes und sind niemals auf bewußten Vorsatz oder »unartiges« Benehmen zurückzuführen. Eine weitere Ausprägung von Poltergeist-Erscheinungen tritt nicht im Umkreis eines hysterischen oder verhaltensgestörten Kindes auf, sondern zentriert sich um einen relativ normal angepaßten Erwachsenen und ist der Ausdruck einer Spannung im parapsychologischen Bereich. In diesen Fällen ist eine unbekannte außersinnliche Kraft in Aktion getreten. Anders ausgedrückt, das Unsichtbare streckt die Hand nach der betreffenden Person aus. Aber dies fällt strenggenommen nicht mehr in das Gebiet, das dieses Buch behandelt.

Außer den hier geschilderten Fällen vgl. auch die bereits genannte Untersuchung von Carrington und Fodor sowie die Monographie von Margrave und Anstey im Journal für unerklärliche Phänomene, Herbst 1983, neu aufgelegt bei Silkie Press, San Francisco, unter dem Titel Naturgeschichte des Poltergeists.

 

Beeindruckt legte Leslie das Buch aus der Hand. Anscheinend hatte sie instinktiv richtig gehandelt, indem sie Eileen beruhigt, ihr zugleich aber nicht gestattet hatte, den Vorfall zu dramatisieren. Interessant, daß sie in der psychoanalytischen Fachliteratur nichts als freudianischen Quatsch über das Geburtstrauma gefunden hatte, eine inzwischen überholte Theorie. Und hier, in einem reißerisch aufgemachten Taschenbuch, entdeckte sie eine ernsthafte und logische Analyse des Problems und vernünftige Hinweise für den Umgang damit.

Aber warum existierte keine seriöse Fachliteratur über Poltergeister?

Vielleicht gab es solche Untersuchungen ja doch; Leslies Literaturkenntnisse waren keineswegs lückenlos. Oder ihre Kollegen standen diesem irrationalen Gegenstand so erschrocken gegenüber, daß sie das emotionale Bedürfnis empfanden, solche Phänomene zu ignorieren, selbst wenn sie vor ihren Augen geschahen.

Sie las noch einmal den Schlüsselsatz: Anders ausgedrückt, das Unsichtbare streckt die Hand nach der betreffenden Person aus. Aber das fiel, wie der Autor schrieb, nicht unter den Gegenstand seines Buches. Na, sagte sich Leslie, wenn das Unsichtbare – was immer es darstellte; sie haßte derart vage Formulierungen – nach ihr suchte, sollte es sich verdammt in acht nehmen!

Aber mein Unterbewußtsein hat mir auch mitgeteilt, was es von Joel hält. Noch einmal überflog Leslie die Seite ›Personen von niedrigem Status, deren emotionale Bedürfnisse ignoriert wurden … ‹

Ja. Joel war offensichtlich der Meinung, daß Frauen weniger wert sind als Männer, sonst wäre er nicht davon ausgegangen, daß Leslie selbstverständlich ihren Beruf aufgeben würde, um ihn bei seiner Karriere zu unterstützen. Kein Wunder, daß sie ihm den Wein ins Gesicht geschüttet hatte – entweder in einem »Zustand somnambulischer Dissoziation« oder auf andere Weise. Immer noch schreckte sie innerlich vor der unglaublichen Vorstellung zurück, ihr Geist allein könnte ohne Zutun einer physischen Kraft das Glas geschleudert haben.

Sinnlos, diese Gedanken weiter zu wälzen. Leslie würde versuchen, die anderen Quellen aufzutreiben, auf die der Autor sich bezog, selbst wenn sie dazu noch einmal den seltsamen kleinen Buchladen aufsuchen und die Frau mit dem Drudenfuß fragen mußte. In der Zwischenzeit würde sie sich bei Eileens Poltergeist nach den Anregungen des Autors richten. Aber erst einmal mußte sie sich für das Gespräch mit Judy Attenbury und ihrer Mutter wappnen.