5

 

 

Eileen kam fast zehn Minuten zu spät. Sie trug ein Kapuzensweatshirt, in das sie den Kopf wie eine Schildkröte zurückgezogen hatte. Schlechtgelaunt trat sie ins Büro und ließ sich schnaubend auf ihrem Stuhl nieder.

»Bist du erkältet, Eileen?«

Schnief. »Kann sein.«

»Da steht eine Schachtel Papiertücher.«

Schweigend nahm Eileen eine Handvoll und putzte sich die Nase.

Kein Wort. Schnief. Für gewöhnlich ließ Leslie ihre Patienten, besonders die Jugendlichen, selbst entscheiden, ob und worüber sie redeten. Schließlich sprach sie Eileen in festem Tonfall an. »Hattest du noch einmal Probleme mit zerbrochenem Geschirr?«

Ich muß wissen, ob sie der Poltergeist ist – sonst bleibe nämlich nur noch ich als Kandidat.

»Ja«, antwortete Eileen endlich. »Vor kurzem hab’ ich abends ein halbes Service zerschlagen. Mein Vater« – aus ihrem Mund klang das Wort gehässig – »hat gesagt, er wär’s jetzt leid, und er würde mir das Geld für die Teller vom Taschengeld abziehen. Er hat mir nur drei Dollar für die ganze Woche gegeben. Drei lausige Bucks! Als ich ihm sagte, dafür könnte ich mir nicht mal was zu essen kaufen, hat er gemeint, dann müßte ich mir eben Brote schmieren. Ich hab’ mir ein Sandwich mit Roastbeef gemacht, und die alte Mattison – das ist die bescheuerte Haushälterin – hat mich angeschrien, weil sie die Reste für ihr Abendessen wollte. Also habe ich’s ihnen gezeigt …« Eileens Augen glitzerten verschlagen. »Dreimal habe ich Mom angerufen – Ferngespräche nach Texas. Mein Alter hat mir den Hörer aus der Hand gerissen und Mom angebrüllt, sie soll meine Anrufe gefälligst selbst bezahlen, und hat aufgelegt.«

Rotnasig blickte Eileen aus ihrem hochgezogenen Kragen. Der Vater spielt seiner Tochter in die Hände, überlegte Leslie. Erst läßt er zu, daß sie die ganze Familie manipuliert, und wenn es dann zu spät ist, reagiert er mit Strafen.

»Da warst du wohl sehr böse auf ihn?«

»Und ob. Ich hab’ ein Recht, meine eigene Mutter anzurufen. Mann, wir sind schließlich nicht pleite! Ich hab’ das Roastbeef aufgegessen, und die alte Matty sagte, dann müßte ich morgen eben Erdnußbutter mit zur Schule nehmen. In dem Moment ist das Glas von der Küchentheke gefallen und zerplatzt. Die Pampe war überall.« Das Mädchen grinste hämisch. »Matty, die alte Kuh, hat gekreischt, ich soll den Mist aufwischen. Da hab’ ich gesagt, von wegen, hab’ ich gesagt, dafür bezahlt mein Dad doch Sie, und bin aus der Küche marschiert. Da ist mein Vater dann auch wütend geworden und hat gedroht, ich müßte den ganzen Haushalt selbst machen, wenn ich die Alte so ärgere, daß sie kündigt. Aber er kann mich nicht dazu zwingen, oder? Es gibt doch bestimmt Gesetze gegen Kinderarbeit.«

»Ich glaube aber kaum, daß diese Gesetze sich auf Mithilfe im Haushalt beziehen«, bemerkte Leslie taktvoll. »Vielleicht solltest du deinen Vater nicht allzu sehr provozieren, sonst stellst du am Ende noch fest, daß er seine Drohung ernst gemeint hat. Hast du das Glas Erdnußbutter mit Absicht auf den Boden geworfen, weil du keine Schulbrote mitnehmen wolltest?«

In Eileens Blick mischten sich Trotz und Furcht. »Die Alte behauptet, ich wäre das gewesen, und sie hätte alles gesehen. Aber das stimmt nicht.« Eileen schaute Leslie ängstlich an. »Hätte ich das vorgehabt, dann hätte ich ihr das Glas auf ihren dicken Schädel geschlagen, weil sie mich so angeschrien hat. Aber ich stand fast einen Meter von dem Glas entfernt. Genau wie letztes Mal. Mit dem …« Eingeschüchtert wandte sie sich zur Seite und schaute auf den Aschenbecher. »Wissen Sie noch?«

Leslie nickte. »Ja, ich erinnere mich. Ich habe es auch gesehen. Weil es tatsächlich geschehen ist, Eileen.«

Jetzt verlor das Mädchen völlig die Fassung. »Aber wie ist denn so was möglich? Es ist echt passiert, aber mein Vater hat mir nicht geglaubt. Die Sache mit den Tellern, meine ich. Wenn ich was kaputtmachen wollte, dann bestimmt nicht Moms Teller, weil ich das Geschirr nämlich gern hab’. Mom hatte es schon, da war ich noch ganz klein. Es sieht aus wie chinesisches Porzellan, bloß dunkelrosa.« Das Mädchen brach in Tränen aus. »Ich wollte mit irgendwas werfen, aber nicht mit Moms Tellern, ehrlich. Ich dachte immer, wenn sie wieder nach Hause kommt, wartet das alte Geschirr auf sie.« Das Mädchen weinte nun hemmungslos. »Aber dann ist es zerbrochen. Ein Teil nach dem anderen ist in die Spüle gerutscht und in Scherben gegangen …«

Schluchzend und schniefend verstummte Eileen, nahm wieder einige Papiertücher und schneuzte sich lautstark. »Und Sie glauben mir jetzt wahrscheinlich auch nicht, stimmt’s?«

»Doch, ich glaube dir«, versicherte Leslie dem Mädchen. »Ein Teil von dir wollte irgendwas zerschlagen und das Geschirr deiner Mutter zerbrechen. Du bist sehr wütend auf deine Mom, weil sie dich verlassen hat, stimmt’s?«

Eileen hob den Kopf und schaute Leslie ängstlich an.

»Ja. Manchmal sag’ ich mir, Mom, sag ich mir, wenn du jetzt zurückkommen würdest, würde ich dich anspucken und schreien! Ich brauch’ dich nicht mehr, Mom!«

»Und ein anderer Teil von dir hat sich erwachsen und verantwortungsvoll verhalten und dir gesagt, du sollst deine Wut nicht an den Tellern auslassen. Aber dein inneres Kind war wütend auf deine Mutter, und sie war nicht da. Also hat dein inneres Kind weiter das Porzellan zerschlagen, während der erwachsene Teil gesagt hat, du sollst damit aufhören. Warum machst du eigentlich nicht die Sachen deines Vaters kaputt? Schließlich bist du wütend auf ihn.«

»Ich tue das doch nicht mit Absicht«, kreischte Eileen. »Ich dachte, Sie glauben mir!«

»Ich glaube dir«, erwiderte Leslie. »Ich habe nicht gesagt, daß du mit den Tellern geworfen hast.«

»Das hab’ ich auch nicht! Ich habe Angst gekriegt und wollte, daß es aufhört. Aufhören, aufhören, hab’ ich geschrien, aber es ging immer weiter …« Um Eileens rote Nase herum war ihr Gesicht kalkweiß geworden.

»Ich weiß, daß du das Geschirr nicht angerührt hast. Aber ein Teil deines Bewußtseins wollte es zerschlagen. Wie vor kurzem bei dem Aschenbecher«, erklärte Leslie gelassen. »Ich weiß, daß du den Aschenbecher nicht angerührt hast. Aber ein Teil von dir hat ihn geworfen, obwohl du selbst erschrocken und entsetzt darüber warst.«

Zittrig nickte Eileen. »Ja. Als würde ich neben mir stehen und mir dabei zugucken, wie ich mit den Tellern werfe. Woher kommt so was, Dr. Barnes? Wie kriegt man so was?«

»Selbst die bedeutendsten Psychiater der Welt wissen nicht genau, was dahintersteckt, Eileen. Aber vielleicht können wir beide herausfinden, warum es bei dir geschieht. So was passiert nämlich bei vielen Menschen, und meist bei Mädchen deines Alters. Man nennt es einen ›Poltergeist‹ …«

»Ich hab’ mal einen Film über Poltergeister gesehen«, unterbrach Eileen. Sie war blaß geworden. »Und … und die anderen Sachen, passieren die auch? Meinen Sie, unser Haus steht an einer Stelle, wo Leute von irgendeiner Sekte oder so begraben sind, und könnte ich … von denen gefangen werden? So wie in dem Film. Der war echt gruselig.«

Entschieden schüttelte Leslie den Kopf. »Wer immer diesen Film gedreht hat, hat bloß Gefallen an dem Namen ›Poltergeist‹ gefunden. Aber er hat alle möglichen außersinnlichen Phänomene in einen Topf geworfen und sie in einem einzigen Film untergebracht. Ein Poltergeist ist etwas ganz anderes. Eigentlich ist es gar kein Geist. Zumindest darüber ist die Wissenschaft sich einig. Die Erscheinungen, zum Beispiel Lärm – oder Teller, die durchs Zimmer fliegen, wie bei dir –, diese Erscheinungen werden durch dein Unterbewußtsein hervorgerufen, und das ergeht vielen Menschen so.«

»Dann passiert das wirklich?« Eileen war von neuem in Tränen ausgebrochen. »Was hatte ich für eine Angst! Ich dachte, ich würde wahnsinnig, oder alle Leute würden Lügen über mich erzählen … oder daß alle anderen verrückt geworden sind, eben weil sie all diese Sachen erzählten, obwohl ich doch wußte, daß ich nichts getan hatte. Zum Schluß hab’ ich mich gefragt, ob ich es doch getan habe und so durcheinander bin, daß ich mich gar nicht mehr daran erinnere. So was passiert also auch Leuten, die nicht verrückt sind und nicht … nicht …« Ängstlich unterbrach sich das Mädchen und warf Leslie einen Seitenblick zu.

»Sprich ruhig weiter«, ermutigte Leslie sie.

»Ich meine, auch normalen Leuten, die nicht so verdreht sind, daß sie ständig beim Gehirnklempner sitzen müssen, damit sie wieder in Ordnung kommen.«

Der Satz stand zwischen ihnen in der Luft. Wenn Eileen so über mich denkt, wundert es mich nicht, daß sie sich so feindselig verhält, dachte Leslie. Aber sie wußte, daß genau das die unausgesprochene Botschaft aller Eltern an sämtliche Psychologen war: Hier ist mein Kind, das sich nicht so verhält, wie ich es gern möchte. Nehmen Sie es und machen Sie den Sohn oder die Tochter daraus, die ich mir wünsche.

Allerdings hätte Eileen nichts davon, wenn Leslie jetzt ihren Berufsstand verteidigte und dem Mädchen dessen Stärken und Schwächen auseinandersetzte.

»Eines wissen wir über Poltergeister: Fast jeder Mensch, der damit zu tun bekommt, wird von einem unlösbaren Problem gequält. Wenn er auf andere Weise damit fertig werden könnte, würde sein Unterbewußtsein sich gar nicht erst einschalten – das, was ich den kindlichen Teil von dir genannt habe, Eileen. Aber für gewöhnlich befinden diese Leute sich in einer Situation, die man ›Double-Bind‹ nennt. Das heißt, daß sie einfach nichts richtig machen können. So wie du. Du bist sehr wütend auf deine Mutter, weil sie dich verlassen hat, und auf deinen Vater ebenfalls. Aber du kannst nicht einfach weggehen und dich selbständig machen, weil du noch ein Mädchen bist und Eltern brauchst. Menschen, die sich in dieser Art von Double-Bind befinden, können ihrer Wut auf keine andere Art und Weise Ausdruck verleihen. Also schaffen sie sich einen Poltergeist, der das für sie übernimmt.«

»Sie meinen, ich hätte das selbst verursacht? Ich wollte doch, daß es aufhört! Ich … ich habe geschrien, daß es aufhören soll …« Eileen verstummte und überlegte. »Aber irgendwie wollte ich den anderen auch Angst einjagen, ihnen ordentlich eins auswischen.«

Leslie schwieg, um das Mädchen zum Weiterreden zu ermutigen. Sie hatte schon befürchtet, Eileen das alles zu schnell an den Kopf geworfen zu haben.

»Zum Beispiel im Schulorchester … die Sache mit den Geigensaiten. Ich war stinkwütend auf die anderen Kinder und auf den Lehrer. Aber ich konnte nichts sagen, sonst hätte der Lehrer mich aus dem Orchester geworfen. Und das kann ich mir nicht mehr leisten. Wenn man ein Fach so spät abwählt, kriegt man ein Ungenügend fürs ganze Halbjahr. Ich war heilfroh, als die Saiten zersprungen sind und alle sehen konnten, daß ich nichts damit zu tun hatte.«

Plötzlich bekam Eileen es wieder mit der Angst zu tun. »Aber es passiert trotzdem, obwohl ich nicht verrückt bin, und es hört einfach nicht auf! Wie kann ich das stoppen?«

Wer bin ich, daß ich dem Mädchen raten will? Hätte ich den Mumm besessen, Joel das verdammte Glas Wein selbst ins Gesicht zu schütten, hätte ich wahrscheinlich auch keinen Poltergeist gebraucht.

»Erst mal möchte ich, Eileen, daß du jetzt an den Vorfall mit den Tellern zurückdenkst und mir genau sagst, was du empfunden hast. Offenbar hast du dich in einer klassischen Double-Bind-Situation befunden. Du wärst entweder durch dein eigenes Tun oder durch das Tun anderer in eine Lage geraten, in der jede Handlung von dir falsch sein würde …«

»Ich verstehe, was Sie meinen«, gab Eileen schniefend zurück. »Egal, was ich anstellte, irgend jemand würde wütend auf mich sein. Und wenn ich bloß dagesessen und gar nichts getan hätte, wäre ich durchgedreht, weil alle über mich hergefallen wären. Ich konnte einfach nichts Richtiges tun …«

»Und du hattest das Gefühl, daß du den Zorn der anderen nicht mehr ertragen konntest …«

»Letztes Mal, als alle sauer auf mich waren, ist meine Mutter weggegangen. Und mein Vater war wütend, weil Mom mich ihm aufgehalst hat, obwohl er unbedingt wollte, daß sie mich mitnimmt …«

Leslie hörte zu, wie Eileen die altbekannte Situation ein weiteres Mal abspulte. So wie es aussah, konnte sie keinem Elternteil wirklich die Schuld geben, weder der freiheitssüchtigen Mutter noch dem Vater, der sich jahrelang gefühlsmäßig von seiner Familie zurückgezogen und in seinem Beruf vergraben hatte und nun mit einem Mal mit der ganzen Verantwortung für eine problematische, emotional ausgehungerte Tochter dastand. Alle drei hätten andere Möglichkeiten finden sollen, ihre Gefühle auszuleben. Aber in dieser Gesellschaft, die sich auf die Kleinfamilie als alleinseligmachende Familienstruktur festgelegt hatte, war es unvermeidlich, daß die Mutter ausbrach und wieder heiratete, der Vater blieb und arbeitete und die Tochter zwischen beiden in der Schwebe hing.

»Ich liebe meinen Dad. Aber ihm wäre lieber, wenn ich in Texas wohnen würde, bei Mom.«

»Wie kommst du darauf, Eileen?«

»Na ja, er schreit mich dauernd an.« Das Mädchen hielt inne. »Aber trotzdem hat er mich am Hals, nicht wahr? Und er bezahlt mein Schulgeld und meine Geigenstunden und alles. Ich schätze, er hat’s auch nicht leicht.«

Mit diesem kurzen Moment der Objektivität mußte Leslie sich zufriedengeben. Vielleicht würde Eileen Verständnis entwickeln, oder die Einsicht würde wieder im Meer ihres gewaltigen Selbstmitleids versinken – die Erkenntnis, daß ihr Vater, ob er sie nun liebte oder nicht, zumindest seine Pflicht erfüllte, während ihre Mutter, die behauptete, das Mädchen zu lieben, es praktisch im Stich gelassen hatte. Möglicherweise lernte Eileen, ihre eigenen Haßgefühle und die ihres Vaters zu begreifen. Wenn nicht, hatte sie zumindest einen Schimmer der Wahrheit gesehen.

Eileen erzählte nun wieder von der Angst, die ihr die zerspringenden Geigensaiten und die klirrenden Teller eingejagt hatten, ließ eine weitere selbstgerechte Tirade vom Stapel und erging sich in Selbstmitleid. Leslie lauschte ihr gelassen. Das Mädchen hatte einen kurzen Moment der Einsicht erlebt, und vielleicht konnte man für einen Tag nicht mehr erwarten. Jetzt konnte Leslie nichts weiter für sie tun, als ihr zuzuhören. Es war eine Schande, daß man in dieser Gesellschaft dafür bezahlen mußte, jemandem seine Probleme zu erzählen – aber zumindest hörte ein Psychologe gewissenhaft zu. Am Ende der Sitzung unterbreitete sie Eileen einen einfachen Vorschlag.

»Wenn so etwas noch einmal passiert, versuch es zu kontrollieren. Probier mal, die Kraft so zu lenken, wie du willst. Diese Macht gehört dir, deshalb solltest du in der Lage sein, ihr zu befehlen statt zu erlauben, daß sie dir Angst einjagt.«

Eileen warf Leslie bloß einen niedergeschlagenen Blick zu. »Also dann, bis Dienstag.«

Wenig später lauschte Leslie dem einzigen anderen Patienten an diesem Abend. Wieder kam ihr der Gedanke, was für ein Verbrechen es war, daß man heutzutage Menschen bezahlen mußte, damit sie einem zuhörten. Leonard Hay suchte Leslie seit vier Monaten regelmäßig auf, und seitdem erklärte er abwechselnd, er sei stolz darauf, homosexuell zu sein, um beim nächsten Mal darüber zu klagen, daß er sich schuldig fühle, weil er seine Frau verlassen wolle. Leonard hatte sie aus falschen Beweggründen geheiratet – in einem letzten Versuch, sich seine Männlichkeit zu beweisen und Zuneigung zu finden.

Leslie hörte sich seine immer gleichen Klagen an, doch als Psychologin konnte sie nur wenig für Leonard tun, außer ihm mitfühlend ihr Ohr zu leihen. Zumindest ein Teil seiner Probleme war sozialer Art und rührte daher, daß ein Mann in seiner Lage sich nicht einfach einem alten Schulkameraden oder einem wohlmeinenden Verwandten anvertrauen konnte. Vor lauter Angst, selbst in den Ruch der Homosexualität zu kommen, hätte niemand gewagt, sich ernsthaft mit Leonards Problemen auseinanderzusetzen.

»Aus Ihren Worten höre ich heraus, daß Sie einfach zu keiner Entscheidung gelangen können«, erklärte Leslie – so wie mindestens einmal während jeder bisherigen Sitzung.

»So ist es, Leslie. Sie treffen genau den Punkt. Jeder Entschluß, den ich treffe, muß zwangsläufig irgendwie falsch sein.«

»Und wenn Sie gar nichts tun, ist das auch nicht richtig«, fügte Leslie hinzu, obwohl sie wußte, daß Leonard noch nicht bereit war, diese Worte zu hören. Wenn er einer Entscheidung aus dem Weg ging, konnte ihm wenigstens niemand etwas vorwerfen. Die Unfähigkeit, für seine Entschlüsse einzustehen, hatte Leonard in Leslies Praxis geführt. Sie konnte ihm höchstens dabei helfen, endlich einzusehen, daß er auch für seine Tatenlosigkeit die Verantwortung übernehmen mußte.

»Was könnte denn passieren, würden Sie eine falsche Entscheidung treffen?« fragte Leslie, löste damit aber nur eine weitere Sturzflut von Klagen aus: Leonard hatte schreckliche Angst davor, daß alles falsch sein könnte, was er tat; wenn er gar nichts unternähme, erklärte er, richte er wenigstens keinen Schaden an, während eine falsche Entscheidung sein ganzes Leben zerstören könne.

Der arme Kerl ist bereits auf dem besten Weg, sein Leben zu ruinieren, dachte Leslie. Aus tiefstem Herzen verfluchte sie seine frühkindliche Sozialisation, in deren Verlauf Leonard gelernt hatte, niemals ein Risiko einzugehen. Aber solange er nicht erkannte, daß er sein Chaos selbst schuf, konnte Leslie ihm das nicht begreiflich machen.

Und selbst wenn er soweit gelangte, löste das noch nicht Leonards Konflikt mit der Gesellschaft, die jeden Menschen ordentlich in eine kleine Schublade steckte: Macho oder Schwächling, hetero- oder homosexuell, falsch oder richtig. Leslie konnte ihren Patienten helfen, eigene Entscheidungen zu treffen, konnte aber nicht die Umwelt verändern, die darauf bestand, daß jeder sich in einer dieser Schubladen einrichtete.

Als sie Leonard zur Tür brachte und hinter ihm abschloß, hatte sie das Gefühl, ihr Double-Bind mit Joel stehe vielleicht symbolisch für ihre zwiespältige Beziehung zu ihrem Beruf.

Warum kann ich nichts für diese Menschen tun, außer ihnen zuzuhören? Leslie ging in die Küche, um ihr Abendessen zuzubereiten. Als sie schließlich am Tisch saß und in Rührei und Tomatenscheiben stocherte, setzte sie ihre düsteren Überlegungen fort. Sie hatte das Gefühl, beruflich in einer Sackgasse zu stecken.

Nun ja, zumindest lieh sie ihren Patienten mitfühlend ihr Ohr, ohne zu nörgeln, sie zu kritisieren oder zu Entscheidungen zu drängen. Und sie bewahrte die Leute davor, auf den Behandlungsliegen von Psychiatern zu landen, die ihre Patienten fünf bis fünfzehn Jahre lang ihre unterdrückten infantilen Sexualimpulse erforschen ließen, ohne die Symptome zu untersuchen, die diese Menschen zum Therapeuten geführt hatten.

Das Telefon klingelte, doch als Leslie abnahm, war niemand am Apparat. Hatte jemand sich verwählt? Kaum hatte Leslie sich diese Frage gestellt, klingelte es wieder, und diesmal vernahm sie das schwere, nicht-menschliche Atmen. Leslie knallte den Hörer auf die Gabel. Als der Apparat von neuem schrillte, ließ sie ihn klingeln. Sie mochte das Telefon nicht noch einmal anrühren. Es läutete zwölfmal, bis endlich Ruhe war.

Aber als es kurz vor Mitternacht wieder klingelte, nahm Leslie seufzend ab. Wenn Emily abends allein unterwegs war, konnte sie das Telefon nicht einfach ignorieren.

»Das wird dir noch leid tun, du Schlampe«, sagte die unartikulierte Stimme am anderen Ende der Leitung; dann klickte es, als aufgelegt wurde, und Leslie stand mit dem Hörer in der Hand da und vernahm nur noch das Freizeichen.

Was, in aller Welt, sollte das?

Joel? Die Stimme war der seinen nicht unähnlich, doch Leslie konnte einfach nicht glauben, daß er so etwas tun würde. Nicht einmal in betrunkenem Zustand.

Ein dummer Streich? Ja, bestimmt ein Mann, der von seinem Frauenhaß verzehrt wurde. Wag es bloß nicht, noch einmal anzurufen, dachte Leslie mit einem bösen Blick auf den Apparat. Dann kochte sie sich noch einen Tee vor dem Schlafengehen.

Kurz nach Mitternacht klingelte das Telefon wieder. Leslie wappnete sich gegen weitere Beschimpfungen und seufzte dann erleichtert, als sie Emilys Stimme hörte.

»Les? Das Konzert hat lange gedauert, und ich wollte nicht, daß du dir Sorgen machst. Ich stehe an der BART-Station am Civic Center und bin mit der Schnellbahn in einer halben Stunde zu Hause.«

»Okay, Kleine. Danke, daß du angerufen hast.« Sie schaltete die Herdplatte unter dem Wasserkessel auf »Warmhalten«, legte einen von Emilys Kräuter-Teebeuteln auf eine Untertasse und häufte eine Handvoll Kekse auf einen Teller. Dann ging sie zu Bett. Sie war beinahe eingeschlafen, als sie Schritte auf der Treppe hörte.

»Emily?«

Keine Antwort. Plötzlich war Leslie hellwach. Sie stand auf und eilte zur Schlafzimmertür. Auf der Treppe war niemand zu sehen. Hatte irgend jemand, der auf der stillen Straße vorüberging, das Geräusch verursacht? Ach, verdammt, jetzt benehme ich mich wie die typische alte Jungfer und suche am Ende noch unter dem Bett nach Einbrechern, die es nicht gibt. Ihr fiel auf, daß einer der Körbe mit der Aufschrift »Bring mich nach oben/unten« umgefallen war. Emily und sie benutzen die Behälter, um herumliegende Gegenstände einzusammeln und sie an ihren Bestimmungsort in Küche, Diele oder Waschküche zurückzubringen. Über fünf oder sechs Treppenstufen lagen überzählige Schuhe, Bücher, einzelne Strümpfe, Kleidungsstücke und Teller verstreut.

Wer hat den Korb umgeworfen? Die Möglichkeit, daß sie selbst es auf ihrem Weg nach oben fertiggebracht hatte, schloß Leslie aus -hätte sie einen Behälter mit Tellern, Büchern oder Schuhen umgetreten, wäre ihr das mit Sicherheit aufgefallen. War tatsächlich ein Fremder die Treppe hinaufgeschlichen und hatte sich rasch im Bad oder in Emilys Schlafzimmer versteckt? Sie schaute im Flur nach und überprüfte die Tür des Wäscheschranks – Einbrüche kamen immer wieder vor. Aber sie war sich sicher, daß sie den Riegel vorgeschoben hatte, ehe sie nach oben gegangen war. Nachdenklich hob sie die verstreut liegenden Gegenstände auf, brachte den Korb in die Diele und schaute nach, ob die Tür verschlossen war. Ja, sie war zweimal abgeschlossen und der Riegel von innen vorgeschoben. Leslie ging nach hinten, um die Küchentür zu überprüfen. Auch die war fest verschlossen und verriegelt.

Trotzdem ist der Korb umgefallen, und du hast Schritte gehört.

Obwohl Leslie sich am liebsten selbst ausgelacht hätte, suchte sie das schwere Nudelholz, das sie aus Sacramento mitgebracht hatte, und schlich nach oben, um jedes Zimmer zu überprüfen. Mit dieser Keule konnte sie mit jedem Eindringling fertig werden, es sei denn, er war bewaffnet und schießwütig. Leslie selbst hielt nichts davon, eine Pistole im Haus aufzubewahren. Sie wußte nur zu gut, daß die meisten Waffen am Ende nicht gegen Einbrecher oder Räuber eingesetzt wurden, sondern – irrtümlich oder im Verlauf eines Streits – gegen eigene Familienangehörige.

Die Treppe war leer. Auch in der Diele war niemand zu entdecken. Leslie hörte ihren eigenen Atem. Sie hatte den Korb wieder nach oben getragen und auf den Treppenabsatz gestellt. Vorsichtig öffnete sie die Badezimmertür, spähte hinein und knipste das Licht an. Bis auf Emilys klatschnasses Badetuch vom heutigen morgen war alles an seinem Platz. Das Badetuch gehörte allerdings nach unten in den Wäschetrockner. Leslie warf es in den Korb und trat in Emilys winziges Zimmer.

Es war perfekt aufgeräumt. Leslie mußte an das Chaos denken, das sie als Teenager in ihrem Zimmer verbreitet hatte, und war froh, daß Emilys Widerspruchsgeist, der sich in Perfektionismus ausdrückte, zumindest leichter zu ertragen war als das Gegenteil. Dann stockte ihr der Atem. Auf der Treppe hörte sie ein Knirschen und Ächzen – Schritte! Da kam jemand! Sie umklammerte das Holz.

»Emily?«

Nichts.

Leslie packte den Teigroller so fest, daß ihre Knöchel weiß hervortraten. Wieder hörte sie ihren eigenen Atem, den einzigen Laut im ganzen Haus. Der Korb, den sie auf den Treppenabsatz gestellt hatte, war umgefallen. Das Handtuch lag auf halber Höhe der Stufen.

Vor ihrem inneren Auge sah sie ein Glas Wein, das in Joels verblüfftes Gesicht flog. Schon wieder ihr Poltergeist? Sehr wahrscheinlich. Sie hob den Korb und das nasse Tuch auf.

Wieder Schritte. Kamen sie von drinnen oder draußen? Als der Türknopf sich drehte, hielt Leslie den Atem an.

»Emily?« fragte sie kaum hörbar.

»Wer sollte sonst zu dieser nächtlichen Stunde hier aufkreuzen? Dein Märchenprinz?« erwiderte Emily und schloß sorgfältig die Tür hinter sich ab. »Wieso bist du noch auf, Leslie? Hast du etwa auf mich gewartet?« Ihre kleine Schwester wirkte müde und verärgert. Ohne sich zu Leslie umzudrehen, zog sie ihre Pumps aus und warf sie in den Korb am Fuß der Treppe. »Autsch! Meine Füße bringen mich noch um. Ich werde nie begreifen, warum Platzanweiserinnen hochhackige Schuhe tragen müssen. Die Männer würden streiken, wenn man von ihnen verlangte, in solchen Dingern zu arbeiten!«

»Tja, dann sollten die Frauen sich vielleicht dagegen zusammenschließen«, meinte Leslie auf dem Weg nach unten. Emily starrte auf das Nudelholz in ihrer Hand.

»Was ist los, Les?«

»Nichts. Ich dachte, ich hätte Schritte im Haus gehört, aber das war wohl doch jemand, der auf der Straße vorüberging.« Sie wandte sich ab, damit Emily ihr bleiches Gesicht nicht sah, und brachte das Holz zurück in die Küche. Emily folgte ihr.

»Das sieht dir aber gar nicht ähnlich, Leslie. Wie es aussieht, bist du ziemlich mit den Nerven runter. Du solltest wirklich Baldrian nehmen. Ein rein pflanzliches Beruhigungsmittel, vollkommen unschädlich. Ich habe ein paar Kapseln.«

Leslie schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Es geht schon wieder.«

»Oh, schön, das Wasser ist noch heiß.« Emily goß es über ihren Teebeutel und stopfte sich einen Keks in den Mund. »Dann koche ich dir wenigstens eine Tasse Kamillentee. Schmeckt gut und beruhigt.« Das Mädchen wartete nicht auf Leslies Antwort. Aus einem Behälter auf der Küchenanrichte nahm sie einen zweiten Teebeutel und gab Wasser in eine weitere Tasse, die sie Leslie reichte. Ein Duft wie nach Heu stieg von dem Tee auf. Vorsichtig nippte Leslie daran und fand den Geschmack überraschend angenehm.

»Kamille, sagst du?« Rainbow, die junge Frau aus dem Buchladen, hatte diesen Tee ihrem Baby gegeben. »Schmeckt gut. Danke, Emily.«

»Was ist denn nun passiert?«

Leslie berichtete ihrer Schwester von den umgestürzten Körben und den Schritten, die sie auf der Treppe gehört hatte. »So was habe ich noch nie erlebt«, sagte sie. »Ich konnte fast fühlen, wie die Stufen vibrierten. Und eine Erklärung für die umgefallenen Körbe habe ich auch nicht.«

Emily zuckte die Achseln. »Vielleicht hatten wir ein winzig kleines Erdbeben. Wir leben schließlich in Kalifornien. Wenn der Korb nahe am Rand der Treppenstufe stand, hätte jeder Luftzug ihn umgeworfen.« Gähnend spülte sie ihre Tasse aus und legte sie in den Geschirrspüler. »Und wie fühlst du dich jetzt? Noch so nervös?«

Leslie stand auf und stellte ihren Teebecher in die Spüle. »Geht schon wieder«, sagte sie und hatte das Gefühl, sich dumm benommen zu haben.

Die Schwestern verließen die Küche, als das Telefon klingelte. Gebieterisch schrillte es durch das stille Haus.

»Um diese Zeit? Mein Gott, hoffentlich ist nichts mit Mommy!«

Emily stürzte in die Küche zurück und rannte Leslie dabei fast um. Hektisch nahm sie den Hörer ab.

»Hallo? Hallo? Verdammt noch mal, ist da jemand?« Sie knallte den Hörer auf die Gabel. Ihr Gesicht war kalkweiß.

»Schon wieder dieser Spinner! Les, wir sollten uns eine Geheimnummer geben lassen. Ich dachte schon, Mommy hätte einen Herzanfall oder so etwas …« Sie schluckte heftig, und Leslie trat zu ihr und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

»Das geht nicht, Em. Ich muß für meine Patienten erreichbar sein. Ich könnte die Sache bei der Telefongesellschaft melden, aber viel können die nicht unternehmen. Der anonyme Anrufer hat schließlich keine Drohungen oder Obszönitäten von sich gegeben.«

Dann fiel ihr wieder die kalte Stimme ein. Das wird dir noch leid tun, du Schlampe, hatte der Fremde gemurmelt. Kein Grund, Emily noch mehr Angst einzujagen, sagte sie sich. Der Anrufer hegte offenbar einen echten oder eingebildeten Groll gegen sie persönlich oder die ganze Welt. Wahrscheinlich war er selbst eher ein Opfer als ein Täter – einer von Hunderttausenden, denen die Gesellschaft so übel mitgespielt hatte, daß kein vernünftiger Mensch sie für ihre Handlungen zur Verantwortung ziehen konnte. Aber wer immer der Mann war – Leslie wünschte, er würde seinen Zorn an den wirklich Schuldigen auslassen.

Sie rief sich ins Gedächtnis, daß anonyme Anrufer nicht zu Gewalttaten neigten; sie waren ein ängstlicher Menschenschlag, der Konfrontationen fürchtete. Und wie konnte sie nach ihren Poltergeist-Erfahrungen andere Menschen ihrer unbewußten Aggressionen wegen verurteilen?

»Vergiß es, Em. Ist ja nichts passiert. Laß uns schlafen gehen.«

Emily knipste das Licht in der Küche aus und folgte Leslie. Sie waren die Treppe halb hinaufgestiegen, als die Türklingel ging. In der nächtlichen Stille klang der Summer erschreckend laut.

Um diese Uhrzeit? Das muß etwas Wichtiges sein. Die Polizei vielleicht. Ein Unfall

Leslie rannte die Treppe hinunter und spähte durch die Glasscheibe. Die Veranda war verlassen. Emily war ihr gefolgt.

»Wer ist da, Les?«

»Niemand, wie es aussieht.«

»Aber irgend jemand muß doch den Klingelknopf gedrückt haben!« protestierte Emily. »Es sei denn, deine blöden Poltergeister schellen ebenfalls. Können sie das?«

Ein Gefühl, das Zorn und Angst zugleich war, schnürte Leslie die Kehle zu. Bin ich das etwa selbst? Tue ich mir – und Emily – das an? »Ich glaube eher, daß irgendwelche Jugendlichen uns einen Streich gespielt haben. Allerdings keinen besonders witzigen.« Sie löschte das Licht und ging nach oben. Emily folgte ihr dichtauf. Leslies kleine Schwester wirkte eingeschüchtert, was ihr gar nicht ähnlich sah.

»Und wenn da draußen wirklich jemand steht, Les? Ich meine, man weiß doch, wie es in der Großstadt zugeht. Die Leute klingeln an deiner Tür, und wenn du aufmachst, überfallen sie dich. Straßenräuber, Vergewaltiger …«

»Da ich die Tür nicht geöffnet habe, dürfte es den Verbrechern schwerfallen, uns auszurauben oder Gewalt anzutun«, entgegnete Leslie begütigend. »Und ich habe nicht die Absicht, vor die Tür zu gehen, außer ich erkenne die Person, die draußen steht. Keine Bange, Emily. Das ist nur so ein Spinner …«

»Keine Bange? Weißt du eigentlich, wie blaß du warst, als du mit dem Nudelholz in der Hand dagestanden hast? Zuerst der anonyme Anrufer, und dann klingelt es, und niemand ist an der Tür. Falls jemand das mit Absicht tut – warum

Leslie war ins Grübeln gekommen. Telefonterror? Oder meine eigenen unbewußten Haßgefühle, die sich durch Poltergeist-Aktivität äußern? Vielleicht sollte ich mich an einen Fachmann wenden. Aber an wen? Die meisten Therapeuten würden sich entweder vor Lachen ausschütten oder vermuten, daß ich paranoid bin und jeden Bezug zur Realität verloren habe.

Wieder klingelte des Telefon. Emily stieß eine unflätige Beschimpfung aus, hob ab und legte gleich darauf resigniert seufzend auf.

»Der Typ schon wieder«, erklärte sie. »Idiot. Ich leg’ den Hörer neben den Apparat, Leslie, sonst kriegen wir beide heute nacht kein Auge mehr zu.«

Das löste zwar nicht das Problem; trotzdem nickte Leslie zustimmend. Immer noch ließ der Gedanke an die kalte, unartikulierte Stimme, die Schlampe gemurmelt hatte, ihr das Blut in den Adern gefrieren. Aber zumindest war bewiesen, daß sie nicht unter Verfolgungswahn litt. Emily hatte den Anrufer ebenfalls gehört, also bildete sie sich nichts ein. Leslie ging auf ihr Zimmer und ignorierte das Summen des Telefons und die deutlich vernehmbare Tonbandstimme – »Bitte legen Sie den Hörer auf …« Dann war es endlich still. So würde sie wenigstens nicht während der Nacht geweckt.

 

Graue Dunstfetzen trieben durch das finstere Zimmer. Leslie lag im Dunkeln und spürte, wie der Nebel über ihr Gesicht strich. Ein blasses, unheimliches Licht fiel herein, und mit seiner Hilfe konnte Leslie an den Wänden verschwommen die Umrisse von Gemälden ausmachen. Als sie eingezogen waren, hatten diese Bilder noch nicht hier gehangen. Sie waren kaum mehr als grobe, obszöne Schmierereien: die hingekritzelte Zeichnung einer Frau mit gespreizten Beinen, deren Vulva in einem schmutzigen Blutrot gemalt war, und ein von unzähligen Schwertern durchbohrtes Herz. Verwirrt wandte Leslie den Blick ab. Sie fühlte sich krank und zu schwach, um sich zu bewegen. In trägen Spiralen trieb der grünliche Nebel dahin.

Sie lag da wie gelähmt. Der Nebel züngelte an ihrer Kehle. Sie vermochte sich nicht zu rühren … Man hatte sie gefesselt! Sie versuchte sich loszureißen, aufzuschreien und spürte einen scharfen Schmerz an den Hand- und Fußgelenken, als die Stricke ihr ins Fleisch schnitten. In ihrem ausgedörrten Mund steckte ein Knebel. Ober ihr schwebte eine monströse, gesichtslose, düstere Gestalt und kam näher und näher. Leslie kämpfte gegen ihre Fesseln, wand sich in ohnmächtigem Entsetzen … Dieser Schmerz …

Dann war sie mit einem Mal hellwach. Sie lag gemütlich im Bett in ihrem eigenen Schlafzimmer und wußte, daß alles nur ein Alptraum gewesen war. In ihrem Büro klingelte das Telefon; der zweite Apparat, den sie auf Auftragsdienst gestellt hatte. Eigentlich hätte sie jetzt nach unten gehen und abheben müssen. Wenn es nachts klingelte, konnte der Anrufer ein verzweifelter Patient sein, der einen Selbstmordversuch unternehmen wollte oder einen Alptraum durchlebt hatte wie der, von dem Leslie vorhin heimgesucht worden war. Sie fühlte immer noch die Übelkeit, die sie ergriffen hatte, als dieses Ding über ihr schwebte. Wieder schrillte das Telefon. Ohne Hausschuhe und Bademantel rannte Leslie die Treppe hinunter, aber jetzt schwieg der Apparat. Im Dunkeln wählte sie die vertraute Nummer.

»Hier Leslie Barnes. Haben Sie eben versucht, mich zu erreichen?«

Eine überraschte, gelangweilte Stimme antwortete.

»Aber nein, Dr. Barnes. Für Sie sind keine Anrufe eingegangen.«

Natürlich nicht. Wollte dieses nächtliche Grauen denn überhaupt kein Ende nehmen? Leslie warf einen Blick auf die Uhr und sah, daß es erst halb fünf war; aber wahrscheinlich könnte sie ohnehin nicht mehr schlafen. Sie knipste das Licht an und stahl sich leise nach oben, um Bademantel und Hausschuhe zu holen. Dann suchte sie sich einen bequemen Sessel in ihrem Büro, setzte sich hinein und las bis zum Morgengrauen in der trockensten Fachzeitschrift, die sie finden konnte.