18
Als Simon und Emily aus dem Musikzimmer kamen, hatte Leslie sich wieder einigermaßen gefaßt. Was hätte sie den beiden auch sagen sollen? Sie hatte geglaubt, Simon habe alle Geister aus diesem Haus ausgetrieben. Hatten ihre eigene Verwirrung und Wut, ihr mangelndes Vertrauen zu Simon diesen erneuten Ausbruch von Poltergeist-Aktivität hervorgerufen?
Simon fuhr Leslie zum Polizeirevier und versprach, auf sie zu warten.
»Ich weiß, was für eine Qual das für dich ist, Liebste. Alison haben diese Nachforschungen immer tief erschüttert, denn wenn sie Gewalt sah, mußte sie dieses Gefühl bis zu einem gewissen Maße in sich selbst aufnehmen …«
»Manchmal kommt bei den Nachforschungen keine Tragödie heraus, sondern irgendeine Farce«, meinte Leslie und berichtete Simon von Peggy Terman, dem angeblich verfluchten Geld und dem Zigeunertrick. »Ich hab’ mit dem Gedanken gespielt, dieses Medium beim Betrugsdezernat anzuzeigen.«
»Das solltest du, Leslie. Aber ich kann die Geschichte kaum glauben – dieser alte Trick hatte schon in Alisons Jugendzeit einen Bart. Ich weiß noch, daß sie mir davon erzählt hat … und von ein paar anderen Kniffen, die solche falschen Medien auf Lager haben. Außerdem sind schon Dutzende von Büchern darüber geschrieben worden. Zum Beispiel hat Gresham in seinem Roman Straße der Alpträume die ganze Schwindelszene aufgedeckt. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß jemand im Jahr 1983 noch auf so was hereinfällt. Wie sagte noch P.T. Barnum? Jede Minute wird ein Narr geboren …«
»Mein Dad pflegte zu sagen: Auf jeden Narren kommen zwei andere, die ihm das Fell über die Ohren ziehen«, ergänzte Leslie.
Simon nickte. »Und ich glaube, von H.L. Mencken stammt der Spruch, daß man von der menschlichen Dummheit ausgezeichnet leben kann.«
Patricia Ballantine – die junge Polizistin, mit der sie sich am Nachmittag unterhalten hatte – bat Leslie, in einem bequemen Stuhl Platz zu nehmen, und zog eine Akte hervor. Dann meinte sie: »Oder würde es Ihnen leichterfallen, sich im Apartment des jungen Mannes auf ihn einzustellen? Wir fahren Sie gern hinüber.«
»Lassen Sie uns erst mal sehen, was wir vermittels der Bilder herausbekommen«, schlug Leslie vor. Bis jetzt hatte sie nie direkten Kontakt mit Angehörigen oder Habseligkeiten eines Verschwundenen gebraucht. Bei Phyllis Anne Chapman hatte schon die Stimme der Mutter am Telefon gereicht, um ihre Vision auszulösen. Officer Ballantine reichte ihr ein Foto, und Leslie strich mit den Händen darüber.
Verwirrt drehte und wendete sie das Bild in der Hand; sie empfing keine deutliche Botschaft, daß etwas nicht stimmte. »Das verstehe ich nicht«, sagte sie verwundert. »Dieser Mann sitzt zu Hause, zusammen mit seiner … seiner Großmutter.«
»Was habe ich dir gesagt, Pat?« schaltete sich der stämmige Schafardi ein. »Ich wußte gleich, daß sie es merkt. Entschuldigen Sie bitte, Dr. Barnes, das war nur ein kleiner Test, ähnlich wie bei einer Gegenüberstellung. Das Bild in Ihrer Hand zeigt einen unserer jungen Zivilermittler. Es gibt solche und solche Hellseher, und die Burschen vom Dezernat machen mir sowieso schon die Hölle heiß, weil ich mit derartigen Methoden arbeite. Also dachte ich mir, ein kleiner Test könnte nichts schaden.«
Leslie blickte ihn nur düster an.
Patricia Ballantine reichte ihr eine weitere Mappe. »Das ist jetzt die Akte über Gus Hansen – der junge Mann, der vermißt wird.«
Leslie empfing verworrene Eindrücke: Ein Apartment mit weißgetünchten Wänden, ein Poster von irgendeinem Rocksänger, eine zerwühlte Matratze, Wanderstiefel, ein orangefarbener Rucksack … »Haben Sie seinen Rucksack gefunden?« fragte sie zögernd.
»Pat, hat einer der Kollegen einen Rucksack erwähnt?« fragte Schafardi. Patricia Ballantine schüttelte den Kopf.
»Ich … ich habe nicht den Eindruck, daß er tot ist. Der junge Mann trägt Wanderstiefel und einen Rucksack – er ist mit einem Mädchen irgendwohin gegangen. Ich glaube, das Mädchen ist schwanger, aber erst ungefähr in der sechsten Woche …«
»Seine Eltern haben erzählt, er hätte sich Sorgen wegen eines Mädchens gemacht«, meinte Pat Ballantine.
»Sie ist minderjährig«, hörte Leslie sich sagen. »Noch keine sechzehn. Deswegen hatte er seiner Familie nichts von der Schwangerschaft erzählt. Die jungen Leute haben eine Wanderkarte gekauft. Überprüfen Sie einen … einen Laden für Campingbedarf. Sie wollten allein sein, miteinander reden und entscheiden, was sie tun sollten. Wo sie jetzt sind, ist es kalt. Irgendwo hoch oben. Sie sind unverletzt, aber sie können nicht hinunter …«
»Hansens Apartment liegt nur einen halben Block von einem großen Sportartikelgeschäft entfernt«, erklärte Schafardi.
Leslie reichte der Polizistin die Akte zurück. Erst als sie den Atem ausstieß, fiel ihr auf, daß sie die ganze Zeit die Luft angehalten hatte.
»Den beiden geht es gut. Sie werden heiraten«, sagte sie noch – und dann war alles verschwunden. Leslie erinnerte sich kaum noch daran, was sie gesagt hatte; die ganze Geschichte kam ihr mit einem Mal so fern vor wie die Hieroglyphen auf den Mauern der Pyramiden und bedeutete ihr ebenso wenig. Hatte sie sich gerade wirklich in die beiden Vermißten eingefühlt, die Angst des jungen Mannes und die Panik des Mädchens mitempfunden, ihr Bedürfnis, in die Wälder zu ziehen, um allein zu sein, ohne andere Menschen, die ihr Problem noch kompliziert hätten? Das schwangere Mädchen war jünger als Emily. Aber zumindest waren die beiden am Leben und versuchten, ihre Probleme zu lösen. Erst jetzt erkannte Leslie, wie sehr sie sich gefürchtet hatte, wieder eine Leiche zu sehen, für einen Augenblick tot zu sein.
»Verschwinden hier oft Menschen?« fragte Leslie.
»Ziemlich viele«, antwortete Patricia Ballantine, »aber die meisten gehören zu der Sorte, nach denen niemand sucht. Wenn ihr Verschwinden doch jemandem auffällt, heißt es meist nur: ›Gut, daß wir den los sind.‹ Kleinkriminelle. Obdachlose. Prostituierte. Leute, bei denen es keinen kümmert, ob sie leben oder sterben, weil sie für niemanden gut sind, am wenigsten für sich selbst. Wenn sie irgendwo tot in einer Gasse gefunden werden, treiben sie wenigstens die Verbrechensstatistik nicht weiter in die Höhe.«
Ein kaltschnäuziger Standpunkt, aber wahrscheinlich unumgänglich, dachte Leslie. Es wäre sicher wenig hilfreich, wenn die Beamten sich emotional engagierten. Leslie bat die beiden, sie zu benachrichtigen, sobald sie den jungen Mann und seine Freundin gefunden hatten. Dann, ganz plötzlich, sah sie das Mädchen vor sich: Sommersprossen, zerzaustes Haar, Sportkleidung und Wanderschuhe. Leslie wehrte sich dagegen, wollte nichts weiter davon wissen. Die Polizei braucht einen Hubschrauber, um die beiden von dem Felssims zu retten, dachte sie noch, bevor sie den Gedanken entschlossen unterbrach. Es ging sie nichts an; sie wollte nichts damit zu tun haben. Wie konnte man diese Eindrücke bloß aussperren? Wenn Simon sie das lehren könnte, würde sie ihm die Füße küssen.
Leslie wandte sich bereits zum Gehen, als ihr Peggy Terman und deren mit einem Fluch belegtes Erbe wieder einfiel. »Haben Sie hier ein Betrugsdezernat? Eine Abteilung, die sich um Schwindler kümmert?«
»Sicher«, antwortete Schafardi. »Aber die Kollegen sind nur von acht bis vier im Dienst. Unsere Schicht dauert von vier bis Mitternacht, deshalb bekommen wir sie nie zu Gesicht. Warum? Hat man Sie beschwindelt?«
»Nicht mich. Die Dame ist nicht einmal meine Patientin«, erklärte Leslie. »Ich habe heute zufällig davon gehört.« Sie erzählte die Geschichte, und Pat Ballantine kicherte. Officer Schafardi dagegen wirkte zornig.
»Ich weiß noch, daß die alte Miss Margrave uns vor zehn, fünfzehn Jahren von dieser Masche berichtet hat«, bemerkte er. »Solche Gaunereien bringen die ganze Hellseherzunft in Verruf.« Das Kinn in die Hände gestützt, saß er da. »Ich werde Mama Jesse mal auf den Zahn fühlen«, meinte er. »Sie besitzt unten am Fisherman’s Wharf eine Bude, wo sie Karten legt, aber ich habe auch gehört, daß sie nebenbei ein paar lukrativere Geschäfte betreibt. Diese Sache klingt mir sehr nach Mama Jesse. Danke für den Tip, Dr. Barnes. Wir können allerdings nicht viel unternehmen, wenn Ihre Bekannte nicht zu einer Zeugenaussage bereit ist. Aber ich werde die Parole ausgeben, Mama Jesse im Auge zu behalten. Mag sein, daß sie das eine Zeitlang von Schandtaten abhält.«
Welche Erleichterung, zu Simon in den Warteraum zurückzukehren! Seine schlanke, elegante Gestalt in dem gutgeschnittenen Anzug hob sich wohltuend von der schmuddeligen Umgebung ab. Als Leslie eintrat, sprang er auf.
»Fertig? Dann laß uns fahren.«
Selbst wenn er im Garten arbeitet, dachte Leslie, wirkt er kultiviert und vollkommen beherrscht. Sie konnte sich Simon nicht in einem Overall oder in eingefärbten Baumwollhosen vorstellen, wie Frodo sie trug. Aber das Image, das Frodo ablehnte, gehörte zur Tradition der klassischen Musik. Was konnte einen so talentierten und intelligenten jungen Mann wie Frodo bewogen haben, sich so vollständig davon zu distanzieren? Und wenn er sich von dieser Tradition abwandte, war er dann wirklich der Richtige für Emily? Sie hatte sich ihre Welt selbst gewählt, und in dieser Welt war Simon ihr Mentor, nicht Frodo. Trotzdem war sie offenbar glücklich gewesen und er mit Emily …
»Die Brille macht mir immer noch Probleme, Leslie. Würdest du fahren?«
»Selbstverständlich, Liebling.«
»Bist du auch nicht zu müde?«
»Nein, natürlich nicht.« Was ihr zusetzte, war keine körperliche Müdigkeit, sondern die geistige und emotionale Erschöpfung. Doch sobald sie die Probleme ihrer Patienten und ihre Verwirrung über Alison Margraves’ kompliziertes Erbe hinter sich ließ, war sie innerlich ruhig.
Wohlig seufzend nahm sie hinter dem Lenkrad Platz. Es bereitete ihr immer wieder Vergnügen, Simons großen, luxuriösen Mercedes zu fahren.
Zu Hause, als sie beim Weißwein saßen, streckte Simon seine narbenbedeckte Hand aus und legte sie fest auf die ihre. »Leslie, wir sollten zusammen leben. Du weißt genau, daß es für uns beide gut wäre.«
Sie wußte, daß er recht hatte. Aber der Gedanke war zugleich irgendwie … verrückt. Sie kannte diesen Mann erst kurze Zeit. Und durch ihre berufliche Tätigkeit war Leslie sich mehr als andere Menschen der Gefahren bewußt, die eine Verbindung mit sich brachte, die auf einer überwältigenden sexuellen Anziehung beruhte. Doch ihre Gefühle für Simon gingen weit über erotische Leidenschaft hinaus. Wir gehören seit Ewigkeiten zusammen, dachte sie und fragte sich dann, was sie damit gemeint hatte.
»Ja, du hast recht. Aber ich muß auch an Emily denken. Ich kann sie noch nicht allein lassen.«
Simon zog sie an seine Schulter, und zufrieden lehnte sie sich an ihn. »Emily gehört für mich zur Familie, das weißt du doch. Sollte es wirklich so weit kommen …« Leslie war ihm so nahe, daß sie spürte, wie er sich plötzlich am ganzen Körper verspannte. »Hätte das Schicksal es gewollt, daß ich nie wieder spiele, hätte ich mich sogar damit abfinden können, Emily als meinen Schützling zu betrachten … und ihre Karriere wie die meine. Manchmal ist diese Versuchung fast unwiderstehlich, den Kampf aufzugeben, die Schmerzen los zu sein …« Leslie spürte, wie er den Atem ausstieß. »Mich geschlagen zu geben. Einfach loszulassen.«
Sie flüsterte beinahe. »Aber du kannst es nicht, Simon. Nicht wahr?«
»Nein.« Seine Stimme kam wie aus weiter Ferne. »Mir bleibt keine andere Wahl. Ich … kann … nicht. Ich werde mich nicht … ergeben.«
Am liebsten wäre Leslie in Tränen ausgebrochen, hätte ihn angefleht. Dieser Kampf zerstörte Simon, trieb ihn zu unmenschlichen Handlungen, zu den fürchterlichen Exzessen, die er ihr gestanden hatte. Welche inneren Kräfte peitschten ihn so unbarmherzig voran? Wie konnte sie dafür sorgen, daß Simon weniger unerbittlich mit sich selbst umging?
Er umarmte sie fester. »Als ich heute morgen aufwachte, sah ich alle Themen für das Finale meines Concerto vor mir. Aber den ganzen Tag mußte ich unterrichten … meine Zeit vergeuden, obwohl kein Schüler in dieser Klasse, nicht ein einziger, auch nur halb so begabt ist wie Emily. Trotzdem bin ich diese Verpflichtung eingegangen, habe mich selbst in Ketten gelegt, um meine Vorlesungen zu halten, und dabei wird keiner dieser jungen Trottel sich je daran erinnern, was ich ihn gelehrt habe, oder davon profitieren. Auch Alison hat ihre Gabe an Minderwertige verschwendet, hat Perlen vor die Säue geworfen. Und du, Leslie, erschöpfst dich bis auf die Knochen für Menschen, die deinen Wert niemals erkennen oder schätzen werden …«
Er machte sich von Leslie frei, ging zum Flügel und begann zu spielen; eine Variation des Themas, das er für Emily gespielt hatte. Sein Concerto. Vom strahlenden Hauptthema ging er zu einem anderen über; ein Hauch von Niedergeschlagenheit und Qual schlich sich verstohlen in die Musik ein. Leslie fühlte, wie er mit dem Thema kämpfte und sich in eine Raserei aus Verlust und Verzweiflung steigerte. Beim Zuhören verlor Leslie jeden Zeitbegriff, war so auf Simon eingestimmt, daß sie jeden technischen Fehler hörte und spürte.
Simons geschädigte Finger wurden müde, bis er dem komplexen Charakter seiner Komposition nicht mehr gewachsen war; er bemerkte es und wiederholte mit angespanntem, wutverzerrtem Gesicht die schwierige Passage ein ums andere Mal. Schließlich drosch er mit der Hand wie rasend auf die Tasten ein. Das Weinglas flog durchs Zimmer und zerschellte an der Wand, und Simon sank nach vorn. Sein Körper erstarrte in einem qualvollen Krampf, nur seine Schultern zuckten. Leslie fühlte das lautlose Schluchzen, das ihn schüttelte.
»Simon«, rief sie, stürzte zu ihm und schloß ihn in die Arme. »Nicht. Laß das jetzt. Komm ins Bett«, flehte sie.
»Ich schaffe es, Leslie. Ich werde das Concerto spielen.« Seine Stimme war kaum zu vernehmen. »Für den … ausgebildeten Willen … ist nichts unmöglich.«
Er hatte geflüstert, doch für Leslie klangen die Worte wie ein Aufschrei, ein Urschrei voller Zorn und wilder Entschlossenheit. Sie drückte ihn an sich, und nach langer Zeit hob er den Kopf.
»Leslie«, sagte er, als würde er erst jetzt ihre Anwesenheit bemerken. »Was bin ich für ein Narr, um diese Zeit zu spielen und die schönste und verführerischste Frau der Welt warten zu lassen.« Er stand auf, schlang den Arm um sie und führte sie ins Schlafzimmer.
Sie fand sich in der Garage wieder, umgeben von einem Kreis aus blauem Licht, den sie nicht überschreiten konnte. Sie saß darin gefangen und spielte auf einem Cembalo. Dann fiel ihr ein, daß sie in diesem Leben keine Musikerin war; diesmal war Emily an der Reihe. Sie bewegte sich durch ein alptraumhaftes Dunkel, doch irgendwo über ihnen schwebte Simon und rang mit einer Entscheidung, denn seine Hand blutet und sie wußte, daß er ein weiteres Menschenopfer brauchte. »Ich würde dir nur zu gern meine Hand schenken«, hörte sie Colin sagen. Aber Colins Hände, dachte sie, nutzen Simon nichts, denn in dieser Inkarnation versteht er sich nicht auf Musik. Also muß es Emily sein, oder ich selbst. Ich hätte ebenso gut spielen können wie Emily, aber jetzt ist sie an der Reihe, und meine Rolle besteht darin, sie zu unterstützen und zurückzutreten, während sie den Applaus einheimst. Doch Simon kann es nicht ertragen, wenn jemand anders den Beifall erntet … Auf dem Altar lag gefesselt die Katze, und irgendwo war auch Susan Hamilton, die nach ihrer Tochter suchte. Aber Simon lachte. Ich habe Chrissy in eine Katze verwandelt, sagte er und wies auf den Altar, wo blutend, zerbrochen und zerrissen die Katze im Zentrum des blauen Lichtkreises lag. Obwohl sie nicht annähernd soviel Wert hat wie eine von Alisons Katzen.
Und dann hielt sie Simon in den Armen, der von krampfhaften Schmerzen geschüttelt wurde, denn die Katze hatte ihm die Krallen ins Auge geschlagen, und das Blut strömte aus der leeren Höhle. Für einen ausgebildeten Willen ist nichts unmöglich, erklärte Simon. Leslie fragte ihn, ob er noch mehr Blutopfer brauche. Er klammerte sich an ihr fest. Ich hoffe nicht, o Gott, hoffentlich nicht, schrie er peinerfüllt auf … Aber ich muß tun, was ich tun muß, denn ich kann mich nicht geschlagen geben …
»Leslie?« Sie fuhr vor seiner Stimme zurück, erkannte dann, daß alles nur ein weiterer Alptraum gewesen war und richtete sich auf. Sie sah Simon über sich, der sie aus seinen dunklen Augen besorgt anschaute.
»Nur ein böser Traum«, flüsterte sie. »Gott sei Dank, es war nur ein Traum …«
»Wahrscheinlich fängst du meine Alpträume auf. Meine Hand schmerzt höllisch. Ich stehe mal kurz auf und nehme eine von meinen Schlaftabletten. Möchtest du auch eine?«
Leslie schüttelte den Kopf. Sie mißtraute Schlafmitteln, da sie wußte, daß sie den wichtigen REM-Schlaf unterbanden, so daß der Zustand, in den die Tabletten einen versetzten, eigentlich kein Schlaf war, sondern ein traumloser Abgrund … Vielleicht brauchte sie genau das, um die Alpträume loszuwerden. Nackt ging Simon ins Bad und kehrte mit einem Fläschchen in der Hand zurück.
»Bist du sicher?«
»Ganz sicher.« Sie beobachtete, wie er eine Tablette herausschüttelte. Mit welchem Recht hätte sie von ihm verlangen können, sich die Betäubung seines Schmerzes zu versagen? Er zögerte, schaute sie an und steckte dann achselzuckend die Pille zurück in die Flasche.
»Eigentlich möchte ich lieber mit dir zusammen wach liegen«, erklärte er, kroch wieder ins Bett und streckte sich neben ihr aus.
»Erzähl mir von dir«, forderte er sie auf. »Ein Talent wie Emily taucht nicht so einfach aus dem Nichts auf. Gab es in der Familie deiner Mutter oder deines Vaters Musiker?«
Leslie berichtete ihm von ihrer schwedischen Großmutter, die den Schwestern die Harfe vererbt hatte. Sie erzählte, wie Emily als fünfjähriges Mädchen in Tränen ausgebrochen war, weil ihre Finger die Saiten nicht weit genug umspannten und sie die Musik, die sie gehört hatte, nicht nachspielen konnte. Simon wiederum erzählte ihr zum erstenmal von seiner Kindheit als unglücklicher, schwächlicher Knabe in einem Militärinternat, der sich ständig ins Krankenquartier geflüchtet hatte (ich war allergisch auf alles, berichtete er ihr, denn wenn ich krank war, ließ man mich in Ruhe, und ich konnte im Bett liegen, lesen und mir im Radio Musik anhören). Und dann hatte der kleine Simon das Klavierspiel entdeckt, das ihm noch mehr Freiheit vom verhaßten Alltag bescherte.
Eine Zeitlang war er ein Poltergeist gewesen, und so hatte er auch Alison kennengelernt. Er hatte die Gitarrensaiten seines Zimmerkameraden zerspringen lassen, während das Instrument an der Wand hing. Daraufhin hatte seine Mutter ihn von der Schule genommen und Alison konsultiert. In der Folge hatte Alison ihn zu ihrem Schützling erkoren, und schließlich hatten sie als Kollegen zusammengearbeitet. Leslie mußte an Eileen denken, die bei einer Probe des Schulorchesters Geigensaiten gesprengt hatte.
»Diesen Jungen habe ich wirklich gehaßt. Merkwürdig, auf seinen Namen kann ich mich nicht besinnen, aber an diese elende Gitarre erinnere ich mich. Der Bursche spielte nie etwas anderes als Hillbilly-Musik. Am liebsten hätte ich ihm die Gitarre auf dem Schädel zertrümmert! Mutter hatte mich in eine Militärschule gesteckt. Sie war der Meinung, eine Frau würde ihren Sohn verweiblichen und vielleicht einen Homosexuellen aus ihm machen, würde sie ihn allein erziehen«, erklärte er verächtlich. »Ich hätte ihr sagen können, daß diese Gefahr niemals bestand, und wenn doch, wäre ein Jungeninternat kaum der richtige Ort gewesen, um die Entwicklung solcher Neigungen zu verhindern. Ganz im Gegenteil.«
»Dann ist dein Vater früh gestorben?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, erwiderte er und zuckte wegwerfend die Achseln. »Meine Mutter hat mich in dem Eindruck bestärkt, ich sei das Produkt einer Jungfernzeugung. Ich glaube, Alison wußte die Wahrheit, wollte sie mir aber nie verraten.«
Simon klang zwar beiläufig, doch in seiner Stimme schwang so viel alter Schmerz, daß Leslie rasch das Thema wechselte.
»Du warst ein Poltergeist? Unter meinen Patienten habe ich auch einen …«
»Ein junges Mädchen, nehme ich an. Was dieses Phänomen angeht, kommen vier Mädchen auf einen Jungen. Liegt vielleicht daran, daß man Mädchen ermutigt, zu weinen und anderen ihre Probleme zu erzählen. Ärger oder Zorn zu zeigen, gehört sich für ein weibliches Wesen nicht. Ich habe mich schon oft gefragt, wie viele andere psychologische Probleme mit Sex verbunden sind. Die Männer bekommen meist Magengeschwüre, soweit ich weiß …«
»Das hat solange gestimmt, bis die Frauen ebenfalls Führungspositionen bezogen haben und in den Konkurrenzkampf eingestiegen sind«, meinte Leslie. »Aber dafür ist die Relation bei autistischen Jungen und Mädchen acht zu eins.« Dies war einer der Gründe dafür, daß sie gezögert hatte, die Diagnose Autismus bei Christina Hamilton zu akzeptieren. »Der Defekt könnte erblich bedingt sein oder auf einem Chromosomenschaden beruhen, weil er so deutlich an das Geschlecht gebunden ist.«
Simon schürzte die Lippen. »Das mag der Grund dafür sein, daß man solche Kinder immer noch für wert hält, die Zeit eines Therapeuten auf sie zu verschwenden – Jungen tragen schließlich das kostbare Familienerbe weiter. Vielleicht hatte ich ja Glück, daß ich als vaterloses Kind diesem Druck nicht ausgesetzt war. Ich habe Männer gekannt, die einen begabten Sohn fast im selben Maße als Familienkatastrophe betrachtet haben wie einen zurückgebliebenen oder behinderten Jungen. Denn wahrscheinlich wird weder der eine noch der andere das Familiengeschäft übernehmen. Und ich bin fest davon überzeugt, man hätte die Euthanasie längst gestattet oder sogar verlangt, würde die Bluterkrankheit nur bei Mädchen auftreten. Aber welcher Vater würde seinen Sohn opfern?« Er lachte im Dunkel auf. »Meiner. Ich frage mich, ob er je von mir erfahren hat.«
»Ich kann mir keinen Vater vorstellen, der einen Sohn wie dich nicht mit Freuden willkommen hieße, Simon.«
»Ich glaube, wir sollten noch ein wenig schlafen«, versetzte er barsch – eine neuerliche Warnung, das Thema nicht weiter zu vertiefen.
Erstaunlich, überlegte Leslie, als sie im Finsteren hellwach neben Simon lag, daß er nie versucht hat, seine vaterlose Jugend zu kompensieren, indem er selbst einen Sohn zeugte. Üblicherweise glich man solche Erfahrungen aus, indem man den eigenen Kindern schenkte, was man selbst im Leben entbehrt hatte. Und Simon hatte noch ein Erbteil weiterzugeben: sein Talent. Leslie erkannte wieder einmal, wie gern sie ein Kind von Simon hätte. Aber sie war noch nicht bereit für die Mutterschaft; außerdem hegte sie den Verdacht, daß Simon sich niemals Kinder wünschen würde. Doch ob er jemals ein leibliches Kind zeugte oder nicht – Simon hinterließ der Welt seine Musik. Um so mehr, als er weiterhin unterrichtete. Doch ein Lehrer mußte Kompromisse schließen und auch Schüler annehmen, die über wenig oder kein Talent verfügten; seine Perlen freiwillig vor die Säue werfen und nur wenig zurückverlangen. Wie viele Lehrer entdeckten im Laufe ihrer lebenslangen Tätigkeit auch nur ein Genie?
Und dann, kurz bevor Leslie in den Schlaf hinüberglitt, fragte sie sich, warum sie so dachte. Mit dem, was Simon schon jetzt für Emily getan hatte, war sein ganzes Leben gerechtfertigt. Und warum war sie der Meinung, daß seine Karriere endgültig vorüber sei? Machte sie genug Zugeständnisse, was seinen unglaublichen Willen und seine Entschlossenheit betraf? Für einen ausgebildeten Willen ist nichts unmöglich … War das bloß magisches Denken, das sich weigerte, das Unabänderliche zu akzeptieren, oder stellte diese Einstellung den wahren Schlüssel zum Universum dar?
Die Meisterklasse, in die Simon Emily aufgenommen hatte, war vorerst die letzte in San Francisco gewesen, doch er hatte noch Einzelunterricht an einer Musikschule in Dallas zu erteilen. Am Sonntagmorgen fuhr Leslie ihn zum Flughafen.
»Wenn ich zurück bin, Liebste, müssen wir ernsthaft darüber nachdenken, wie wir es zuwege bringen können, zusammenzuleben. Ich möchte nicht mehr ohne dich sein«, erklärte Simon. »Jetzt ist nicht die rechte Zeit für einen Heiratsantrag, aber gegen diese ständigen Trennungen müssen wir etwas unternehmen!«
»Mit dir reisen könnte ich aber nicht, Simon«, entgegnete Leslie. »Ich habe meine Arbeit. Auch bin ich Verpflichtungen eingegangen, die ich nicht aufkündigen kann.« Gern sagte sie das nicht; genau an dieser Frage war ihre Beziehung zu Joel gescheitert.
»Natürlich nicht«, antwortete Simon so selbstverständlich, daß Leslie schier überwältigt war. »Und inzwischen sieht es aus, als müßtest du dazu noch Alisons Arbeit übernehmen. Aber wenn man genug Zeit und Mühe investiert, ist jedes Problem lösbar, sogar die einander widersprechenden Anforderungen zweier Karrieren – nein, dreier, denn wir müssen auch Emilys Ausbildung einbeziehen. – Laß mich einfach da hinten aussteigen, ja? Dort, wo ›Abflüge‹ steht. Ich hasse Abschiedsszenen. Behalte den Mercedes für diese Woche. Inzwischen fährst du ihn besser als ich.«
»Wann kommst du zurück? Mittwoch, Donnerstag?«
»Wahrscheinlich erst am Freitag«, antwortete er. »Am Mittwoch fliege ich nach Chicago. Du kennst ihn sicher nicht persönlich, aber bestimmt weißt du, wer Lewis Heysermann ist …«
»Der Dirigent?«
»So ist es. Dieses Jahr hat man ihn nach Chicago eingeladen. Wir sind Freunde, seit wir zusammen am Juilliard studiert haben«, sagte Simon. »Er schuldet mir noch einen Gefallen. Ich will versuchen, ihn dazu zu bringen, das Concerto für nächstes oder übernächstes Jahr einzuplanen. Als Comeback-Konzert.«
Gott sei Dank, dachte Leslie. Trotz seiner Niedergeschlagenheit gestern nacht glaubt er, bereit zu sein. Er muß es schließlich wissen. »Ich weiß nicht, ob ich viel Glück sagen soll, Simon, oder Hals- und Beinbruch.«
»Denk einfach an mich, Liebling, und wünsch mir, daß die kleinen Bestien mich nicht unterkriegen«, bat Simon. »Wie ich das Unterrichten hasse! Aber ich vermute, auch das ist eine Verantwortung.«
Leslie hielt vor dem Terminal von Delta Airlines, und Simon beugte sich zu ihr hinüber, um sie zu küssen. Dann winkte er gebieterisch einem Gepäckträger, der herbeigerannt kam, um Simons kleinen Koffer vom Rücksitz des Mercedes zu nehmen. Mit ihrem VW-Käfer hätte Leslie eine Viertelstunde warten müssen, ehe ihr dieser Service zuteil geworden wäre. »Ich rufe dich aus Dallas an, Liebling. Gott segne dich.« Leslie war verblüfft. Sie hatte noch nie gehört, wie Simon den Herrn anrief. Sie saß da und schaute zu, wie seine graugekleidete Gestalt im Inneren des Terminals verschwand, bis ein Taxifahrer ihr von hinten zurief: »Nun machen Sie schon, Lady, und bewegen Sie endlich den verdammten Wagen.« Sie legte den Gang ein und fuhr los.