Prolog

 

 

Dünne graue Nebelschwaden zogen über die Straße; auf den Kuppen der Twin Peaks schienen Wolken zu kauern, und der gewaltige Fernsehturm, der riesenhaft über die Hügel von San Francisco aufragte, wirkte wie ein knietief im Dunst watender Orion. Vereinzelte Nebelfetzen stahlen sich in den Garten und auf das kleine viereckige Stück Rasen, an dessen Rändern Heilkräuter mit spitzigen grünen und grauen Blättern wuchsen. An einer Mauer stand ein Zitronenbaum, dessen weiße, duftige Blüten und gelbe Früchte sich im Dunkel seines schimmernden Laubes aneinanderschmiegten, und liebliche Blütendüfte, vermischt mit den herben Gerüchen der Kräuter, drangen durchs offene Fenster.

Selbst im Inneren des Zimmers, das der Bewohnerin des Hauses als Atelier diente, trieben hauchfeine Dunstschleier an den holzvertäfelten Wänden. Die Frau, die am Kamin vor ihrer Töpferscheibe kniete, hob den Kopf, schaute hinaus in den herankriechenden Nebel und biß die Zähne zusammen, um nicht in Panik zu geraten. Die letzten paar Wochen hatten an ihren Nerven gezehrt. Aber sie war nicht feige; noch war sie nicht zur Aufgabe bereit. Sie liebte dieses Haus, den Garten und das Atelier mit den Holzpaneelen.

Sie kam sich vor wie in einem alten Film mit Basil Rathbone: Das Licht von Gaslaternen leuchtete trüb durch den Londoner Nebel, so dick wie Erbsensuppe, und Sherlock Holmes stand am offenen Kamin. Der Nebel gehörte zum täglichen Leben, wenn man in San Francisco zu Hause war. Jeden Abend drang er durch das Golden Gate in die Stadt vor und verschwand im Laufe des Vormittags wieder in Richtung Pazifik.

Erneut wandte die Frau ihre Aufmerksamkeit dem Gefäß zu, das auf ihrer Töpferscheibe Gestalt annahm: eine flache Schale in Form einer griechischen Kylix. Eine blaue Glasur wäre das Richtige, überlegte sie. Wedgwood-Blau. Oder ein dunkles Kobaltblau mit einem Hauch blutroten Firnis, dünn und flüchtig, um einen Eindruck wie von Rohseide zu erwecken.

Die Töpferscheibe drehte sich und gab ein leises, hypnotisch wirkendes Surren von sich.

Das Kaminfeuer erstarb, sank zischend in sich zusammen, als wäre es im Kampf gegen den Nebel unterlegen. Die Frau hielt die surrende Scheibe an und erhob sich, um das Feuer wieder zu entfachen. Zuerst harziges Anmachholz, dann die knisternden, trockenen Wacholderzweige, die sie in den Hügeln von Berkeley gesammelt hatte. Langsam fing das Holz Feuer. Fröhlich prasselnd loderten die Flammen auf und vertrieben den feuchten Dunst. Die Frau streckte die Hände aus und genoß die anheimelnde Wärme. Draußen vor den Fenstern war die Welt inzwischen so weiß, daß sie nicht einmal mehr den Garten sehen konnte. Sie schloß das offene Fenster, durch das ein kühler Hauch ins Zimmer wehte.

Nebel war etwas Wunderschönes, solange er draußen blieb.

Sie setzte sich wieder an die Töpferscheibe. Ihre Finger liebkosten den feuchten Ton, formten zärtlich den schön geschwungenen Rand.

Wieder erlosch das Feuer.

Irgend etwas stimmte nicht mit der letzten Lieferung Kaminholz. Und warum hatte sie das verrückte Gefühl, daß der Nebel wie ein feindseliges Wesen in den Ecken des Zimmers kauerte und ihr bei der Arbeit zuschaute?

Sie haßt mich. Sie will, daß ich fortgehe.

Die Frau schüttelte den Kopf. Der Gedanke war verrückt. Wenn sie nicht achtgab, würde sie wie ihre Schwester enden, die in jeder Ecke Geister sah und Botschaften von Verstorbenen empfing. Sicher, sie kannte die Gerüchte: Die Familien, die vor ihr in diesem Haus gewohnt hatten, waren angeblich vom Unglück verfolgt gewesen. Ein plötzlicher Todesfall, ein Selbstmord … Der Stoff, aus dem Gespenstergeschichten waren.

Dann aber dachte sie an die alte Dame, die hier lange Zeit friedlich gelebt hatte und im hohen Alter von dreiundachtzig Jahren an ihrem Klavier gestorben war. Jeder, der die alte Dame gekannt hatte, bezeichnete sie als die sanftmütigste und freundlichste Seele, die es auf Erden gegeben hatte. Nicht daß die Frau an der Töpferscheibe an solchen Unsinn glaubte, aber wenn noch irgend etwas von der alten Dame in diesem Haus verblieben war, würde dieses Etwas, diese Wesenheit sich wohlwollend verhalten, oder nicht? Insbesondere gegenüber einer anderen Künstlerin.

Wieder entfachte die Frau das Feuer im Kamin, wenngleich es ihr plötzlich unheimlich war, den zuckenden Schatten den Rücken zu kehren. Wenn hier tatsächlich eine geisterhafte Wesenheit hauste, wo war sie dann? Im Musikzimmer, in dem die alte Frau gestorben war? Eines natürlichen Todes, wohlgemerkt. Die Polizei hatte alles sorgfältig überprüft. Die alte Dame war an ihrem Flügel zusammengebrochen, inmitten ihrer Sammlung alter Cembalos, und eines friedlichen Todes gestorben. Wenn es tatsächlich Gespenster gab, konnte der Geist der alten Frau nur ein freundliches Wispern aus einer anderen, friedvolleren Zeit sein.

Die Dämmerung brach an. Vier Uhr nachmittags. Teezeit. Kein Wunder, daß die Briten in ihrem nebelverhangenen Land dieses Ritual erdacht hatten, um die unheimlichen blauen Schatten des vom Meer heranziehenden Nebels und der einbrechenden Dunkelheit zu vertreiben. Die Frau knipste das Licht im Atelier an, trat hinaus auf den diesigen Hof und ging an der niedrigen Ziegelmauer entlang zur Küchentür. Auf der rückwärtigen Mauer saß die weiße Katze und putzte sich. Die Frau hatte versucht, das Tier mit Fisch und Leber anzulocken, doch es blieb unnahbar.

Sie setzte den Wasserkessel auf, und die warmen Lichtreflexe auf den kupfernen Töpfen und die anheimelnden Gerüche von Gemüse in Hängekörben beruhigten sie. Nein, sie würde sich weder von ihren Nerven noch von dem Nebel oder ihrer morbiden Phantasie aus dem Atelier vertreiben lassen und damit die beste Arbeit zunichte machen, die ihr seit Wochen gelungen war. Der Ton besaß gerade die richtige Feuchtigkeit, die perfekte geschmeidige Beschaffenheit. Sogar jetzt noch spürte die Frau die anmutige Form, die sie dem Ton verliehen hatte, als kinästhetische Erinnerung, beinahe wie ein Prickeln in den Fingern. Wenn sie jetzt aufgab, war diese Arbeit für immer verloren.

Die Frau ging mit der dampfenden Tasse ins Atelier und stellte sie in der Nähe der Töpferscheibe ab. Ohne hinzuschauen, tastete sie nach dem unvollendeten Gefäß und fuhr entsetzt zurück. Statt der anmutigen Kylix spürte sie einen formlosen, schleimigen Klumpen unter ihren Fingern, der sich gallertartig anfühlte, feucht und kalt wie totes Fleisch.

So etwas war schon einmal geschehen. Damals hatte sie wider besseres Wissen geglaubt, die weiße Katze sei irgendwie ins Atelier eingedrungen und hätte das Gefäß auf der Töpferscheibe zerquetscht. Diesmal aber waren Tür und Fenster geschlossen. Und wo in dem kahlen Atelier hätte eine Katze sich verstecken können?

Dann sah die Frau das Tier. Es lag auf der Töpferscheibe. Sein Blut vermischte sich mit dem Ton, und die vier Pfoten zuckten noch leicht. Voller Entsetzen stieß die Frau einen leisen Schrei aus. Wie war die Katze hierher gekommen, und wer hatte das Tier so zugerichtet? Versteckte der Täter sich noch im Garten? Lauerte er dort draußen und wartete darauf, als nächstes sie anzugreifen? Die Frau kniete nieder, um den leblosen Körper der Katze genauer zu betrachten, doch als sie zögernd die Hand danach ausstreckte, war der Kadaver verschwunden, und nur noch der Schleim und der formlose Ton bedeckten die Töpferscheibe. Kein gewöhnlicher Einbrecher, kein Gewalttäter hatte so etwas zustande bringen können – nur das Böse, dieses Etwas, das in ihrem Haus umging. Es hatte die wundervollste Arbeit zerstört, die ihr seit einem Jahr gelungen war. Tränen der Wut standen in den Augen der Frau.

Schon wieder brannte das Feuer herunter. Diesmal hatte sie nicht mehr die Kraft, es wieder zu schüren. Diesmal gab sie sich geschlagen. Sie fuhr hoch, und die Tasse fiel um. Der kochendheiße Tee verbrühte ihr den Knöchel, rann über die Töpferscheibe und die zerstörte Kylix. Vor Schmerz und ohnmächtiger Wut schrie sie auf.

»Ist gut! Ist gut! Du hast gewonnen! Ich verschwinde! Aber warum? Warum?« Schluchzend vor Zorn über ihre Niederlage eilte die Frau ins Freie und schlug die Tür des Ateliers hinter sich zu.

Sie sollte es nie wieder betreten.