12. KAPITEL

Ich explodiere vor Wut wie ein Vulkan. »Ich soll meinen Schild im Stich gelassen haben? Ich? Ich habe die Schlacht von Sanasa praktisch im Alleingang entschieden, du Grünschnabel! Wäre ich nicht gewesen, dann würdest du heute nicht in deiner Toga durch die Stadt stolzieren können! Weil da nämlich keine Stadt wäre, durch die du stolzieren könntest! Wer hat diese Beschuldigung erhoben?«

»Grobiax, ebenfalls ein Teilnehmer an dieser Schlacht!«, antwortet der Bonze.

»Das werden wir ja sehen!«, brülle ich und stürme zur Tür. Das Schwert in der Hand. Ich fuchtele damit herum, um den Effekt zu verstärken. Niemand beschuldigt mich ungestraft der Feigheit. Ghurd hält mich auf, indem er seine Arme um mich schlingt und sich mit einem Fuß gegen einen Tisch stemmt.

»Wohin willst du?«, erkundigt er sich.

»Grobiax umbringen, was denn sonst? Niemand beschuldigt mich, dass ich mein Schild im Stich lasse und desertiere!«

»Wenn du Grobiax umlegst, wird dir das auch nicht viel helfen.«

»Natürlich wird das helfen. Und jetzt lass mich los. Ich muss jemanden umlegen!«

»Sie werden dich hängen!«

Ich versuche, mich aus Ghurds Griff zu befreien. Makri sieht dem Kampf amüsiert zu.

»Ich hätte zwar nichts dagegen, Thraxas, wenn du wegen Mordes gehängt würdest. Immerhin hast du mich ein widerwärtiges orgkisches Scheusal genannt und warst unerträglich grob zu mir. Aber ist das nicht eine ähnliche Situation wie die, in der du mir geraten hast, Professor Toarius nicht zu massakrieren?«

»Es ist ganz und gar nicht dasselbe. Grobiax hat meine Ehre beleidigt.«

»Toarius meine auch!«

»Das interessiert mich nicht!«, schreie ich und erneuere meine Bemühungen, aus Ghurds Griff freizukommen.

»Du wirst verhaftet und kannst dann Lisutaris nicht mehr helfen.«

Ich höre auf, mich zu wehren. Außerdem ist es auch nicht ganz einfach, sich aus Ghurds Klammergriff zu befreien. Er war schon immer ein ungewöhnlich starker Mann, und zudem ist er in erheblich besserer körperlicher Verfassung als ich. Er zieht mich wieder zum Tresen zurück.

»Würden sie Thraxas wirklich hängen, wenn er Grobiax umbringt?«, erkundigt sich Makri.

»Ja«, antwortet Ghurd.

»Dann ist das vielleicht doch ein ganz guter Plan. Lass ihn los.«

Ghurd wirft ihr einen giftigen und sehr barbarischen Blick zu. »Wir brauchen keine weiteren schlauen Ratschläge von dir. Geh und bedien die Gäste.«

Während dieser ganzen Auseinandersetzung hat der Regierungsbonze ruhig auf eine Gelegenheit gewartet, das Wort ergreifen zu können. Als er spricht, kehrt schlagartig Ruhe in der Kaschemme ein. Ein Mann in einer Toga strahlt offenbar immer noch so etwas wie Respekt aus.

»Ich muss Euch weiterhin mitteilen, dass ein Mann, der sich einer solchen Anklage gegenübersieht, nicht mehr länger irgendwelche offiziellen Ämter bekleiden darf. Es wird Euch deshalb vom Gesetz verboten, länger das Amt des Tribuns auszuüben. Weiterhin wird Eure Detektivlizenz, die Euch vom Konsul im Namen des Königs ausgestellt wurde, vorübergehend eingezogen, bis Ihr entweder von dem Vorwurf freigesprochen seid – in diesem Fall wird sie erneuert – oder aber verurteilt werdet. In diesem Fall erlischt sie.«

»Wollt Ihr damit etwa sagen, dass ich nicht länger ermitteln darf?«

»Das ist richtig.«

»Wie lange?«

Das weiß er nicht. Jedenfalls so lange, bis mein Fall vor einem Senatsausschuss gehört worden ist. Das kann Monate dauern. Vielleicht sogar Jahre. Wenn man in dieser Stadt keinen Einfluss hat, kann es manchmal sehr lange dauern, bis Rechtsfälle vor Gericht verhandelt werden.

Der Bonze verschwindet. Ich bleibe und denke über die ungeheuerliche Unverfrorenheit dieser Anschuldigungen nach. Ghurd weist Makri an, sich um den Tresen zu kümmern, und führt mich ins Hinterzimmer, wo er mir ein großes Glas Kleeh einschenkt. Ich leere es in einem Zug, und er schenkt mir nach.

»Danke, Ghurd. Dafür, dass du mich daran gehindert hast, loszugehen und Grobiax umzubringen. Es wäre dumm gewesen. Aber ich würde es immer noch gern tun.«

»Natürlich«, meint Ghurd. »Das würde ich auch mit jedem machen, der mich der Feigheit bezichtigt. Damals oben im Norden hätte ich ihn schon längst erledigt. Aber hier laufen die Dinge anders.«

Ich sehe Ghurd überrascht an. »Wann hast du dich denn in einen verantwortungsbewussten Bürger verwandelt?«

»Seit ich diese Kaschemme gekauft und angefangen habe, Steuern zu zahlen.«

Ich kenne Ghurd jetzt schon so lange, und wenn ich an ihn denke, sehe ich ihn immer mit seiner Axt in der Hand, wie er auf seine Feinde einschlägt. Irgendwie ist mir gar nicht aufgefallen, wie sehr er sich verändert hat. Er ist gereift, denke ich. Was nicht heißen soll, dass er einem Kampf aus dem Weg gehen würde, wenn sich einer böte. Das hat er in den letzten Jahren mehr als einmal unter Beweis gestellt, meistens, um mir zu helfen. Ghurd scheint meine Gedanken zu ahnen.

»Mach dir keine Sorgen. Wenn du deinen Namen nicht vor Gericht reinwaschen kannst, dann helfe ich dir, Grobiax zu töten, und wir fliehen anschließend zusammen aus der Stadt.«

Ich genehmige mir noch ein Glas Kleeh. So wie die Dinge sich entwickeln, werden wir wohl über kurz oder lang gemeinsam mit Lisutaris nach Süden reisen. Sie wäre eine gute Gesellschaft für einen Ausgestoßenen. Mit ihr gäbe es jedenfalls kein Problem, mitten in der Wildnis ein Lagerfeuer zu entzünden. Ghurd will wissen, was hinter dieser unseligen Wendung der Ereignisse steckt.

»Ich habe meine Machtbefugnis als Tribun eingesetzt, um Lisutaris zu schützen. Das bedeutet, ich habe die Zivilgarde und die Palastwache kaltgestellt. Ich hätte wissen müssen, dass ich mich nicht mit so mächtigen Leuten anlegen darf. Jemand schreit nach Rache. Vermutlich ist es Rhizinius, der Führer der Palastwache. Er hat mich schon seit Jahren auf seiner schwarzen Liste. Das musste einfach irgendwann passieren.«

Ghurd versucht mich zu beruhigen. »Niemand, der dich kennt, würde jemals glauben, dass du deinen Schild weggeworfen hast und vom Schlachtfeld desertiert bist.«

»Und was ist mit denen, die mich nicht kennen? Diese Nachricht wird sich bald in Windeseile in der Stadt verbreiten. Und einige Leute werden es glauben.«

In einer Stadt wie Turai, wo jeder förmlich danach giert, etwas Schlechtes über seinen Nachbarn in Erfahrung zu bringen, bleiben solche Anschuldigungen schnell an einem kleben. Man kann seinen Ruf ruinieren, selbst wenn der Fall nicht einmal vor Gericht verhandelt wird. Allein schon mit Feigheit vor dem Feind in Verbindung gebracht zu werden ist ein schreckliches Tabu. Seinen Schild wegzuwerfen wird sogar gerichtlich verfolgt, aber das Stigma, das einem anhaftet, ist noch viel schlimmer. Es ist eine so schwere Anschuldigung, dass sie nur selten gegen irgendwelche hilflosen und widerwilligen Männer erhoben wird, die sich dessen tatsächlich schuldig machen. Meistens hat der Anführer einer Kohorte den Mann, mit dessen Feigheit er konfrontiert wird, verprügelt, ihn beim nächsten Angriff abgefüllt und ihn wieder in die Schlacht geschickt. Wegen Feigheit vor Gericht gestellt zu werden bleibt normalerweise Politikern vorbehalten, deren Feinde ein Mittel suchen, um sie zu ruinieren. Entweder das, oder aber ein reicher Mann wird Opfer dieser Anschuldigung, weil seine gierigen Verwandten ihn auf diese Weise seines Vermögens berauben wollen. Wird die Anklage bewiesen, verliert man augenblicklich alle Bürgerrechte.

»Warum ausgerechnet Grobiax?«, wundert sich Ghurd.

Wir beide kennen Grobiax. Er ist ein ungeschlachter, brutaler Bursche. Ein sehr guter Soldat, aber dumm wie ein Orgk. Gemein und böse, selbst zu Friedenszeiten.

»Ich bin ihm letzten Winter in die Quere gekommen«, erwidere ich. »Er wird liebend gern mitspielen, wenn Rhizinius ihm genug Geld dafür bietet.«

Natürlich werde ich meine Ermittlungen in Sachen Lisutaris nicht einstellen. Nicht einmal der König kann einen Bürger daran hindern, herumzulaufen und Fragen zu stellen. Allerdings kann mir das eine Menge Schwierigkeiten einbringen. Ich habe keinen gesetzlichen Status mehr, durch den ich meine Klienten schützen kann, und könnte von der Zivilgarde gezwungen werden, ihnen alles über jeden Fall zu erzählen, an dem ich gerade arbeite. Jedenfalls theoretisch. Praktisch kann die Zivilgarde von mir aus zur Hölle fahren.

»Alle können zur Hölle fahren. Wenn ich Grobiax das nächste Mal begegne, werde ich ihn umbringen. Ansonsten mache ich wie gewohnt weiter. Ich werde Lisutaris retten. Und ich werde auch Makris Unschuld beweisen. Selbst wenn ich sie hinterher umbringen muss, was durchaus passieren könnte.«

»Was soll ich wegen Tanrose unternehmen?«

»Geh und besuch sie. Nimm Blumen mit. Entschuldige dich dafür, dass du ihre Haushaltsführung kritisiert hast. Und sorg dafür, dass Makri sich nicht einmischt. Sie ist nicht dafür geeignet, normalen Menschen zu raten, wie sie ihr Leben führen sollen.«

»Glaubst du wirklich, ich sollte Tanrose fragen, ob sie mich heiratet?«

Da meine eigene Ehe ein solches Desaster gewesen ist, bleibe ich eine Antwort darauf lieber schuldig. »Ghurd, du weißt doch, dass ich so nützlich bin wie ein einbeiniger Gladiator, wenn es um Beziehungen geht.«

Bedauerlicherweise will Ghurd mich nicht ungeschoren davonkommen lassen. Er will wissen, was ich denke. Vermutlich schulde ich ihm eine vernünftige Antwort.

»Ja, heirate sie. Immerhin zahlst du ja schon Steuern. Da ist eine Ehe wahrscheinlich der nächste logische Schritt.«

Ghurd schenkt sich ebenfalls ein Glas Kleeh ein. Vermutlich flößt ihm die Aussicht auf eine Ehe mehr Angst ein als ein Kampf gegen Feinde, die uns in zwanzigfacher Übermacht gegenüberstehen. Was wir schon erlebt haben. Und zwar mehr als einmal.

Ghurd fällt ein, dass er Makri die gut besuchte Kaschemme überlassen hat, und er verschwindet, um ihr zu helfen. Aber Makri kommt mit der Situation ausgezeichnet zurecht.

Dandelion unterstützt sie dabei. Sie steht gerade hinter einem Zapfhahn und überlegt, wie das Ding wohl funktioniert. Einige neu angekommene Gäste sind allerdings ziemlich verwirrt, als sie sehen, dass der Tresen der Rächenden Axt jetzt von dem merkwürdigen Pärchen Makri und Dandelion geführt wird. Die Rächende Axt ist schließlich ein seriöses Trinkerfachgeschäft, und da ist man wenig erbaut über irgendwelche neuen Attraktionen.

»Hat das etwas damit zu tun, dass es draußen Frösche regnet?«, erkundigt sich ein Hafenarbeiter. Er ist ein Stammkunde und bisher nicht wegen übermäßiger Trunkenheit aufgefallen.

»Es regnet Frösche?«

Wir marschieren geschlossen nach draußen. Es regnet Frösche. Sie platschen auf die staubige Straße und springen dann schnellstens davon. Nach einer Minute hört es auf, und die Frösche verschwinden auf einen Schlag.

»So etwas habe ich noch nie gesehen«, meint ein Hafenarbeiter.

»Gestern habe ich ein Einhorn gesehen«, meint sein Gefährte. »Aber ich wollte es niemandem erzählen.«

Niemand kann den Froschschauer erklären. Aber man ist sich rasch einig, dass es ein schlechtes Zeichen und die Stadt dem Untergang geweiht ist. Bei diesem Gedanken stürmen die Leute schnellstens wieder an den Tresen und überschlagen sich mit ihren Bestellungen von Bier und Kleeh. Ich schüttele den Kopf. Einhörner, Zentauren und Frösche. Soll sich jemand anders einen Reim darauf machen. Ich bin immer noch empört wegen der Anschuldigung der Feigheit und mehr als bereit, jemanden für die Demütigung leiden zu lassen, die mir das zugefügt hat. Niemand kann erwarten, einen Mann wie Thraxas zu beschuldigen, vom Schlachtfeld zu desertieren, und dafür keine Konsequenzen in Kauf nehmen zu müssen. Der Nächste, der mich auch nur unfreundlich ansieht, wird sich als Empfänger einer saftigen Tracht Prügel wiederfinden. Vielleicht auch von etwas Schlimmerem.

Bedauerlicherweise ist die nächste Person, der ich begegne, Harm der Mörderische. Und das ist kein Mann, dem man so einfach eine Tracht Prügel verabreichen kann. Im Gegenteil. Harm ist einer der niederträchtigsten und mächtigsten Zauberer der Welt, ein völlig übergeschnappter Halb-Orgk aus den Ödlanden, der vor einem Jahr beinah unsere ganze Stadt vernichtet hätte. Er ist sehr stark, er ist sehr böse, er hasst Turai, und er hasst mich. Von daher ist es eine gelinde Überraschung, dass er gemütlich in meinem Büro hockt.

»Macht es Euch gemütlich, bitte sehr«, knurre ich ihn an. Mächtiger Zauberer hin oder her, ich hätte große Lust, ihm mein Schwert zwischen die Rippen zu jagen, bevor er auch nur eine Silbe eines Zauberspruchs über die Lippen bringt. Ich will von ihm wissen, was er hier will.

Harm der Mörderische ist ein ausgesprochen faszinierend aussehender Zauberer. Er trägt immer nur Schwarz, hat leichenblasse Haut, langes dunkles Haar, ausgeprägte Wangenknochen, flicht Adlerfedern in sein Haar, und jeden seiner Finger schmücken Silberringe. Die meisten zeigen irgendwelche Schädelformen. Sein langer schwarzer Umhang hängt über dem Stuhl wie ein Paar Fledermausflügel.

»Seid Ihr immer so unhöflich zu Euren Gästen?«, fragt er und lacht. Sein Lachen klingt, als käme es direkt von der anderen Seite des Grabes. Als ich es das letzte Mal gehört habe, ritt er auf einem Kriegsdrachen über der Stadt. Er hatte gerade einen Zauber intoniert, der die ganze Bevölkerung in den Wahnsinn stürzte. Turai hätte sich beinah in einer blutigen Orgie aus Feuer und Gewalt selbst vernichtet, wenn nicht Lisutaris, die Herrin des Himmels, es im letzten Moment geschafft hätte, den Zauber zu neutralisieren. Trotzdem hatte die Verwüstung bereits weit um sich gegriffen. Es genügte, um Harm in den Rang eines ewigen Todfeindes von Turai zu befördern.

»Ich bin berühmt für meine Unhöflichkeit. Und jetzt verschwindet aus meinem Büro.«

Harm geht nicht auf den Vorschlag ein. »Diese Stadt beeindruckt mich nicht gerade«, sagt er.

»Wir finden Euch auch nicht gerade beeindruckend«, erwidere ich.

»Ich hatte erwartet, dass mein Acht-Stadien-Terror-Bann Euch endlich ausradieren würde. Ich war ganz fürchterlich enttäuscht, als das nicht geklappt hat.«

»Also habt Ihr Euch jetzt darauf verlegt, uns mit Fröschen zu bombardieren?«

»Frösche? Ihr meint diesen etwas ungewöhnlichen Sommerregen? Damit habe ich nichts zu schaffen.«

Obwohl Harm ein Halb-Orgk ist, spricht er ein ausgesprochen vornehmes Turanianisch. Zusammen mit seiner dicht unter der geschniegelten Oberfläche schlummernden Bösartigkeit hat das eine sehr beunruhigende Wirkung. Da ich aber keine Möglichkeit sehe, ihn aus meinem Büro zu vertreiben, ohne Gewalt anzuwenden, frage ich ihn schließlich, was er von mir will.

»Ich habe mit dem Gedanken gespielt, ob ich Euch engagieren soll, Detektiv. Vielleicht, damit Ihr mir ein gewisses Medaillon beschafft?«

»Ich bin beschäftigt«, erwidere ich barsch und lasse mir nicht anmerken, wie bestürzt ich bin. Wenn jetzt Harm der Mörderische in Turai herumläuft und nach dem Medaillon sucht, hat sich der Einsatz drastisch erhöht. Dabei stand schon vorher viel zu viel auf dem Spiel.

»Ihr wisst, dass Euch Prinz Amrag bald vernichten wird?«, erkundigt sich Harm.

Dieser plötzliche Themenwechsel überrumpelt mich. »Wird er das?«

»O ja. Der junge Prinz erweist sich als ein überraschend mächtiger Anführer. Er ist dabei, die Orgk-Länder zu vereinen. Zweifellos weiß Eure Regierung das bereits. Ich kann mir vorstellen, dass er in Bälde in der Lage ist, eine Armee aus dem Osten hierher zu führen.«

»Dann werden eine Menge toter Orgks feuerbestattet werden.«

Harm zuckt mit den Schultern. »Sicherlich. Aber er wird Euch von der Landkarte fegen, und auch die anderen Menschennationen. Ihr seid nicht mehr so stark wie früher, und die Elfen genauso wenig. Wie merkwürdig, dass sie ausgerechnet jetzt unter der verheerenden Wirkung von Boah leiden.«

Harm scheint einige sehr aktuelle Informationen zu haben. Noch vor wenigen Monaten war ich selbst weit unten im Süden auf den Elfeninseln. Es stimmt, dass die Droge Boah mittlerweile auch unter den Elfen Fuß gefasst hat, aber ich hätte nicht erwartet, dass sich diese Nachricht bis in die Ödlande herumspricht. Es sei denn, Harm hätte etwas damit zu tun, dass die Droge überhaupt die Elfeninseln erreichte. Er selbst ist Konsument und auch Lieferant der Droge, und er macht eine Menge Geld damit, dass er sie in die Menschenländer exportiert. Einschließlich Turai. Wir alle arbeiten fleißig an unserem eigenen Untergang und scheinen nicht in der Lage zu sein, etwas dagegen zu tun.

»Turai hat nur noch sehr wenige Bundesgenossen. Die Liga der Stadtstaaten hält nicht mehr sehr gut zusammen. Und die größeren Länder achten vor allem darauf, ihre eigenen Grenzen zu schützen. Niemand wird Turai helfen, wenn die Orgks das nächste Mal angreifen.«

»Seid Ihr hergekommen, um mir Nachhilfe in Politik zu geben? Ich bin nämlich sehr beschäftigt.«

»Natürlich«, fährt Harm fort, als hätte er mich nicht gehört, »stehe ich nicht unter der Fuchtel von Prinz Amrag. Mein Königreich in den Ödlanden ist niemals unterworfen und von einer der östlichen Orgk-Nationen regiert worden, und so wird es auch bleiben. Aber ich werde meine Streitkräfte den ihren anschließen. Manchmal langweilt man sich einfach so schrecklich. In Wahrheit freue ich mich bereits auf das Auftauchen eines neuen Kriegsherrn.« Er beugt sich auf dem Stuhl vor. »Aber ich schweife ab. Turai hat noch etwa ein Jahr. Und außerdem hat es etwas, was ich will. Vor allem dieses Medaillon.«

»Damit Ihr es Prinz Amrag geben könnt? Wenn Ihr glaubt, dass ich Euch dabei helfe, seid Ihr noch verrückter, als Ihr ausseht.«

Harm beugt sich vor. »Vielleicht sollte ich Euch jetzt einfach töten.«

»Vielleicht solltet Ihr einen Zauberspruch an mein schönes Zauberschutzamulett verschwenden, während ich Euch mein Schwert in den Leib jage.«

Harm lehnt sich zurück. Er ist vollkommen entspannt. »Ihr habt wirklich keine Angst vor mir, hab ich Recht? Das ist zwar ziemlich dumm von Euch, aber irgendwie auch bewundernswert. Sagt warum Ihr die Stadt schützen wollt.«

»Ich lebe hier.«

»Ihr könntet überall leben. Turai mag Euch nicht. Ich habe mich unten versteckt, als der unerfreuliche Behördenbonze mit dieser Anschuldigung auftauchte, dass Ihr einmal vom Schlachtfeld desertiert wärt. Eine Beschuldigung, die ich kaum für wahr halte. In meinem Königreich würde niemand solch eine Beschuldigung erheben können. Natürlich sind solche Anklagen in den Ländern, die Ihr zivilisiert nennt, an der Tagesordnung. Hier wird ein wahrer Krieger immer von seinen feigen Feinden zur Strecke gebracht.«

Es gefällt mir gar nicht, dass Harm der Mörderische so kluge Sachen sagt, und ich frage ihn direkt nach dem Medaillon.

»Was habt Ihr damit zu tun?«

»Es wurde mir zum Kauf angeboten.«

»Von Sarin der Gnadenlosen?«

»Allerdings.«

»Ich glaube mich erinnern zu können, dass Ihr Euch bei Eurer letzten gemeinsamen Arbeit ziemlich zerstritten habt.«

Harm wischt das mit einer eleganten Handbewegung beiseite. »Wir mögen gestritten haben. Aber es war nicht das letzte Mal, dass wir zusammengearbeitet haben. Es war nur das letzte Mal, von dem Ihr erfahren habt. Seitdem haben wir bei verschiedenen sehr profitablen Unternehmungen Hand in Hand gearbeitet.« Harm lächelt. »Ich sehe, dass Euch das beunruhigt, Detektiv. Glaubt Ihr denn wirklich, dass Euch alles zu Ohren kommt, was in dieser Stadt passiert?«

»Ich weiß jedenfalls, dass Sarin das Medaillon nicht hat.«

»Leider hat sie es nicht, nein. Nachdem ich mich der beträchtlichen Mühe unterzogen habe, dieser elenden Stadt einen Besuch abzustatten – natürlich war ich gezwungen, eine Vielzahl von Verkleidungszaubern zu benutzen –, muss ich jetzt feststellen, dass der gewünschte Gegenstand verschwunden ist. Die Transaktion wurde von Georgius Drachentöter gestört, den ich mit Freuden von dieser Welt entfernen werde. Wirklich, Thraxas, es war einfach lächerlich. Das Medaillon ist entweder von Sarins oder Georgius’ Handlangern erst hierhin und dann dorthin geschafft worden. Und keiner von diesen Burschen konnte der Versuchung widerstehen, einen Blick hineinzuwerfen. Was sie natürlich wahnsinnig gemacht hat. Jetzt ist es verschwunden, und wer das Medaillon auch hat, er scheint es sehr erfolgreich verstecken zu können. Dabei hätte ich es so gern in meinem Besitz. Als Werkzeug für Weitsicht ist es geradezu einzigartig. Es gibt nichts Vergleichbares im Osten oder im Westen. Nur das elfische Glas von Ruyana kann sich damit vergleichen. Allerdings befindet sich dieses Elfenglas außerhalb meiner Reichweite. Jedenfalls im Moment.«

»Wie hat Sarin überhaupt von der Existenz des Medaillons erfahren?«

»Ich habe keine Ahnung«, gibt Harm gelangweilt zu. »Als sie es mir zum Verkauf angeboten hat, mochte ich mich nicht mit den armseligen Einzelheiten belasten.«

»Sehr achtlos von Euch, Harm. Hättet Ihr auf die Einzelheiten Acht gegeben, dann befände sich das Medaillon mittlerweile vielleicht schon in Eurem Besitz.«

»Vielleicht. Aber ich konnte nicht wissen, dass sich Georgius Drachentöter in das Geschäft einmischen würde. Ich habe diese ziemlich alberne Prügelei in dem Lagerhaus beobachtet. Das Medaillon wurde von einem Mann weggeschafft, den ich nicht kenne. Aber ich habe ihn mittels meiner Zauberei verfolgt und hätte ihn abgefangen, wenn sich Georgius nicht schon wieder eingemischt hätte. Als ich Drachentöter vertrieben hatte, war das Medaillon erneut fort. Aus irgendeinem Grund kann es nicht von Zauberei aufgespürt werden. Aber ich bin sicher, dass Ihr dies bereits wisst.«

»Ich habe davon gehört, ja. Also erwartet Ihr, dass ich es für Euch suche?«

»Warum nicht? Ich zahle Euch erheblich mehr als Lisutaris, die Herrin des Himmels.« Harm schnaubt verächtlich, als er ihren Namen ausspricht. »Ich musste wirklich lachen, als ich hörte, dass sie zur neuen Oberhexenmeisterin der Zaubererinnung gewählt wurde. Und ich habe gehört, dass Ihr dabei Eure Hand im Spiel hattet. Ich habe Euch bei unserer ersten Begegnung falsch eingeschätzt. Ihr seid ein Mann von beachtlicher Kompetenz, Thraxas.«

Ich kann es nicht erklären, aber irgendwie haben Harms treffsichere Komplimente einen überzeugenden Klang. Ich muss ihn schnellstens hinauswerfen, bevor er mich auf seine Seite ziehen kann.

»Vielleicht«, fährt Harm fort, »könntet Ihr mir das Medaillon bringen?«

»Es Euch bringen?«

»Ich würde Euch sehr gut bezahlen. Und da Eure Stadt auf Eure Talente keinen Wert zu legen scheint, könnte mein Königreich Euch ein sehr komfortables Heim bieten …«

Ich frage mich, wie das wohl aussehen würde. Thraxas, Oberster Ermittler der Ödlande. Das klingt gar nicht so schlecht.

»Obwohl viele meiner Untertanen bedauerlicherweise sehr primitiv sind, besitze ich einen prächtigen Palast in den Bergen. Er ist so gut wie uneinnehmbar und erheblich besser möbliert als diese …« Er bemüht sich, ein passendes Wort zu finden. »… dieser Ort, den Ihr Euer Heim schimpft.«

Ich sehe mich in meinem Büro um. Es ist wirklich sehr unerfreulich. Und tatsächlich kein Ort, an dem ein Mann wie ich leben sollte.

»Stimmt es nicht, dass die Oberschicht in Turai sich verschworen hat, Euch zu vernichten, Thraxas? Sie hat Euch bei jeder Gelegenheit enttäuscht und ihren boshaften Einfluss eingesetzt, um Euch klein zu halten. Obwohl sich doch in Wahrheit ein Mann mit Euren Talenten in einer Position befinden sollte, deren Autorität sich weit über diese Narren erhebt.«

»Das stimmt.«

»Und damit nicht genug, jetzt greifen sie auch noch das Herz Eures Seins mit dieser ungeheuren Beschuldigung der Feigheit an. Ihr habt in all den Jahren dieser Stadt besser gedient als jeder andere, aber werden ihre Führer Euch jetzt zu Hilfe kommen?«

»Nein, werden sie nicht.«

Was Harm sagt, macht Sinn. Ich lasse meine Faust wütend auf den Tisch heruntersausen, und prompt steigt eine Staubwolke auf. »Die turanianische Aristokratie ist ein mieser, heimtückischer Haufen von Feiglingen, die seit meiner Geburt an meinem Sturz arbeiten. So, jetzt habe ich aber die Nase davon voll!«

Die Tür öffnet sich, und Makri kommt herein. Beim Anblick von Harm bleibt sie wie angewurzelt stehen und zieht sofort das versteckte Messer aus ihrem Stiefel.

»Spar dir die Mühe, Makri«, sage ich beruhigend. »Harm ist nur vorbeigekommen, weil er mich engagieren wollte.«

»Was?«

»Er ist auf unserer Seite. Wir müssen ihm helfen, das Medaillon zu finden.«

»Bist du verrückt? Als wir diesen Kerl das letzte Mal gesehen haben, hat er versucht, uns umzubringen.«

»Das war nur ein Missverständnis. Unser wahrer Feind ist der König.«

Makri steckt das Messer in den Stiefel zurück, marschiert auf mich zu und verpasst mir eine Ohrfeige. Das Wort Ohrfeige trifft den Sachverhalt vielleicht nicht ganz. Es ist eine Art Schlag mit der offenen Hand, den sie in der Gladiatorenarena gelernt hat, um damit ohne Waffen einem Troll den Kopf vom Rumpf zu trennen. Der Angriff ist so heftig und unerwartet, dass ich trotz meiner nicht unbeträchtlichen Körpermasse in die Knie gehe. Es klingelt in meinen Ohren, und ich sehe einen Haufen Sterne. Dann blicke ich hoch und bekomme gerade noch mit, wie Makri den nächsten Schlag auf die andere Seite meines Gesichts landet. Ich habe Schmerzen, bin verwirrt und insgesamt mit dem Lauf der Dinge ziemlich unzufrieden.

»Thraxas!«, schreit Makri und fängt an mich zu schütteln.

»Erkennst du denn keinen Überredungszauber, wenn man dich damit einwickelt? Du solltest doch Ahnung von Zauberei haben, um Himmels willen! Hör auf, vor diesem wahnsinnigen Halb-Orgk herumzukriechen, und besinne dich wieder auf dein altes, lümmelhaftes Selbst!«

Angesichts von Makris Wut klären sich meine Gedanken. Mir wird klar, dass Harm tatsächlich einen Überredungszauber eingesetzt hat. Er war mächtig genug, langsam durch mein Zauberschutzamulett zu sickern. Es war unglaublich blöd von mir, dass ich es nicht gemerkt habe. Mühsam stehe ich wieder auf.

»Mach dir keine Sorgen«, erkläre ich Makri. »Mir geht’s gut. Ein schwächerer Mann als ich wäre sicher darauf hereingefallen.«

Ich trete vor Harm und weise ihn aus meinem Büro. Harm achtet jedoch überhaupt nicht mehr auf mich. Er ist völlig von Makri fasziniert. Und zwar so fasziniert, dass er sich von seinem Stuhl erhebt, durch das Zimmer schreitet und ihr die Hand küsst. Das sieht man in ZwölfSeen nicht alle Tage.

»Ihr seid hinreißend«, sagt er und starrt sie an.

»Versucht Euren Überredungszauber gar nicht erst bei mir«, droht ihm Makri.

»Ich hätte nie erwartet, einer solchen Frau im Westen zu begegnen.«

Makri schlägt Harm mitten ins Gesicht. Sie reagiert so schnell, dass Harm der Mörderische vor ihren Füßen zusammenbricht, bevor er weiß, wie ihm geschieht.

Ich mustere den schwarzen Haufen von einem Zauberer. Und wünsche mir, ich hätte den Schlag gelandet.