11. KAPITEL

Nach der Hälfte der Strecke verlässt mich meine Zuversicht. Vor dem Warenhaus befindet sich nur der harte Boden der Tatsachen, und ich stürze in einem gottlosen Tempo darauf zu. Ich verfluche Georgius, Sarin, Lisutaris und das feindselige Schicksal, das es seit meiner Geburt auf mich abgesehen hat. Das bringt mich bis auf drei Meter an den Erdboden heran. Ich schließe die Augen. Und bremse sanft ab. Wohlwollende Zauberei, vermutlich die von Lisutaris, hat mich gerettet. Ich lande auf den Füßen, mein Schwert in der Faust, und stürme sofort in das Warenhaus zurück. Ich werde Georgius Drachentöter zeigen, dass ich kein Mann bin, den man einfach so aus einem hohen Fenster werfen kann, ohne unter den Konsequenzen zu leiden.

Drinnen hat sich die Lage beträchtlich verkompliziert. Mittlerweile haben sich noch mehr Leute in dem Lagerhaus eingefunden. Und sie führen eine ausgewachsene Schlacht auf, die auf der ganzen Länge der Holztreppe tobt. Ich erkenne einige Mitglieder der Bruderschaft aus dem Viertel, die mit Gegnern kämpfen, die ich dem Freundeskreis zurechne. Und dann nähern sich auch hastig fünf oder sechs Uniformierte der Palastwache, des Königs eigener Geheimdienst.

»Ein ziemliches Durcheinander, was, Thraxas?«, sagt eine Stimme hinter mir.

Es ist Demanius, aus Luxius’ Detektei.

»Was machst du denn hier?«, will ich wissen.

»Dasselbe wie du«, antwortet Demanius.

»Ich mache gar nichts.«

»Ich auch nicht.«

Der Kampf über unseren Köpfen verschärft sich. Einige der Kämpfer werden von der Treppe in die Gänge gedrängt, und ich versuche, mich durchzuschlagen. Meine Klientin ist da oben, kämpft mit Georgius Drachentöter und Sarin der Gnadenlosen, und ich sollte wohl bei ihr sein.

Als vier Bewaffnete des Freundeskreises mir mit gezückten Schwertern den Weg versperren, schießt mir kurz durch den Kopf, wie schön es wäre, Makri an meiner Seite zu haben. Allerdings würde sie vermutlich sowohl die Palastwache als auch meine Gegner abschlachten und so die ganze Sache nur noch verschlimmern. Makri kann sich einfach nicht beherrschen, wenn sie ihre Axt erst mal ausgepackt hat.

Aber ich bin auch so nicht allein. Demanius taucht an meiner Seite auf, und wir stellen uns gemeinsam unseren Feinden. Der Freundeskreis ist hier weit von seinem Territorium entfernt. Es ist gefährlich für dessen Mitglieder, sich südlich über den Fluss zu wagen, wo die Bruderschaft ihr Zepter schwingt. Ich vermute, dass diese Schläger am liebsten so schnell wie möglich verschwinden würden, da sie jetzt erkennen müssen, dass ihr Plan fehlgeschlagen ist. Ich will ihnen gerade die Gelegenheit dazu geben und damit ein großes Gemetzel vermeiden, als hinter mir die Pfeife eines Zivilgardisten ertönt. Ich riskiere einen Blick zurück. Zwanzig Zivilgardisten unter der Leitung von Hauptmann Rallig stürmen in das Lagerhaus.

Die Kämpfer des Freundeskreises verlieren schlagartig ihr Interesse an mir, weil sie auf keinen Fall von der Zivilgarde gefasst werden wollen. Sie drehen sich um und fliehen die Treppe hinauf. Ich folge ihnen, und Demanius hat sich an meine Fersen geheftet.

Jetzt ist das Lagerhaus voller Bruderschaftsbrüder, Freundeskreisfreunde, Palastwachenwächter, Zivilgardegardisten und einem Haufen Detektive, Zauberer und mörderischer Abenteurerinnen. Also kann ich wohl behaupten, dass sich jede Geheimnistuerei um Lisutaris’ Problem hiermit erledigt hat. Als ich den zweiten Stock erreiche und Harmonius AlpElf mit wehendem Regenbogenumhang durch ein Fenster hereingesegelt kommt, wird mir klar, dass sich Lisutaris, Herrin des Himmels, wohl einer scharfen Befragung durch die Zaubererinnung gegenübersieht, falls ihr Verhör bei der Palastwache jemals endet. Natürlich nur, wenn Lisutaris überhaupt überlebt. Ich ignoriere das Kampfgetümmel und stürme die Treppe hinauf.

Ich befinde mich unmittelbar unter dem obersten Stockwerk, als ein Blitz aufflammt und eine Explosion das Gebäude erschüttert. Holz und Steine regnen mir auf den Kopf. Die Bodendielen knarren Furcht erregend, als magische Kräfte die Bude unnachgiebig auseinander nehmen. Überall schreien die Leute vor Panik auf, als das Lagerhaus heftig zu schwanken anfängt.

»Raus hier!«, brüllt Demanius.

Ich laufe weiter. Ich muss meine Klientin retten. Ihr magischer Zweikampf mit Georgius Drachentöter hat das Lagerhaus vernichtet, und ich kann nicht wissen, ob sie nicht bewusstlos am Boden liegt, während Sarin die Gnadenlose mit einer Armbrust auf sie zielt.

Die Wände verbiegen sich, und Holzstücke fliegen mir um die Ohren, während ich in das oberste Stockwerk des Lagerhauses stürme. Ein Feuer ist ausgebrochen, und Rauch quillt hervor und breitet sich rasch aus. Als ich endlich den letzten Raum im obersten Stock erreiche, stürzt das Dach ein. Ich werde von einem Dachsparren von den Füßen geholt, der mich auf dem Boden festnagelt. Vergeblich versuche ich, mich zu befreien.

»Thraxas?«

Lisutaris steht über mir. Sie wirkt gelassen und unbekümmert. »Ich habe Euch eine sichere Landung gewährt. Warum seid Ihr zurückgekommen?«

»Um Euch zu retten.«

Ich glaube, Lisutaris lächelt. In dem dichten Rauch kann ich das nicht genau erkennen.

»Danke«, sagt sie nur.

Die Zauberin wedelt mit der Hand. Der Dachsparren fliegt weg. Ich rapple mich mühsam hoch.

»Wir müssen hier weg!«, keuche ich. »Das Gebäude stürzt gleich in sich zusammen.«

Es gibt einen Knall, der sich anhört, als würde ein ganzes Schwadron Kriegsdrachen auf die Erde fallen, und dann bricht das Lagerhaus zusammen. Zum zweiten Mal in wenigen Minuten finde ich mich etwa dreißig Meter hoch in der Luft wieder, und habe nichts, was meinen Sturz mindern könnte.

Nichts?

Lisutaris ist neben mir. Wir schaukeln beide sanft in der Luft. Es ist ein sehr angenehmes Gefühl.

»Seid Ihr wirklich zurückgekommen, um mich zu retten?«

»Ja.«

»Das Gebäude drohte einzustürzen. Das war sehr dumm von Euch.«

»Ich habe eine Verpflichtung meinen Klienten gegenüber.«

Der Wind bläst Rauch aus den Trümmern um unsere Gesichter. Von dieser Höhe aus habe ich einen sehr guten Überblick über ZwölfSeen. Aber es sieht trotzdem nicht besser aus.

Wir sinken, sehr, sehr sanft.

»Sind das Zivilgardisten?«, erkundigt sich Lisutaris.

»Ich fürchte ja. Die Palastwache ist auch da. Und Harmonius AlpElf.«

»Was will der denn?«

»Vielleicht wird die Zaubererinnung allmählich neugierig.«

Lisutaris runzelt die Stirn. Ihr langes Haar flattert im Wind. »Wollt Ihr damit sagen, dass mein Geheimnis keines mehr ist?«

»Sie haben Verdacht geschöpft. Was ist mit Georgius und Sarin passiert?«

Das weiß Lisutaris auch nicht. Es war zwar nicht schwer für sie, Georgius in dem magischen Zweikampf zu besiegen, aber sie war nicht in der Lage, ihn daran zu hindern, das Gebäude mit einem Explosivbann zu sprengen, der ihm die Flucht ermöglichte.

»Was mit Sarin geschehen ist, weiß ich nicht.«

Wenn ich Glück habe, ist sie elendiglich zugrunde gegangen. Mittlerweile sind wir fast am Erdboden angekommen. Ein großes Empfangskomitee sieht bereits gespannt unserer Landung entgegen.

»Was soll ich ihnen sagen?«, erkundigt sich Lisutaris.

»Sagt gar nichts.«

»Nichts? Das wird kaum jemanden überzeugen.«

»Ihr steht im Rang höher als all diese Leute. Streitet alles ab, bis Euch der Konsul selbst in einem Gerichtssaal unter Eid nimmt. Und überlasst es mir zu reden.«

Lisutaris’ Mundwinkel senken sich nach unten. »Ich fürchte, ich bin erledigt. Trotzdem vielen Dank, dass Ihr mich retten wolltet.«

Wir landen ein kurzes Stück von dem brennenden Lagerhaus entfernt und werden sofort umzingelt. Fragen prasseln von allen Seiten gleichzeitig auf uns ein. Hauptmann Rallig ist besonders hartnäckig. Das hier ist sein Turf, und er mag es gar nicht, wenn bewaffnete Banden Lagerhäuser in Brand setzen.

»Oder habt Ihr etwa das Lagerhaus mit Zauberei in Brand gesetzt?« Er sieht Lisutaris an.

Harmonius AlpElf steht daneben und wartet auf seinen Auftritt. Soweit ich weiß, haben auch die ranghöchsten Zauberer Turais nicht die Macht, offiziell die Oberhexenmeisterin ihrer Innung zu tadeln, aber es wird Lisutaris’ Ruf ruinieren, wenn sie sich gegen sie wenden. Ein Mann, der der Anführer der Palastwachen zu sein scheint, die bedauerlicherweise von Rhizinius, meinem eingeschworenen Erzfeind, befehligt werden, mischt sich in das allgemeine Tohuwabohu ein. Alle sehen Lisutaris an und warten auf eine Erklärung. Da schnellstens Maßnahmen ergriffen werden müssen, tritt der dafür zuständige Mann vor und hebt die Hand.

»Es handelt sich um eine offizielle Angelegenheit des Tribunats«, verkünde ich laut. »Lisutaris ist auf mein Bitten hier erschienen und hilft mir bei einer Ermittlung. Infolgedessen verbiete ich ihr, von den heutigen Ereignissen zu sprechen. Ein ausführlicher Bericht wird dem Konsul in Kürze vorgelegt werden.«

Die Anwesenden schweigen wie betäubt. Weder Zivilgardisten noch die Palastwache haben damit gerechnet, dass ein Privatdetektiv ihnen Befehle erteilt. Aber aus irgendwelchen Gründen, für deren Erläuterung man einen ausgefuchsten Historiker brauchen würde, waren die Machtbefugnisse der Tribunen sehr groß und konnten nur durch den Senat aufgehoben werden. Es wundert mich gar nicht, dass die Behörden diese Institution schließlich der Vergessenheit anheim fallen ließen. Aber ihre Machtbefugnisse wurden niemals rechtskräftig aufgehoben, so dass sich noch heute alle daran halten müssen. Hauptmann Rallig kennt sich mit dem Gesetz gut genug aus, um auf jeden Einwand zu verzichten. Aber als ich Lisutaris wegführe, nimmt er mich zur Seite.

»Du schaufelst dir da eine ziemlich große Grube, Thraxas. Ich weiß zwar nicht genau, was hier vorgeht, aber wenn du etwas für Lisutaris unter den Teppich kehren willst, wird die Regierung über dich kommen wie die Mutter des Bösen Banns. Und erwarte nicht von ihr, dass sie für dich eintritt, wenn du vor einen Senatsausschuss zitiert wirst.«

»Das tue ich auch nicht.«

»Weißt du etwas von Zentauren? Wir haben Berichte von irgendwelchen Verrückten vorliegen, die angeblich gesehen haben wollen, wie drei von ihnen hier herumgetrabt sind.«

»Das stimmt. Ich habe sie ebenfalls kurz gesehen.«

Dem Hauptmann schmeckt das alles ganz und gar nicht. »Gestern waren es Einhörner, heute sind es Zentauren. Zuerst dachte ich, es wären Boahgespenster, aber jetzt bin nicht mehr so sicher.« Er wendet sich an Lisutaris. »Kennt Ihr einen Grund, aus dem merkwürdige magische Gestalten plötzlich in der ganzen Stadt auftauchen könnten?«

»Ich habe keine Ahnung«, antwortet Lisutaris, und damit ist die Angelegenheit erledigt. Ein Hauptmann der Zivilgarde kann kein Verhör dritten Grades bei der Oberhexenmeisterin der Zaubererinnung anwenden. Lisutaris geht, und ich folge ihr.

Hauptmann Rallig ruft uns etwas nach: »Ich hab im Lagerhaus kurz durchgezählt. Sechs Tote. Wie viele erwartest du noch, bevor der Fall gelöst ist?«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, rufe ich zurück. Mir schwant Übles.

»Ich habe eine Wette auf zwanzig laufen. Wie stehen da die Chancen?«

Ich würdige ihn keiner Antwort, sondern führe Lisutaris auf die gepflasterte Straße, auf die ich beinah herabgestürzt wäre. Hinter uns taucht der Feuerbekämpfungskarren auf und löscht geschickt den Brand. Sie haben ihre Pferde so ausgebildet, dass sie Feuer nicht mehr fürchten. Es ist eine großartige Einrichtung. Die Zivilgardisten verhaften alle übrig gebliebenen Bandenmitglieder. Harmonius AlpElf starrt uns hinterher. Soll er doch starren. Ich habe ihm noch nicht verziehen, dass er mich einen Schwachsinnigen genannt hat. Wir verlassen den Schauplatz standesgemäß in Lisutaris’ Kutsche.

»Ich glaube, es gibt keinen Auslieferungsvertrag zwischen Turai und Abelasi«, sagt sie.

»Und?«

»Ich überlege gerade, wohin ich am besten fliehen kann.«

»Fliehen? Schlagt Euch das aus dem Kopf. Wir sind noch nicht geschlagen.«

»Wir haben weniger als zwei Tage Zeit, einen Gegenstand wiederzubeschaffen, der sich bisher all unseren Nachforschungen entzogen hat. Und selbst wenn wir ihn finden, bin ich ruiniert. Es gibt jetzt keine Möglichkeit mehr, es geheim zu halten.« Lisutaris zieht eine Thazisrolle aus einer großen Innentasche ihres Gewands.

»Verzweifelt nicht. Ich gebe nicht so leicht auf. Außerdem weiß keiner von diesen Leuten, was genau hier vorgeht. Solange Ihr nicht zugebt, dass Ihr das Medaillon verloren habt, bleibt alles Gerücht und bloße Vermutung. Die Oberhexenmeisterin der Zaubererinnung hat es nicht nötig, auf Gerüchte zu reagieren. Streitet einfach weiterhin alles ab.«

»Und wenn jemand anderes das Medaillon findet?«

»Dann leiste ich Euch in Abelasi Gesellschaft. Aber dazu wird es nicht kommen. Ich finde es vorher.«

Lisutaris ist nicht überzeugt. Genauso wenig wie ich. Aber ich bin eben stur.

»Habt Ihr eine Theorie, was die Zentauren betrifft?«

»Nein. Ich kann ihr Auftauchen auch nicht erklären. Was meinte Hauptmann Rallig, als er Euch wegen der Zahl der Leichen gefragt hat?«

»Ich vermute, dass er einfach nur Informationen wegen seines Berichts brauchte. Ihr kennt diese Gardisten ja. Sie haben es gern, wenn ihre Statistiken stimmen.«

Lisutaris schenkt mir einen viel sagenden Blick aus ihren großen Augen. »Ich bin die Oberhexenmeisterin der Zaubererinnung«, erinnert sie mich.

Da ich das schon weiß, bedeutet ihr Hinweis wohl, ich soll nicht versuchen, sie mit einer Lüge abzuspeisen.

»Es hat sich herumgesprochen, dass ich in einem großen Fall ermittle«, gebe ich zu. »Das ist die Schuld dieser verrückten Frau. Dandelion, die mit den Delfinen spricht. Sie hat in den Sternen gelesen, dass ich in ein Blutbad verwickelt werden würde, und seitdem haben die Stammgäste der Rächenden Axt Wetten auf die genaue Zahl der Leichen beim Abschluss des Falles abgegeben.«

Lisutaris sieht mich erstaunt an. Ihre Pupillen weiten sich. Ich bereite mich darauf vor, aus der Kutsche zu springen. Und dann … lacht sie. »Sie wetten?« Anscheinend findet sie das lustig. »Wir versuchen hier verzweifelt, die ganzen Ereignisse vor dem Konsul zu verheimlichen, und in der Rächenden Axt platzieren sie Wetten?«

»Ich habe ihnen eindringlichst geraten, davon abzusehen.«

»Warum? Auf wie viel hat Makri gesetzt?«

»Auf vierzehn Kadaver.«

»Viel zu wenig, fürchte ich«, meint Lisutaris.

»Stimmt. Ich glaube, wir liegen jetzt schon bei einundzwanzig.«

»Wie hoch ist die Quote?«

»Fünfzig zu eins für die genaue Zahl, und zwanzig zu eins, wenn man innerhalb einer Marge von höchstens drei Leichen landet.«

»Habt Ihr immer noch das Geld, das ich Euch für die Wiederbeschaffung des Medaillons gegeben habe? Wenn ja, dann setzt für mich auf fünfunddreißig«, bittet mich Lisutaris.

»Seid Ihr sicher?«

»Natürlich. Warum sollte ich in Anbetracht meiner jüngsten Verluste beim Wagenrennen diese Gelegenheit verstreichen lassen?«

»Weil die ganze Sache unethisch ist.«

»Eine Wette ist eine Wette«, sagt Lisutaris.

Ich fühle, wie sich ein Mühlstein von meinen Schultern hebt. Außerdem wird mir schlagartig klar, warum ich wegen der ganzen Angelegenheit so wütend war. Nur deshalb, weil ich mir einbildete, selbst keine Wette platzieren zu dürfen. Kaum vorzustellen: Thraxas, die ungekrönte Nummer eins unter den Spielern von ZwölfSeen, der mitten in einem wunderbaren sportlichen Wettbewerb steckt und daran gehindert wird mitzumischen – und das ausgerechnet aus ethischen Gründen. Kein Wunder, dass ich mich schlecht fühlte. Aber jetzt, mit der Einwilligung meiner Klientin, darf ich mich ins Getümmel stürzen. Was für eine Erleichterung!

»Schön. Aber glaubt Ihr wirklich, dass wir fünfunddreißig schaffen?«

»Mindestens«, sagt Lisutaris. »Ich kann es fühlen.«

Während die Kutsche weiterrumpelt, stelle ich einige ernsthafte Kalkulationen an, auf welche Zahl ich meine eigene Wette platzieren soll. Ich werde diesem Abschaum von der Rächenden Axt zeigen, wozu ein wahrhafter Spieler in der Lage ist. Der Grünschnabel Moxalan wird bitterlich bedauern, jemals ins Wettgeschäft eingestiegen zu sein, wenn ich mit ihm fertig bin.

Lisutaris lässt mich am Quintessenzweg aussteigen. Die Fischfrau und der Messerschärfer streiten schon wieder. Aber ich habe andere Sorgen als keifende Straßenverkäufer. Makri zum Beispiel, die sich schon wieder in meinem Büro verkrochen hat.

»Willst du vielleicht jede deiner Pausen hier verbringen, bis diese Dandelion-die-mit-den-Delfinen-spricht verschwindet?«

»Vielleicht.«

»Siehst du, das ist eines deiner Probleme, Makri. Du tolerierst diese merkwürdige Sorte Menschen, und was hast du davon? Sie nutzen dich aus. In einer Stadt wie Turai zahlt es sich nicht aus, Leute zu tolerieren. Hier muss man hart sein.«

»Ich bin hart.«

»Mit einem Schwert, ja. Aber nicht mit Aussteigern. Da bist du nicht annähernd hart genug.«

»Sagt dir deine Religion nicht, dass du freundlich zu den Armen sein sollst?«, kontert Makri.

»Kann sein. Ich habe mich nie viel mit Religion befasst.«

»Was ist mit euren drei Gebeten täglich? Worum betest du?«

»Um persönliche Bereicherung, wie alle anderen auch.«

»Bin ich froh, dass ich keiner Religion angehöre«, erwidert Makri.

»Das liegt nur daran, dass du eine Barbarin bist, die ohne die Segnungen einer ordentlichen Bildung aufwachsen durfte.«

»Ich bin gebildet genug, um dieses Gespräch nicht weiter fortzusetzen, du fetter Heuchler.«

Sie zieht zwei Thazisrollen aus der Tasche, die sie hinter dem Tresen gestohlen hat. Wir zünden uns jeder eine an und rauchen sie schweigend. Das Thazis entspannt mich, und ich beschreibe ihr die Ereignisse des heutigen Tages.

»Alles in allem ein weiteres Desaster.«

»Wie viele Tote macht das jetzt?«, erkundigt sich Makri.

»Einundzwanzig. Aber es deutet alles darauf hin, dass es noch viel mehr erwischen wird. Ich denke, wir sollten ein paar Wetten rund um die Dreißiger abgeben und vielleicht auch eine auf die Vierzig setzen. Nur für den Fall, dass es wirklich rau wird.«

»Wie bitte?«, fragt Makri.

»Du musst die Wette natürlich für mich abgeben. Moxalan wird eine Wette von mir nicht annehmen, sondern mich wegen zu viel vertraulicher Information disqualifizieren.«

Makri ist baff. »Ich habe das Gefühl, dass mir schon wieder etwas entgangen ist. Du hast mir die letzten zwei Tage ständig in den Ohren gelegen, weil ich auf deine Ermittlungen wette, und jetzt sagst du mir, ich soll eine Wette für dich platzieren? Was hat sich geändert?«

»Nichts.«

»Was ist mit den ethischen Problemen?«

»Das Feld der Ethik überlasse ich gern den Philosophen. Lisutaris will ebenfalls wetten, und du solltest auch für sie eine Wette platzieren.«

»Gut. Solange ich mich in deinem Büro vor Dandelion verstecken darf.«

»Wenn es sein muss. Ich werde mir vielleicht etwas Geld von dir borgen müssen.«

»Was ist mit dem ganzen Geld, das Lisutaris dir gegeben hat?«

»Ich habe es ausgegeben. Für die Miete und eine Kiste Kleeh.«

»Ich habe kein Geld übrig«, behauptet Makri.

»Hast du wohl. Du hast dein Trinkgeld gespart, um für deine Prüfungen bezahlen zu können. Zufällig weiß ich, dass du mehr als hundert Gurans zu diesem Zweck in deinem Zimmer versteckt hast.«

»Wie kannst du es wagen …!«

Ich hebe beschwichtigend die Hand. »Bevor du eine Hetzrede vom Stapel lässt, darf ich dich vielleicht daran erinnern, dass ich dich vor noch nicht allzu langer Zeit dabei erwischt habe, wie du meine fünfzig Notfall-Gurans stehlen wolltest, die ich unter meinem Sofa verwahrt habe. Außerdem habe ich dir bei zahllosen Gelegenheiten mit Geld ausgeholfen.

Ganz zu schweigen davon, dass ich dich in die richtige Richtung bugsiert habe, als es darum ging, einige kühne Wetten zu platzieren. Also komm von deinem hohen ethischen Ross runter und mit dem Geld rüber. Mit meinen vertraulichen Informationen und deinem Geld gehen wir sozusagen auf Nummer Sicher. Du wirst genug gewinnen, um die Prüfungen nicht nur dieses, sondern auch nächsten Jahres zahlen zu können. Wahrscheinlich bleibt sogar noch etwas für eine neue Axt übrig.«

»Einverstanden«, sagt Makri. »Aber halt mir nie wieder darüber Vorträge.«

»Da würde ich nicht mal im Traum dran denken.«

»Bist du der Wiederbeschaffung des Medaillons näher gekommen?«

»Nein. Es ist frustrierend. Und dabei dachte ich am Anfang, es würde so leicht werden. Zauberer. Man kann ihnen nicht trauen.«

Die Wärme macht mich schläfrig. Als Makri wieder an ihre Arbeit geht, wehre ich mich nicht mehr gegen das Schlafbedürfnis.

Ich wache hungrig auf und gehe nach unten, um etwas von Tanroses Eintopf nachzufüllen. Ich hoffe, sie hat sich mit Ghurd wieder vertragen. Ich hänge so sehr von ihren Kochkünsten ab, dass mich die Aussicht, sie könnte die Kaschemme verlassen, mit Angst erfüllt. Moxalan ist in der Bar, und Makri nickt mir unauffällig zu. Sie hat unsere Wette platziert.

Trotz des üblichen Lärms der frühabendlichen Kunden scheint irgendetwas zu fehlen. Kein freundliches Aroma von Eintopf. Es riecht überhaupt nicht nach Essen. Ein merkwürdiges Gefühl beschleicht mich, und ich fange an zu zittern. Das ist mir noch nie passiert, nicht mal angesichts des tödlichsten Feindes. Ich befürchte das Schlimmste.

»Wo ist Tanrose? Wo ist das Essen?«

»Sie ist gegangen«, erwidert Ghurd und zapft mit einer solchen Wut eine Halbe, dass die Bierpumpe beinah in seiner Hand zerbirst.

»Und was ist mit dem Essen?«

»Tanrose ist fort«, wiederholt Ghurd und knallt einem eingeschüchterten Gast den Krug auf den Tresen.

»Hat sie was zu essen dagelassen?«

»Nein. Sie ist einfach nur gegangen.«

»Warum?«

»Makri hat es ihr geraten.«

»Was?«

»Ich habe ihr nicht geraten zu gehen«, widerspricht Makri.

Mein Zittern wird schlimmer. »Erzählt mir vielleicht mal jemand, was hier passiert ist?«, schreie ich. »Wohin ist Tanrose gegangen?«

»Zurück zu ihrer Mutter«, erwidert Ghurd tonlos. »Makri hat es ihr geraten.«

»Das ist eine nicht ganz korrekte Beschreibung der tatsächlichen Ereignisse«, protestiert Makri. »Ich habe nur vorgeschlagen, dass sie sich vielleicht ein bisschen Zeit nehmen sollte, sich über ihre Gefühle für Ghurd klar zu werden, und dann offen mit ihm darüber zu sprechen.«

Ghurd sackt zusammen wie ein Mann, der soeben eine tödliche Wunde empfangen hat. Ich ringe mit dem starken Bedürfnis, die Hände vors Gesicht zu schlagen.

»Was ist dann passiert?«

»Sie hat mir gesagt, sie habe genug davon, für einen Mann zu arbeiten, der zu niederträchtig sei, die Dinge zu schätzen, die sie für ihn tut«, berichtet Ghurd stöhnend. »Und dann hat sie ihre Sachen gepackt und ist gegangen.«

Makri mustert aufmerksam die Bodendielen vor ihren Füßen. »Das war nicht das Ergebnis, das ich erwartet habe«, sagt sie schließlich.

»Warum konntest du dich nicht da heraushalten?«, schreie ich sie an. »Jetzt sieh nur, was du angerichtet hast! Tanrose hat uns verlassen!«

Makri reagiert gereizt. »Ich habe nur versucht zu helfen. Wie du vorgeschlagen hast.«

»Thraxas hat es vorgeschlagen?« Ghurd sieht mich finster an.

»Ich habe nichts dergleichen getan! Makri, du widerwärtiges, orgkisches Scheusal, ist dir nicht klar, was du da gemacht hast?«

Makri klappt vor Schreck der Unterkiefer herunter. »Hast du mich gerade ein widerwärtiges orgkisches Scheusal genannt?«

»Allerdings. Und von all den lächerlichen Sachen, die du seit deiner Ankunft hier verbrochen hast, um uns zu piesacken, ist das hier das Schlimmste. Jetzt wird Ghurd den Rest seines Lebens so mürrisch wie eine niojanische Hure herumlaufen, und ich werde verhungern!«

»Warum konntest du dich nicht einfach heraushalten?«, schreit Ghurd.

Nach meiner Beleidigung war Makris erster Impuls, nach ihrem Schwert zu greifen, aber es verwirrt sie, dass sie sich jetzt einer neuerlichen Kritik von Ghurd gegenübersieht.

»Ich habe nur versucht…«

Dandelion taucht auf und mischt sich in unsere Plauderei.

»Thraxas, ich habe schreckliche Neuigkeiten für dich«, sagt sie.

»Ich hab sie schon gehört«, antworte ich. »Wir müssen sie zurückholen.«

»Wen?«

»Tanrose, natürlich.«

»Ist sie weg?«, erkundigt sich Dandelion.

»Natürlich. Das sind schreckliche Neuigkeiten.«

»Warum?«

»Was soll das heißen, warum? Diese Frau kocht den besten Eintopf in ganz Turai.«

Dandelion verzieht ihr Gesicht. »Ich verzehre kein Fleisch von Tieren«, erklärt sie hoheitsvoll.

Ich hole aus.

»Wag es nicht, Dandelion zu schlagen«, meint Makri und tritt zwischen uns.

»Vielleicht sollte ich dich stattdessen verprügeln.«

»Versuch’s doch.«

Makri hebt ihre Hände und baut sich in Verteidigungsstellung auf.

»Ich kann ohne Tanrose nicht leben«, jammert Ghurd. So fassungslos habe ich ihn noch nie erlebt. Ich habe einmal drei Pfeile aus seinen Rippen gepflückt, und er hat sich mit keiner Silbe beschwert.

»Du hörst ja gar nicht, was ich zu berichten habe«, bemerkt Dandelion ganz richtig.

»Wenn es etwas mit den Sternen zu tun hat, interessiert es mich auch nicht.«

»Die Sterne sind heilig!«

»Es interessiert mich trotzdem nicht.«

Aber diese Frau kann man nicht so einfach abschütteln. Dandelion hüpft praktisch wie verrückt von einem Bein aufs andere, weil sie mir unbedingt was sagen will. »Es ist eine sehr ernsthafte Warnung! Gestern Nacht gab es Blitze am Himmel, wie ich sie noch nie zuvor gesehen habe!«

»Ach ja?«

»Es war fast, als stände der Himmel in Flammen!«

»Hörst du endlich auf, mir irgendwelche Warnungen zu überbringen? Sie haben bereits genug Ärger verursacht!«

Meine Worte verletzen Dandelions Gefühle. Sie befummelt ihre Halskette, ein albernes Ding, das sie aus Muscheln gemacht hat, und meint leise, dass sie ja nur helfen wollte. Die Gäste in der Kaschemme tun mittlerweile lautstark ihre Meinung zu den verschiedenen Themen kund, die hier anstehen. Ghurd, Makri und ich werden mit Vorschlägen bombardiert. Die meisten finden, dass Ghurd losgehen und Tanrose augenblicklich einen Heiratsantrag machen sollte. Es gibt allerdings auch eine kleine, aber nicht minder laute Gruppe, die wissen will, ob Lisutaris wirklich jeden in einen Frosch verwandeln will, der sich ihrer heimlichen Liebesaffäre in den Weg stellt.

»Lisutaris hat keine heimliche Liebesaffäre.«

»Warum hat sie dich dann engagiert, damit du ihr Tagebuch wiederbeschaffst? Angeblich steckt es voller diskriminierender Liebesgedichte.«

»Wie viele Leute werden sich ihr in den Weg stellen?«, fragt Parax. »Reden wir hier von, sagen wir mal, drei Personen?«

»Wenn sie verschmäht wird«, weiß ein Hafenarbeiter, »dann kann sie ziemlich gewalttätig werden. Du weißt ja, wie Frauen so sind, wenn man sie abweist.«

Ghurd gibt jede Hoffnung auf und lässt sich auf einen Hocker hinter den Tresen fallen. Er will nicht einmal einen Krug Bier zapfen. Vielleicht kann er es auch gerade nicht. Makri fällt wieder ein, dass ich sie ein widerwärtiges orgkisches Scheusal genannt habe, und droht, mich zu töten. Ich teile ihr mit, dass ich sie ja liebend gern zu ihrer Mutter zurückschicken würde, wenn sie eine hätte, was ich ernstlich bezweifle. Man sollte meinen, dass die Lage kaum schlimmer sein könnte, als ein junger Regierungsbonze in einer gestärkten weißen Toga in die Kaschemme marschiert. Er ignoriert das Schwert in meiner Hand und drückt mir ein Dokument in die andere.

»Was ist das?«

»Eine Vorladung wegen Feigheit vor dem Feind.«

»Wegen was?«

»Ihr werdet vor einen Senatsauschuss zitiert, um über Euer Verhalten während der Schlacht von Sanasa Auskunft zu geben.«

Mir verschwimmt alles vor den Augen. Die Schlacht von Sanasa war vor siebzehn Jahren.

»Wovon redet Ihr überhaupt?«

»Es wird behauptet, dass Ihr Euern Schild im Stich gelassen habt und vom Schlachtfeld desertiert seid.«

Die Trinker in der Kaschemme halten wie ein Mann die Luft an. Seinen Schild auf dem Schlachtfeld im Stich zu lassen ist die schlimmste Anschuldigung, die man gegen einen turanianischen Bürger erheben kann. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass man mich einmal einer solchen Ungeheuerlichkeit beschuldigen könnte. Die Welt spielt wirklich verrückt.