Der Wind war abgeflaut, und im Vasapark rieselte der Regen friedlich auf eine doppelte Reihe von Losbuden, ein Kinderkarussell und zwei Polizisten in schwarzen Regenumhängen. Das Karussell war in Betrieb, und auf einem der Pferdchen aus bemaltem Blech saß ein einsames Kind.
Ein kleines Mädchen mit Kopftuch und rotem Plastikmantel, das mit ernster Miene, den Blick fest geradeaus gerichtet, immer rundherum fuhr. Ein Stück entfernt standen ihre Eltern unter einem Regenschirm und schauten dem Vergnügen wehmütig zu. Aus dem Park roch es frisch nach Laub und nassem Gras. Es war Samstagnachmittag und schließlich trotz allem Sommer.
Das Restaurant schräg gegenüber vom Park war fast leer. Das Einzige, was man in dem Lokal hörte, war das Rascheln der Abendzeitungen, in die sich einige ältere Stammgäste vertieft hatten, und das dumpfe Geräusch von Pfeilen, die im Dartzimmer die Zielscheibe trafen. Martin Beck und Kollberg setzten sich in den Pub, ein paar Meter vom Stammtisch Alf Matssons und seiner Kollegen entfernt. Dort saß jetzt niemand, aber mitten auf dem Tisch stand ein Glas, in dem ein roter Reservierungszettel steckte. Vermutlich steckte der immer dort. »Der Mittagsansturm ist jetzt vorbei«, sagte Kollberg. »Aber in ungefähr einer Stunde trudeln die Gäste wieder ein, und heute Abend ist es so gerammelt voll von Leuten, die herumstehen und sich gegenseitig mit Bier bekleckern, dass du kaum einen Fuß auf die Erde kriegst.«
Die Atmosphäre lud nicht gerade zu weitschweifigen Diskussionen ein.
Sie aßen ihr verspätetes Mittagessen schweigend. Draußen ergoss sich der schwedische Sommer. Kollberg leerte sein Bierglas, faltete seine Serviette zusammen, wischte sich den Mund ab und fragte:
»Ist es schwierig, da unten über die Grenze zu kommen? Ohne Pass?«
»Anzunehmen. Die Grenze soll ziemlich gut bewacht sein. Ein Ausländer, der die Verhältnisse nicht kennt, schafft das kaum.«
»Und wenn man auf legalem Weg ausreist, braucht man einen Pass mit Sichtvermerk?«
»Ja, und außerdem eine Ausreisegenehmigung. Das ist ein Zettel, den man bei der Einreise bekommt und der im Pass bleibt, bis man das Land verlässt. Dann nimmt ihn das Kontrollpersonal heraus. Die Polizei stempelt neben den Sichtvermerk auch das Ausreisedatum in den Pass.
Hier, schau!« Martin Beck zog seinen Pass aus der Innentasche des Jacketts und legte ihn auf den Tisch. Kollberg studierte die Stempel. Dann fragte er:
»Und wenn man sowohl den Sichtvermerk als auch die Ausreisegenehmigung hat, kann man jede beliebige Grenze passieren?«
»Ja. Du hast fünf Länder zur Auswahl: die Tschechoslowakei, die Sowjetunion, Rumänien, Jugoslawien und Osterreich. Und du kannst ausreisen, wie du willst: mit dem Flugzeug, dem Zug, dem Auto oder dem Schiff.«
»Mit dem Schiff? Aus Ungarn?«
»Auf der Donau. Von Budapest aus erreichst du mit einem Tragflächenboot in wenigen Stunden Wien oder Bratislava.«
»Und man kann radeln, gehen, schwimmen, reiten oder kriechen«, sagte Kollberg.
»Ja, vorausgesetzt, du benutzt einen Grenzübergang.«
»Und nach Osterreich und Jugoslawien reist man ohne Visum?«
»Das kommt darauf an, was für einen Pass man hat. Hast du beispielsweise einen schwedischen oder deutschen oder italienischen Pass, brauchst du kein Visum. Mit einem ungarischen Pass kannst du ohne Visum in die Tschechoslowakei oder nach Jugoslawien reisen.«
»Es ist aber kaum anzunehmen, dass er das getan hat.«
»Nein.«
Sie gingen zum Kaffee über. Kollberg betrachtete immer noch die Stempel in dem Pass.
»Die Dänen haben nicht gestempelt, als du in Rastrup angekommen bist«, sagte er. »Nein.«
»Dann gibt es also keinen Beweis dafür, dass du nach Schweden eingereist bist.«
»Nein«, sagte Martin Beck.
Einen Augenblick später fügte er hinzu: »Andererseits sitze ich hier.«
In der vergangenen halben Stunde waren eine ganze Menge Gäste eingetrudelt, und im Pub wurden schon die Tische knapp. Ein Mann Mitte dreißig kam herein und setzte sich an den Tisch mit dem roten Zettel, erhielt einen Krug Bier und blätterte zerstreut in seiner Abendzeitung. Ab und zu schaute er nervös zur Tür, als ob er auf jemanden wartete. Er trug einen Bart und eine dicke runde Hornbrille und war mit einem braunkarierten Tweedblazer, einem weißen Hemd, einer braunen Hose und schwarzen Schuhen bekleidet. »Wer ist das?«, fragte Martin Beck.
»Weiß nicht, die sehen alle gleich aus. Außerdem gibt es etliche Randfiguren, die nur hin und wieder auftauchen.«
»Molin ist es jedenfalls nicht, den kenne ich.«
Kollberg musterte den Gast aus den Augenwinkeln.
»Gunnarsson vielleicht.«
Martin Beck dachte nach.
»Nein. Den habe ich auch schon gesehen.«
Eine Frau betrat das Lokal. Sie war rothaarig und ziemlich jung, trug einen ziegelroten Jumper, einen Tweedrock und grüne Strümpfe. Sie verhielt sich ganz ungezwungen, ließ den Blick übers Lokal schweifen, bohrte in der Nase. Dann setzte sie sich an den Tisch mit dem roten Zettel und sagte:
»Tag, Pelle.«
»Tag, Süße.«
»Pelle«, wiederholte Kollberg. »Dann ist es Kronkvist. Und sie ist Pia Bolt.«
»Warum tragen die alle einen Bart?«
Martin Beck fragte das sehr gedankenvoll, als habe er lange über das Problem nachgegrübelt.
»Vielleicht sind es falsche Barte«, sagte Kollberg ernst.
Er schaute auf die Uhr.
»Bloß um uns das Leben schwerzumachen«, fügte er hinzu.
»Wir fahren am besten zurück«, sagte Martin Beck. »Hast du Stenström gesagt, dass er kommen soll?«
Kollberg nickte. Als sie gingen, hörten sie den Mann, der Pelle hieß, der Serviererin zurufen:
»Babs! Einen Schnaps!«
Etliche Leute lachten.
Im Polizeipräsidium war es sehr still. Stenström saß im Büro und legte Patiencen.
Kollberg beobachtete ihn kritisch und sagte:
»Fängst du jetzt schon damit an? Was machst du erst, wenn du alt bist?«
»Dasitzen und dasselbe denken wie jetzt: Warum sitze ich hier?«
»Du musst ein paar Alibis überprüfen«, sagte Martin Beck. »Gib ihm die Liste, Lennart.«
Stenström bekam die Liste. Er warf einen flüchtigen Blick darauf.
»Jetzt gleich?«
»Ja, heute Abend.«
»Molin, Lund, Kronkvist, Gunnarsson, Bengtsfors, Pia Bolt. Wer ist Bengtsfors?«
»Das ist ein Tippfehler«, sagte Kollberg mürrisch. »Soll Bengt Fors heißen. Das T auf meiner Maschine verhakt sich immer mit dem S.«
»Soll ich das Mädchen auch vernehmen?«
»Gern, wenn es dir Spaß macht«, erwiderte Martin Beck. »Sie sitzt im Tennstopet.«
»Kann ich offen mit ihnen reden?«
»Warum nicht? Routineuntersuchung im Fall Alf Matsson.
Mittlerweile wissen doch sowieso alle, worum es geht. Übrigens, wie kommen die im Rauschgiftdezernat voran?«
»Ich habe mit Jacobsson gesprochen«, sagte Stenström. »Sie haben die Fäden bald entwirrt.
Sobald die Junkies wussten, dass Matsson aufgeflogen ist, haben sie gequatscht. Mir kommt da übrigens ein Gedanke. Matsson hat an ein paar richtig kaputte Typen direkt verdealt und sich schamlos bezahlen lassen.«
Er verstummte.
»Ja, und?«, fragte Kollberg.
»Könnte es nicht sein, dass eines dieser armen Schweine, die er ausgenommen hat, also einer der Kunden ihn gewissermaßen satt hatte? «
»Doch, das könnte schon sein«, bestätigte Martin Beck ernst. »Vor allem im Kino«, sagte Kollberg. »In Amerika.« Stenström steckte den Zettel in die Tasche und stand auf. In der Tür drehte er sich um und sagte beleidigt: »Irgendwann kann hier doch auch mal was Neues passieren.«
»Schon möglich«, erwiderte Kollberg. »Du hast allerdings vergessen, dass Matsson in Ungarn abhandengekommen ist, als er dabei war, noch mehr für seine armen Kunden zu besorgen. Nun hau schon ab!«
Stenström ging.
»Das war jetzt gemein von dir«, sagte Martin Beck.
»Er kann ja wohl auch selbst mal ein bisschen nachdenken«, erwiderte Kollberg.
»Das hat er doch.«
»Ach was.«
Martin Beck trat auf den Gang hinaus. Stenström zog gerade seinen Mantel an.
»Schau dir ihre Pässe an.« Stenström nickte. »Und fahr nicht allein.«
»Sag bloß, die sind gefährlich«, sagte Stenström spitz. »Routine«, erwiderte Martin Beck.
Er ging wieder zu Kollberg hinein. Sie saßen schweigend da, bis das Telefon klingelte. Martin Beck nahm ab. »Das angekündigte Gespräch aus Budapest kommt um neunzehn Uhr statt um siebzehn Uhr«, sagte die Telefonistin von der Telefonvermittlung.
Sie ließen diesen Bescheid eine Weile auf sich einwirken. Dann sagte Kollberg:
»Mein lieber Mann, das ist nicht lustig.«
»Nein«, sagte Martin Beck.
»Das wird nicht lustig.« Ohne die Sache näher miteinander diskutieren zu müssen, ahnten beide, was in etwa geschehen war und was noch geschehen würde.
»Zwei Stunden«, sagte Kollberg. »Wollen wir ein bisschen durch die Gegend fahren und uns umsehen?«
»Ja, warum nicht.«
Sie fuhren über die Västerbron. Der Samstagsverkehr hatte nachgelassen, und die Brücke war fast leer. Auf halber Strecke überholten sie einen langsam fahrenden deutschen Reisebus. Martin Beck sah, wie die Leute in dem Bus von ihren Plätzen aufstanden und auf den silbrig glänzenden Riddarfjärden und die regenverhangene Silhouette der Stadt starrten.
»Molin ist der Einzige, der außerhalb wohnt«, sagte Kollberg. »Den nehmen wir uns zuerst vor.«
Sie fuhren weiter über die Liljeholmsbron, vorbei am Arstafältet, wo der Nebel tief über dem Boden hing, und kamen zum Sockenvägen. Kollberg bog in das Villenviertel ein und kurvte eine Weile durch die kleinen Straßen, bis er die richtige fand. Er ließ das Auto langsam an der Reihe der Hecken und Zäune entlangrollen und las dabei die Namen auf den Torpfosten.
»Hier ist es«, sagte er. »Molin wohnt links. Das da ist seine Außentreppe.
Das Haus war wahrscheinlich mal ein Einfamilienhaus, ist jetzt aber geteilt. Der andere Eingang liegt auf der Rückseite.«
»Wer wohnt im anderen Teil des Hauses?«, fragte Martin Beck.
»Ein pensionierter Zollbeamter mit seiner Frau.«
Der Garten vor dem Haus war groß und ungepflegt, mittendrin standen ein paar knorrige Apfelbäume und Sträucher voller Beeren. Die Hecke ringsum war dagegen sauber gestutzt, und die weiße Lattentür wirkte frisch gestrichen.
»Ein großer Garten«, sagte Kollberg. »Und gut gegen Einblicke geschützt. Willst du noch mehr sehen?«
»Nein, fahr weiter.«
»Dann geht's jetzt in die Svartensgatan«, sagte Kollberg. »Zu Gunnarsson.«
Sie fuhren den Nynäsvägen hinunter nach Södermalm und parkten auf dem Mosebacketorg.
Das Haus Svartensgatan 6 lag gleich an dem Platz. Es war ein altes Mietshaus mit gepflastertem Hof. Gunnarssons Wohnung lag im dritten Stock zur Straße hin.
»Er wohnt noch nicht lange hier«, sagte Martin Beck, als sie wenig später weiterfuhren. »Seit dem i. Juli.«
»Und davor hat er in Hagalund gewohnt. Weißt du, wo?« Kollberg hielt bei der Jakobs-Kirche an der roten Ampel. Er nickte zu den großen Eckfenstern der Operabar hinüber. »Die sitzen jetzt vielleicht gerade alle da drin«, sagte er. »Alle außer Matsson. In Hagalund? Ja, die Adresse weiß ich.«
»Dann machen wir nachher einen Abstecher dahin«, sagte Martin Beck.
»Fahr mal den Strandvägen entlang, ich möchte mir die Schiffe ansehen.«
Sie fuhren den Strandvägen, und Martin Beck sah sich die Schiffe an. Am Kai von Blasieholmen lag eine große Hochseeyacht mit amerikanischer Flagge am Heck, und an der Djurgärdsbron, eingeklemmt zwischen zwei äländischen Seglern, hatte ein polnisches Motorschiff festgemacht.
Vor dem Eingang zu Pia Bolts Haus in der Strindbergsgatan schob ein kleiner Junge in kariertem Regenoverall und Südwester einen roten Doppeldeckerbus auf der Treppenstufe hin und her und ahmte mit den Lippen das Geräusch eines Motors nach. Das Brummen wurde dumpf und unregelmäßig, als er seinen Bus abbremste, um Kollberg und Martin Beck durchzulassen.
Hinter der Haustür stand Stenström und starrte mit düsterer Miene auf Kollbergs Liste. »Was gammelst du hier rum?«, fragte Kollberg. »Sie ist nicht zu Hause. Und sie war nicht im Tennstopet. Ich habe gerade überlegt, wohin ich jetzt gehen soll. Aber wenn ihr übernehmen wollt, kann ich ja Feierabend machen.«
»Versuch es mal in der Operabar«, schlug Kollberg vor. »Wieso bist du überhaupt allein hier?«, fragte Martin Beck. »Rönn war bis eben bei mir. Er kommt jeden Moment wieder. Ist nur schnell mit einem Blumentopf rüber zu seiner Tante. Sie hat Geburtstag und wohnt gleich um die Ecke.«
»Wie läuft es?«, fragte Martin Beck.
»Wir haben Lund und Kronkvist überprüft. Sie sind gegen Mitternacht von der Operabar direkt rüber in die Hamburger Börs. Da haben sie ein paar Mädchen getroffen, die sie schon kannten, und gegen drei sind sie mit zu der einen nach Hause gegangen.«
Er schaute auf die Liste.
»Sie heißt Svensson und wohnt am Sagavägen auf Lidingö. Dort sind sie bis Freitagmorgen um acht geblieben und dann zusammen mit dem Taxi zur Arbeit gefahren. Um eins gingen sie ins Tennstopet, wo sie bis fünf saßen, und dann fuhren sie nach Karlstad, um eine Reportage zu machen.
Die anderen habe ich noch nicht geschafft.«
»Nein, das kann ich mir denken«, sagte Martin Beck. »Mach weiter. Wir sind ab sieben Uhr in Kristineberg. Melde dich einfach, wenn du fertig bist.«
Auf der Fahrt nach Hagalund wurde der Regen stärker. Als Kollberg vor dem niedrigen Mietshaus anhielt, in dem Gunnarsson bis vor zwei Monaten gewohnt hatte, lief das Wasser in Strömen über die Scheiben, und das Getrommel auf dem Autodach war ohrenbetäubend.
Sie schlugen den Mantelkragen hoch, rannten über den Gehsteig und in den Eingang. Das Haus war dreigeschossig, und an einer der Türen im ersten Stock war mit einer Reißzwecke eine Visitenkarte befestigt. Der Name auf der Visitenkarte war derselbe wie auf der Mietertafel im Treppenhaus. Dort unten hatten die weißen Plastikbuchstaben neuer und heller gewirkt als die übrigen Namen.
Sie gingen zum Auto zurück, fuhren einmal um den Block und hielten wieder vor dem Haus. Die mutmaßliche ehemalige Wohnung von Gunnarsson hatte nur zwei Fenster und schien eine Einzimmerwohnung zu sein.
»Es muss eine ziemlich kleine Einzimmerwohnung sein«, sagte Kollberg.
»Jetzt, wo er eine größere Wohnung hat, kann er heiraten.«
Martin Beck sah in den Regen hinaus. Er wollte rauchen, und außerdem war ihm kalt. Auf der anderen Straßenseite erstreckten sich ein freies Feld und ein bewaldeter Hügel. In einiger Entfernung erhob sich ein neuerrichtetes Hochhaus und daneben war ein weiteres in Bau. Wahrscheinlich würde das gesamte Feld mit einer ganzen Reihe solcher exakt gleichen Hochhäuser bebaut werden. Die Aussicht aus dem tristen Mietshaus, in dem Gunnarsson früher gewohnt hatte, war wenigstens frei und ländlich gewesen, aber die würde nun auch bald zerstört sein.
Mitten auf dem Feld entdeckte er die verkohlten Reste eines vom Feuer zerstörten Hauses. »Abgebrannt?«, fragte er und deutete darauf. Kollberg beugte sich vor und blinzelte durch den Regen. »Das war ein alter Bauernhof«, sagte er. »Ich erinnere mich, dass er letztes Jahr im Sommer noch stand. Ein schönes altes Holzhaus, in dem aber niemand mehr gewohnt hat. Ich nehme an, die Feuerwehr hat es abgefackelt. Du weißt schon, zu Übungszwecken. Sie zünden etwas an, und dann löschen sie es, und dann zünden sie es wieder an und löschen es wieder und machen so lange weiter, bis nichts mehr davon übrig ist. Schade um so einen schönen alten Kasten. Aber das Grundstück wird wohl für die Neubauten gebraucht.« Er schaute auf die Uhr und ließ den Motor an. »Wir müssen uns beeilen, wenn wir rechtzeitig zu deinem Telefongespräch zurück sein wollen«, sagte er. Der Regen klatschte gegen die Windschutzscheibe, und Kollberg musste vorsichtig fahren. Auf dem Rückweg nach Kristineberg schwiegen sie. Als sie ausstiegen, war es fünf vor sieben und bereits dunkel.
Das Telefon klingelte so exakt um sieben Uhr, dass es fast unnatürlich wirkte. Und das war es auch. Unnatürlich. »Wo zum Teufel ist Lennart?«, fragte Kollbergs Frau. Martin Beck reichte den Hörer weiter und versuchte, Kollbergs Antworten in dem Dialog zu überhören.
»Ja, ich komme gleich. - Ja, in ein paar Minuten, das habe ich doch gesagt. - Morgen? Du, das wird wohl schwierig ...«
Martin Beck zog sich auf die Toilette zurück und kam erst wieder ins Zimmer, als er Kollberg auflegen hörte.
»Wir sollten Kinder haben«, sagte Kollberg. »Die Ärmste, sitzt ganz allein da draußen und wartet auf mich.«
Sie waren erst ein halbes Jahr verheiratet, also würde sich das schon noch einrenken.
Kurz darauf kam das erwartete Telefonat.
»Tut mir leid, dass Sie warten mussten«, sagte Szluka. »Am Samstag ist es schwieriger, hier Leute zu erwischen. Sie hatten aber recht.«
»Was den Pass betrifft?«
»Ja. Ein belgischer Student hat seinen Pass im Hotel Ifjüsäg als verloren gemeldet.«
»Wann?«
»Das lässt sich im Moment nicht feststellen. Er kam am Freitag, dem 22.
Juli, nachmittags ins Hotel. Alf Matsson traf am Abend desselben Tages ein.«
»Das sieht nach Übereinstimmung aus.«
»Ja, nicht wahr? Die Schwierigkeit ist folgende: Dieser Mann, Roeder heißt er, besucht Ungarn zum ersten Mal und kennt die Verhältnisse hier nicht. Er findet es sogar ganz natürlich, dass er den Pass abgeben muss und ihn erst beim Verlassen des Hotels zurückbekommt. Sagt er jedenfalls. Weil er drei Wochen bleiben wollte, dachte er nicht mehr daran und fragte erst am vergangenen Montag wieder nach seinem Pass, mit anderen Worten, an dem Tag, als wir uns das erste Mal begegnet sind. Er brauchte ihn angeblich, um ein Visum nach Bulgarien zu beantragen. Diese Angaben stammen selbstverständlich alle von ihm.«
»Sie können richtig sein.«
»Ja, natürlich. An der Hotelrezeption sagte man sofort, Roeder habe seinen Pass am Morgen nach seiner Ankunft zurückerhalten, also am 23., beziehungsweise am selben Tag, an dem Matsson vom Ifjüsag ins Hotel Düna umzog - und verschwand. Roeder schwört aber, dass er seinen Pass nicht bekommen hat, und das Hotelpersonal ist sich ebenso sicher, den Pass am Freitagabend in sein Fach getan zu haben, sodass er ihn folglich bekommen haben muss, als er am Samstagmorgen von seinem Zimmer herunterkam. Sie versicherten, dass sie es immer so machten.«
»Kann denn jemand bezeugen, dass Roeder ihn tatsächlich bekommen hat?«
»Nein. Aber das wäre wohl auch zu viel verlangt. Um diese Jahreszeit kommt es oft vor, dass die Leute an der Rezeption bis zu fünfzig ausländische Pässe am Tag entgegennehmen und ebenso viele zurückgeben. Außerdem sind es nicht dieselben Personen, die die Pässe am Abend in die Fächer legen und am nächsten Morgen aushändigen.«
»Haben Sie diesen Roeder gesehen?«
»Ja. Er wohnt noch immer in dem Hotel. Die Botschaft ist dabei, seine Heimreise zu arrangieren.«
»Und? Ich meine, kommt es hin?«
»Er hat einen Bart. Ansonsten sind sie sich eigentlich nicht sehr ähnlich, den Bildern nach zu urteilen. Aber leider ist es ja oft so, dass die Leute ihren alten Passfotos nicht ähnlich sehen. Jemand könnte den Pass durchaus irgendwann in der Nacht aus dem Fach gestohlen haben.
Nichts einfacher als das. Der Nachtportier ist allein und muss sich natürlich manchmal umdrehen oder seinen Platz verlassen. Und die Passkontrolleure haben nicht die Zeit, Gesichtsstudien zu betreiben, bei den Massen von Touristen, die über die Grenze ein- und ausreisen. Wenn man den Gedanken durchspielt, dass Ihr Landsmann Roeders Pass an sich genommen hat, kann er damit durchaus das Land verlassen haben.«
Es blieb eine Weile still. Dann sagte Szluka: »Irgendjemand hat es jedenfalls getan.« Martin Beck richtete sich auf. »Sind Sie sicher?«
»Ja. Ich habe vor zwanzig Minuten darüber Bescheid bekommen.
Roeders Ausreisegenehmigung liegt uns vor. Sie wurde am Samstag, dem 23. Juli, nachmittags bei der Grenzpolizei in Hegyeshalom abgegeben.
Von einem Reisenden im Schnellzug Budapest-Wien. Und dieser Mann kann nicht Roeder gewesen sein, denn der ist noch hier.«
Szluka machte erneut eine Pause. Dann sagte er zögernd: »Ich nehme an, das bedeutet, dass Matsson Ungarn verlassen hat.«
»Nein«, sagte Martin Beck. »Er ist überhaupt nicht in Ungarn gewesen.«