Wirklich kompakte Hitze wird stets noch unerträglicher, wenn die Sonne untergegangen ist. Wer die Wärme gewohnt ist und damit umzugehen weiß, schließt die Fenster und zieht die Vorhänge zu. Wie den meisten Nordeuropäern fehlte Martin Beck dieses Wissen. Er hatte die Gardinen zurückgezogen und das Fenster sperrangelweit geöffnet und lag nun in der Dunkelheit auf dem Rücken und wartete auf die Kühle. Sie kam einfach nicht. Er schaltete die Nachttischlampe ein und versuchte zu lesen. Auch das ging nicht sonderlich gut. Er hatte zwar ein Röhrchen Schlaftabletten im Badezimmer, wollte aber nicht gern diesen Ausweg nehmen. Der Tag war vergangen, ohne dass er etwas Nennenswertes erreicht hatte, also gab es allen Grund, am nächsten Tag möglichst ausgeschlafen zu sein und etwas zu leisten. Wenn er Schlaftabletten nahm, würde er den ganzen Vormittag wie betäubt durch die Gegend laufen, das kannte er schon.
Er stand auf und setzte sich ans offene Fenster. Der Unterschied war gleich null. Nicht der geringste Luftzug, nicht einmal ein heißer Windhauch aus der Puszta, wo immer die sein mochte. Die Stadt wirkte fast so, als wäre auch sie von der Hitze in Atemnot geraten und ins Koma gefallen. Nach einer Weile tauchte auf der anderen Seite des Flusses eine einsame gelbe Straßenbahn auf. Sie fuhr langsam über die Elisabethbrücke; das Geräusch, das die Reibung der Räder auf den Gleisen verursachte, wurde unter dem Brückenbogen verstärkt, bevor es über das Wasser davonzog. Trotz der Entfernung konnte er sehen, dass der Wagen leer war. Vor dreiundzwanzig Stunden hatte er dort auf der Brücke gestanden und über seine seltsame Begegnung mit der Frau aus Üjpest nachgedacht. Der Ort war nicht schlecht gewesen.
Er zog seine Hose und einen leichten Pulli an und verließ das Zimmer.
Die Portiersloge im Foyer war leer. Auf der Straße fuhr ein grüner Skoda an und bog langsam und notgedrungen um die Ecke. Liebespaare in Autos sind überall auf der Welt gleich. Er ging am Kai entlang, an ein paar schlafenden Schiffen und der Petöfi Statue vorbei und gelangte auf die Brücke. Sie lag wie in der Nacht zuvor still und verlassen da und war im Unterschied zu vielen Straßen der Stadt hell erleuchtet. Wieder blieb Martin Beck, die Ellbogen auf das Geländer gestützt, mitten auf der Brücke stehen und starrte ins Wasser. Unter ihm fuhr ein Schlepper hindurch. Erst viel später folgten die Schleppschiffe: vier lange Lastkähne, paarweise hintereinander. Sie glitten mit gelöschten Lichtern und nur eine Nuance dunkler als die Nacht lautlos dahin.
Als er ein paar Meter weiter ging, hallten seine Schritte auf der stillen Brücke wider. Er ging noch ein Stück und hörte das Echo erneut. Ihm war, als ob es einen Tick zu lange nachhallte. Er stand eine Weile still und lauschte, hörte aber nichts. Dann ging er schnell ungefähr zwanzig Meter weiter und blieb unvermittelt stehen. Wieder war da dieses Geräusch, und auchjetzt schien es ihm für ein echtes Echo zu spät zu kommen. Er überquerte so leise wie möglich die Fahrbahn und schaute von der anderen Seite zurück. Es war jetzt ganz still. Nichts regte sich. Eine Straßenbahn kam von der Pester Seite her auf die Brücke gefahren und vereitelte weitere Beobachtungen. Martin Beck setzte seinen Spaziergang über die Brücke fort. Wahrscheinlich litt er bereits an Verfolgungswahn.
Wenn jemand um diese Zeit noch genug Energie und Kapazitäten hatte, ihn zu beschatten, konnte es eigentlich nur die Polizei sein. Und damit war das Problem ja im Großen und Ganzen aus der Welt. Es sei denn, dass...
Martin Beck hatte fast das Widerlager am Fuß des Gellertbergs erreicht, als die Straßenbahn an ihm vorbeirumpelte. Ein einsamer Fahrgast saß an ein Fenster gelehnt und schlief mit offenem Mund.
Er erreichte die Treppe, die auf der Südseite der Brücke zum Kai führte, und stieg sie hinunter. Im verebbenden Lärm der Straßenbahn meinte er den Motor eines Autos zu hören, das irgendwo in der Nähe hielt, aber in welcher Richtung und wie weit entfernt, konnte er nicht einschätzen.
Martin Beck ging rasch und leise den Kai entlang nach Süden und blieb stehen, wo die Dunkelheit am tiefsten war. Dort drehte er sich um, hielt den Atem an und horchte. Es war nichts zu hören oder zu sehen. Auf der Brücke war höchstwahrscheinlich kein Mensch, doch das war eigentlich nicht das Entscheidende. Denn wenn ihm jemand vom anderen Ufer her gefolgt war, konnte dieser Jemand sehr wohl ebenfalls das Widerlager erreicht haben und über die Treppe auf der Nordseite der Brücke zum Kai hinuntergegangen sein. Dass außer ihm niemand die Treppe auf der Südseite benutzt hatte, dessen war er sich sicher.
Die spärlichen Geräusche, die jetzt zu hören waren, stammten vom Verkehr in weiter Ferne. In der unmittelbaren Umgebung herrschte völlige Stille. Martin Beck lächelte in der Dunkelheit. Er war jetzt fast überzeugt, dass ihm niemand gefolgt war, aber das Spiel amüsierte ihn, und insgeheim wünschte er sich, dass es dort in der Dunkelheit auf der anderen Seite der Brücke tatsächlich einen verdutzten Verfolger gäbe. Er selbst kannte das Spielchen in- und auswendig und wusste, dass derjenige, der möglicherweise auf der anderen Seite hinuntergeschlichen war, nicht riskieren durfte, auf demselben Weg zurückzugehen, die Brücke zu überqueren und die Treppe auf der Südseite zu benutzen. Unter der Brücke hindurch verliefen zwei parallele Straßen am Fluss entlang, die innere ungefähr anderthalb Meter oberhalb des Kais, der treppenförmig zum Wasser abfiel. Die beiden Straßen waren durch eine niedrige Mauer voneinander getrennt. Ferner gab es ein Stück weiter einen Fußgängertunnel durch das Brückenfundament. Aber auch von diesen Wegen stand dem eventuellen Beschatter keiner zur Verfügung, vorausgesetzt, der Betreffende beherrschte seine Sache. Denn ganz gleich, auf welchem Weg er unter der Brücke hindurchzugehen versuchte, er würde immer das Licht im Rücken haben und damit Gefahr laufen, sofort entdeckt zu werden. Also blieb ihm nur die Möglichkeit, einen großen Bogen um das Widerlager der Brücke zu schlagen, dabei sämtliche Zufahrtsrampen zu überqueren und so weit südlich wie möglich zum Kai hinunterzugehen. Das würde jedoch seine Zeit dauern, selbst wenn der Mann es riskierte zu rennen, und der Beschattete, in diesem Fall der Erste Kriminalassistent Martin Beck aus Stockholm, könnte unterdessen in nahezu jede beliebige Richtung verschwinden.
Es war nun allerdings unwahrscheinlich, dass da überhaupt jemand war, der ihn beschattete, und außerdem hatte Martin Beck die ganze Zeit schon vor, in nördlicher Richtung den Fluss entlangzugehen und über die nächste Brücke in sein Hotel zurückzukehren. Daher verließ er seinen Beobachtungsplatz im schützenden Dunkel und schlenderte in gemächlichem Tempo nordwärts. Er entschied sich für die innere der beiden Parallelstraßen, ging unter der Brücke hindurch und, zwei Meter oberhalb des Kais, an der Steinmauer entlang weiter. Das Hotel lag direkt gegenüber am anderen Flussufer und war bis auf zwei senkrechte schmale Rechtecke dunkel: die Fenster seines Zimmers. Er setzte sich auf die niedrige Steinmauer und steckte sich eine Zigarette an. Große Wohnhäuser im Stil der Jahrhundertwende säumten die Straße. Davor parkten Autos. Die Fenster waren alle verrammelt und dunkel. Martin Beck saß ganz ruhig da und horchte in die Stille hinein. Er war immer noch auf der Hut, ohne sich dessen jedoch bewusst zu sein.
Auf der anderen Straßenseite wurde ein Auto angelassen. Martin Beck blickte die Reihe der geparkten Fahrzeuge entlang, konnte das Geräusch aber nicht lokalisieren. Der Motor brummte leise im Leerlauf. Das ging ungefähr dreißig Sekunden so. Dann war zu hören, wie ein Gang eingelegt wurde. Fünfzig Meter weiter gingen Scheinwerfer an, ein Auto löste sich aus dem Schatten und rollte von der Bordsteinkante herunter.
Es fuhr in seine Richtung, aber auf der anderen Straßenseite und äußerst langsam. Ein dunkelgrüner Skoda. Martin Beck hatte das Gefühl, ihn schon einmal gesehen zu haben. Das Auto näherte sich. Martin Beck saß still auf der Steinmauer und folgte ihm mit dem Blick. Als es fast auf seiner Höhe war, schwenkte es nach links, so als wollte der Fahrer auf der Straße wenden. Es wurde jedoch keine ganze Wendung daraus, vielmehr rollte das Auto direkt auf Martin Beck zu, fast noch langsamer als zuvor.
Es war offensichtlich, dass jemand es auf ihn abgesehen hatte. Die Vorgehensweise war allerdings verwirrend. Bei dieser Geschwindigkeit konnte die Absicht kaum darin bestehen, ihn anzufahren, und außerdem wäre es, wenn nötig, für ihn ein Leichtes, sich notfalls hinter der Mauer in Sicherheit zu bringen. Sofern sich nicht jemand auf dem Rücksitz versteckte, war in dem Auto nur eine Person.
Martin Beck drückte seine Zigarette aus. Er hatte keineswegs Angst, war aber sehr neugierig, was passieren würde. Der grüne Skoda hatte nur drei Meter von ihm entfernt angehalten, den Motor im Leerlauf und das rechte Vorderrad an der Bordsteinkante. Der Fahrer blendete die Scheinwerfer auf, und alles ertrank in gleißendem Licht. Aber nur für wenige Sekunden, dann erloschen die Scheinwerfer. Die Fahrertür ging auf, und ein Mann stieg aus.
Martin Beck hatte ihn oft genug gesehen, um ihn trotz des Blendungseffekts sofort zu erkennen. Der große Mann mit dem dunklen, nach hinten gekämmten Haar trug nichts in der Hand. Er trat einen Schritt näher. Der Automotor brummte leise. Im selben Moment registrierte Martin Beck etwas. Keinen Schatten und auch kein Geräusch, nur eine kleine Veränderung in der Luft schräg hinter ihm. So unmerklich, dass nur die Stille der Nacht sie wahrnehmbar machte.
Er wusste, dass er nicht mehr allein auf der Mauer war. Das Auto sollte nur seine Aufmerksamkeit ablenken, während unten auf dem Kai jemand lautlos heranschlich und sich hinter ihm auf die Mauer schwang.
Und im selben Moment begriff er auch, glasklar und deutlich, dass dies keine Beschattung war, kein Spiel, sondern Ernst. Mehr als das. Es war der Tod. Dieses Mal war er hinter ihm her, und zwar nicht zufällig, sondern kalt, berechnend und vorsätzlich.
Martin Beck war zwar ein schlechter Kämpfer, aber sein Reaktionsvermögen war beachtlich. Im selben Moment, in dem er den leichten Luftzug spürte, zog er den Kopf ein, hob den rechten Fuß auf den Mauerrand, stemmte sich ab, drehte den Oberkörper und warf sich nach hinten, alles in einer einzigen blitzschnellen Bewegung. Der Arm, der sich ihm gerade um den Hals legen wollte, drückte hart gegen die Nasenwurzel und die Augenbrauen, bevor er über die Stirn abrutschte. Er spürte ein heißes, überrumpeltes Keuchen an der Wange und sah eine Messerklinge aufblitzen, die ihr Ziel bereits verfehlt hatte und sich von ihm wegbewegte. Er fiel rückwärts auf den Kai hinunter, schlug mit der linken Schulter hart auf das Pflaster und rollte sich herum, um so schnell wie möglich wieder auf die Beine zu kommen. Wie Silhouetten vor dem Sternenhimmel nahm er auf der Mauer zwei Gestalten wahr. Dann war es nur noch eine, und während er noch mit einem Bein auf dem Pflaster kniete, war der Mann mit dem Messer wieder über ihm. Sein linker Arm war nach dem Sturz wie gelähmt, aber die Lichtverhältnisse waren einen Moment lang günstig für ihn, da er selbst unten im Dunkeln war, während sich der andere vor dem Nachthimmel abzeichnete. Der Angreifer hieb daneben, und es gelang Martin Beck, sein rechtes Handgelenk zu packen. Es war kein guter Griff, und das Handgelenk war ungewöhnlich grob, aber er hielt es fest, denn er wusste genau, dass dies seine einzige Chance war. Eine Zehntelsekunde lang standen sie aufrecht, und er stellte fest, dass der andere kleiner war als er, aber erheblich breiter. Mechanisch setzte er einen der alten Patentgriffe aus der Mottenkiste der Polizeischule ein und streckte den Gegner damit zu Boden. Sein Fehler war nur, dass er es nicht wagte, die Hand mit dem Messer loszulassen, und dadurch mit nach unten gerissen wurde. Sie rollten einmal herum und waren nun sehr nahe an den Treppenstufen hinunter zum Wasser. Die Lähmung in seinem linken Arm hatte nachgelassen, und es gelang ihm, auch das andere Handgelenk des Mannes zu packen. Der Gegner war jedoch stärker und würde ihn gleich überwältigt haben. Ein harter Tritt an den Kopf erinnerte ihn daran, dass er nicht nur körperlich unterlegen, sondern auch allein gegen zwei war.
Er lag jetzt auf dem Rücken und so nahe an der Treppe, dass er die erste Stufe unter dem Fuß spürte. Der Mann mit dem Messer keuchte ihm schwer ins Gesicht. Er roch nach Schweiß, Rasierwasser und Halspastillen, und er befreite langsam, aber unerbittlich seine rechte Hand. Martin Beck spürte, dass dies das Ende war, zumindest fehlte nicht mehr viel. Blitze schössen durch den pulsierenden Nebel vor seinen Augen, sein Herz schien sich immer weiter auszudehnen, wie eine blaurote Geschwulst, die bald platzen würde. In seinem Kopf hämmerte es wie in einem Steinbruch. Er glaubte, fürchterliches Gebrüll, Detonationen und ein schneidendes Geheul zu hören, und sah die Welt in einem blendend weißen Ozean aus Licht ertrinken, der alle Konturen und alles Leben auslöschte. Sein letzter Gedanke war, dass er hier auf einem Kai in einer fremden Stadt sterben würde, genau so, wie Alf Matsson vermutlich gestorben war, und ohne zu wissen warum.
Mit einer letzten, reflexartigen Anstrengung umklammerte er das rechte Handgelenk des anderen mit beiden Händen, stieß sich gleichzeitig mit dem Fuß ab und wälzte sich mitsamt seinem Gegner über die Kaikante.
Bereits an der zweiten Stufe schlug er mit dem Kopf auf und verlor das Bewusstsein. Nach einem Zeitraum, der unendlich schien, auf jeden Fall aber sehr lang gewesen sein musste, öffnete Martin Beck die Augen. Alles war in weißes Licht getaucht. Er lag auf dem Rücken, den Kopf zur Seite gedreht und das rechte Ohr auf dem Pflaster. Das Erste, was er sah, waren zwei sauber geputzte schwarze Halbschuhe, die fast sein gesamtes Blickfeld ausfüllten. Er drehte den Kopf und schaute nach oben.
Szluka, im grauen Anzug und noch immer mit dem albernen Jägerhut auf dem Kopf, beugte sich über ihn und sagte: »Guten Morgen.«
Martin Beck rollte sich auf die Seite und stützte sich auf den Unterarm.
Das gleißende Licht kam aus den Scheinwerfern zweier Polizeiautos, eins stand auf dem Kai und das andere vor der Steinmauer oben auf der Straße. Drei Meter von Szluka entfernt stand ein Polizist mit Schirmmütze, schwarzen Lederstiefeln und einer hellen graublauen Uniform. Er hielt einen schwarzen Schlagstock in der Rechten und betrachtete nachdenklich die Person zu seinen Füßen. Es war Tetz Radeberger, der Mann, der in dem Haus in Üjpest mit Ari Boecks Bikini gespielt hatte. Jetzt lag er auf dem Rücken, tief bewusstlos und mit Blut an der Stirn und im blonden Haar.
»Der andere?«, fragte Martin Beck. »Was ist mit dem?«
»Angeschossen«, sagte Szluka. »Natürlich vorsichtig. In die Wade.«
In den Häusern entlang der Straße waren etliche Fenster aufgegangen, und die Leute guckten neugierig zum Kai hinunter.
»Bleiben Sie liegen«, sagte Szluka. »Der Krankenwagen kommt gleich.«
»Nicht nötig«, erwiderte Martin Beck und stand langsam auf.
Es waren exakt drei Minuten und fünfzehn Sekunden vergangen, seit er auf der Steinmauer gesessen und den Luftzug im Nacken gespürt hatte.