Anders Roslund / Borge Helström
Autoren verbreiten gern den Mythos - und sie kokettieren gar damit - vom einsamsten Beruf der Welt.
Bullshit.
Man schreibt nie allein.
Ein Autor beobachtet, nörgelt, lügt, lacht, liebt und streitet unentwegt mit anderen Menschen. Ein Buch ist nichts als gemeinsame Gedanken, die zusammenzutragen sich jemand die Zeit genommen hat.
Das haben sie schon vor langer Zeit begriffen, Maj Sjöwall und Per Wahlöö.
Diese höllische Kraft, die man nur hat, wenn man nicht glaubt, allein zu sein.
So kam es denn auch, wie es kam - das Beste, was das Krimigenre je gesehen hat.
Es ist bemerkenswert. Wie manchmal jemand vorangeht. Öffnet und damit verändert, es ist sozusagen nichts mehr, wie es einmal war. Und dergleichen geschieht immer, ohne dass wir anderen es wirklich verstehen.
Doch hinterher führt, Gott bewahre, kein Weg zurück.
Sjöwall-Wahlöö haben mit ihren zehn Bänden »Roman über ein Verbrechen« für alle Zeiten das verändert, was man Polizeiroman nennt oder Kriminalroman, oder Detektivroman, oder ... ach, nennen wir es doch einfach den »Roman über ein Verbrechen«, als Genreetikett ist das zehnmal besser.
Die Tote im Götakanal war der erste, der Durchbruch. Endstation für neun der vierte, ausgezeichnet mit dem amerikanischen Edgar Award.
Das Ekel aus Säße der siebte Band, Grundlage für den größten Thriller der schwedischen Filmgeschichte (Der Mann auf dem Dach).
Der wichtigste aber ist natürlich der hier: Der Mann, der sich in Luft auflöste.
Geh zu hundert Verlagen. Sprich mit tausend Verlegern. Sie sagen alle dasselbe. Ein Buch ist nur ein Buch. Alle tragen eine Geschichte mit sich herum. Die wirkliche Hölle eines jeden Autors und jeden Verlegers kommt, so oder so, beim nächsten Mal, es ist »das schwierige zweite Buch«. Der Mann, der sich in Luft auflöste ist alle genannten Bücher auf einmal - es hat den Durchbruch wiederholt, das Fundament zu einer der höchsten literarischen Auszeichnungen der Welt gelegt, die Charaktere entwickelt, die dann auch noch schnurstracks die Leinwand erobern sollten. Der Mann, der sich in Luft auflöste erklärt, unterstreicht und beweist, dass Sjöwall-Wahlöös »Roman über ein Verbrechen« nicht nur eine Geschichte war, sondern viel mehr als ein gelungener Zufall, etwas, das zusammengehörte. Mit ihm wurde es eine Serie, etwas Wiederkehrendes, das wir allerdings nie zuvor gesehen hatten, etwas, das gerade deshalb für alle Zeit etwas verändern sollte.
Es ist eine andere Zeit.
Martin Beck raucht im Bett, Ermittlungen werden in Lochkartenregistern aufbewahrt, Stromrechnungen kosten achtundzwanzig Kronen und vierzig Öre.
Sie, Maj Sjöwall und Per Wahlöö, taten Folgendes: Sie nahmen uns an die Hand, der Verbrechensermittlung ein Stück voraus, mitten in einer Gesellschaft, die gerade geformt wurde, in den brennenden sechziger Jahren.
In Der Mann, der sich in Luft auflöste wird aus dem Hals über Kopf abgebrochenen ersten Urlaubstag des künftigen Kriminalkommissars Martin Beck deshalb eine Reise aus den ruderbootmüden Schären in die Zweite Welt hinter dem Eisernen Vorhang, nach Budapest in Ungarn, in ein geteiltes Europa, und das im Schatten der zumindest in Schweden noch so genannten Wallenberg-Affäre, eines bis heute unaufgeklärten Rätsels, in dem ein schwedischer Diplomat am Ende des Zweiten Weltkriegs spurlos in jener Stadt verschwand, in der Beck sich nun bewegt.
Selbstverständlich haben wir, Anders Roslund und Borge Hellström, sie gelesen, die zehn Bände. Nicht sofort, denn wir waren noch vollauf mit dem Heranwachsen beschäftigt, aber ziemlich bald, als die sechziger und siebziger Jahre noch ganz nah waren. Wir kennen die Milieus, wir waren schließlich da, wir lebten in dieser, wie wir heute begreifen, messerscharfen literarischen Beschreibung unserer Zeit. Wir waren damals auf den Plot aus, auf die Verbrechensermittlung, wir wollten wissen, ob und wie Beck, Kollberg, Larsson, Rönn den Fall lösten. Jetzt, sehr viel später, sehen wir beim erneuten Lesen deutlich andere Dinge, Dinge, die im Nachhinein leichter zu sehen sind.
Vierzig Jahre. Ein anderes Schweden, ein anderes Europa. Na und, die Charaktere leben, die Bücher leben, damals, heute.
»In dem Zimmer befanden sich ein Ofen, sechs Möbelstücke und ein Bild. Vor dem Ofen standen ein Pappkarton mit Asche und ein verbeulter Kaffeekessel aus Aluminium. Das Bett zeigte mit dem Fußende zum Ofen, und die Matratze bestand aus einer dicken Schicht alter Tageszeitungen. Darauf lagen eine verschlissene Steppdecke und ein gestreiftes Kissen.
Das Bild stellte eine nackte blonde Frau an einer Marmorbalustrade dar, es hing rechts vom Ofen, sodass derjenige, der im Bett lag, es vor dem Einschlafen und gleich beim Aufwachen sehen konnte. Irgendjemand hatte mit einem Bleistift die Brustwarzen und das Geschlecht der Frau vergrößert.«
Der Mann, der sich in Luft auflöste, erste Seite, zweiter Absatz. Schon dort.
1966 oder 2008, Gegenwärtigkeit hat kein Alter.
Vielleicht ist es so, dass wir nicht genauso oft solche Briefe verschicken - handgeschriebene, ausgetragene Post -, wie Beck sie bei der Ermittlung zur Kenntnis nimmt, wir können vielleicht auch nicht mehr so wie er bei einer Vernehmung die Spule eines Tonbandgeräts rotieren sehen, und wir sind vermutlich auch nicht mehr der Auffassung, dass Jahreseinkünfte von 40 000 Kronen, die einer der Verdächtigen kassiert, eine ansehnliche Summe sind.
Wären Sjöwall-Wahlöö dabei stehengeblieben - mit geschickt eingesetzten Markierungen, mit Gefühl und Geruch, Dingen also, aus denen kraftvolle Romane gebaut sind -, hätten wir diese Zeilen nicht geschrieben, und du hättest es nicht gelesen, zwei Generationen später.
Es war so viel mehr, wurde so viel größer.
Kriminalrätsel.
Gesellschaftskritik.
Zeitbetrachter.
Eine Ganzheit, die Schule gemacht hat, ein klassisches Werk, auf zehn Bände verteilt und innerhalb von zehn Jahren erschienen: Martin Beck und seine Mitarbeiter haben alle schwedischen Autoren und Autorinnen beeinflusst, die Romane über Verbrechen schreiben. Henning Mankells Wallander oder Hakan Nessers Van Veeteren oder Anne Holts Wilhelmsen sind alle ein Teil dessen, was damals geboren wurde. Unser eigener Kriminalkommissar Ewert Grens ist vielleicht sogar noch einen Schritt weiter gegangen, er lebt und arbeitet ja in derselben Stadt, jenem Stockholm, das Beck einst verlassen hat, in einem Polizeipräsidium im selben Viertel, wahrscheinlich sitzt er sogar im selben Büro, in unserer Welt ist das so, vierzig Jahre später, gealterte Wände, eine andere Zeit.
Wir haben sogar die Arbeitsweise geklaut. Roslund-Hellström sind zwei Autoren, die zusammenarbeiten.
Bei Maj Sjöwall und Per Wahlöö haben zwei Seelen, zwei Gehirne, zwei Autoren gearbeitet. Zu zweit arbeiten - das ist wie eine kleine Redaktion.
Gleicher Prozess, gleicher Gewinn aus der Zusammenarbeit, gleiche Kraft, die gebraucht wird, um Kompromisse zu schließen. Deine Idee muss so gut sein, dass sie nicht nur dich selbst, sondern auch einen anderen Menschen überzeugt. Sie muss auf dem ganzen Weg von irgendwo aus der Bauchgegend bis in die Tasten der Maschine begründet und seziert werden können. Du kannst die Grenzen testen - »Beschreiben wir das Verbrechen zu deutlich, zeigen wir zu viel?« Du begegnest deinem ersten Leser schon, bevor du dem Verlag etwas lieferst - »Versteht man das, nutzen wir diesen Charakter ausreichend?« Du bist nie allein, wenn du eine Geschichte baust - »Das trägt nicht, das sollte nochmal bearbeitet werden.«
Es kann ein grauenhafter Prozess sein.
Aber der Text wird genau so, und nur so, weil ihn genau diese zwei Menschen zusammen steuern.
In anderer Weise geschrieben, hätte dieses Buch, hätten alle Sjöwall-Wahlöö-Romane und damit das gesamte Erbe, von dem wir Krimiautoren ein Teil sind, nicht so ausgesehen, sie wären nicht so gut gewesen, hätten vielleicht gar keine Funktion gehabt.
Gleich.
Die ersten Seiten des zweiten Teils der Serie. Wir beneiden dich.