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Es war Sonntag und sehr warm. Leichter Sonnendunst flimmerte über den Berghängen. Der Kai war voller Menschen, die spazieren gingen oder auf den Treppen zum Fluss hinunter saßen und sich sonnten. Kleine Dampfer und Motorschaluppen pendelten den Fluss hinauf und hinunter, vollbesetzt mit sommerlich gekleideten Menschen auf dem Weg zu Badeplätzen und Ausflugszielen. An den Schiffsanlegern standen lange Warteschlangen.

Martin Beck hatte vergessen, dass Sonntag war, und wunderte sich zunächst über das Gewimmel. Er trieb im Strom der Flaneure mit und beobachtete den lebhaften Schiffsverkehr. Eigentlich hatte er den Tag mit einem Spaziergang über die nächstgelegene Brücke auf die Margareteninsel beginnen wollen, aber als er sich die Massen von Budapestern ausmalte, die dort ihren Sonntag verbrachten, überlegte er es sich anders. Das Gedränge machte ihn etwas gereizt, und der Anblick all dieser fröhlichen Menschen, die ihren freien Sonntag genossen, erfüllte ihn mit Tatendrang. Er beschloss, das Hotel aufzusuchen, in dem Matsson seine erste und vielleicht einzige Nacht in Budapest verbracht hatte. Ein Jugendhotel auf der Buda Seite, hatte der Mann von der Botschaft gesagt. Martin Beck scherte aus dem Menschenstrom aus und ging hinauf zur Straße oberhalb des Kais. Er stellte sich in den Schatten eines Hausgiebels und studierte den Stadtplan. Er suchte lange, konnte aber kein Hotel namens Ifjüsäg finden, und schließlich faltete er den Plan zusammen und ging zu der Brücke, die auf die Insel und weiter nach Buda führte. Er hielt nach einem Polizisten Ausschau, konnte aber keinen entdecken. Vor der Brücke war ein Taxistand, und es wartete auch ein Wagen dort. Er schien frei zu sein.

Der Fahrer sprach nur Ungarisch und begriff nicht, bis Martin Beck ihm den Zettel mit dem Namen des Hotels zeigte. Sie fuhren über die Brücke an der grünen Insel vorbei, auf der er zwischen den Bäumen eine hohe Fontäne hindurchschimmern sah, dann eine Geschäftsstraße entlang und immer weiter bergauf durch steile, schmale Straßen, bis sie einen offenen Platz mit Rasenfläche und einer modernistischen Bronzegruppe erreichten. Die Plastik stellte einen Mann und eine Frau dar, die dasaßen und einander anstarrten.

Hier hielt das Taxi an, und Martin Beck bezahlte, vermutlich viel zu viel, denn der Fahrer bedankte sich überschwänglich in seiner unverständlichen Sprache.

Das Hotel war niedrig und zog sich an dem Platz entlang, der eher eine verbreiterte Straße mit Grünanlagen und Parkplätzen war. Das Gebäude schien im Gegensatz zu den anderen Häusern ringsum neu errichtet zu sein. Es hatte eine moderne Architektur, und die gesamte Fassade wurde von Balkonen eingenommen. Die Treppe, die zur Eingangstür führte, war breit und kurz.

Hinter den Glastüren erstreckte sich ein helles, langes Foyer. Hier gab es einen Andenkenkiosk, der geschlossen hatte, Aufzugtüren, zwei Sitzgruppen und eine Rezeption. Sie war unbesetzt und das Foyer menschenleer.

An die Empfangshalle schloss sich ein riesiger Aufenthaltsraum mit Sesseln und Tischen und großen Fenstern an der hinteren Längsseite an.

Auch dieser Raum war leer. Martin Beck trat an die Fensterwand und schaute hinaus. Draußen auf dem Rasen lagen ein paar junge Leute im Badezeug und sonnten sich.

Das Hotel stand auf einer Anhöhe mit Aussicht über Pest. Die Häuser am Hang zwischen dem Hotel und dem Fluss wirkten alt und lädiert. Vom Taxi aus hatte Martin Beck an den meisten Fassaden Einschusslöcher gesehen, und an etlichen Häusern war der Putz fast ganz abgeschossen.

Er schaute ins Foyer, das noch immer verwaist war, und ließ sich in einem der Sessel im Aufenthaltsraum nieder. Er versprach sich nicht viel von dem Besuch im Ifjüsäg. Alf Matsson hatte für eine Nacht hier gewohnt, Hotelzimmer waren im Sommer knapp in Budapest, und dass ausgerechnet dieses Hotel noch ein Zimmer frei hatte, war sicherlich nur ein Zufall gewesen. Es war ziemlich unwahrscheinlich, dass sich jemand an einen Gast erinnerte, der mitten in der Hochsaison spätabends angekommen und gleich am nächsten Morgen wieder ausgezogen war. Er drückte seine letzte Florida aus und betrachtete missmutig die braungebrannten jungen Leute draußen auf dem Rasen. Es kam ihm plötzlich völlig idiotisch vor, durch Budapest zu laufen und zu versuchen, eine ihm absolut gleichgültige Person ausfindig zu machen. Er konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor einen so aussichtslosen und sinnlosen Auftrag gehabt zu haben.

Im Foyer waren Schritte zu hören, und Martin Beck erhob sich und ging zurück. Hinter dem Empfangstresen stand ein junger Mann mit einem Telefonhörer in der Hand. Er starrte zur Decke und kaute auf seinem Daumennagel, während er in den Hörer lauschte. Dann begann er zu sprechen, und Martin Beck glaubte zuerst, es sei Finnisch, aber dann fiel ihm ein, dass Finnisch und Ungarisch derselben Sprachfamilie angehörten. Der junge Mann legte auf und sah Martin Beck fragend an, der zögerte, weil er nicht recht wusste, in welcher Sprache er anfangen sollte.

»Kann ich etwas für Sie tun?«, fragte der junge Mann zu Martin Becks Erleichterung in perfektem Englisch.

»Es geht um einen Gast, der in der Nacht vom 22. auf den 23. Juli hier im Hotel gewohnt hat. Sie wissen nicht zufällig, wer in dieser Nacht Dienst hatte?«

Der Empfangschef schaute auf den Wandkalender. »Das weiß ich wirklich nicht mehr«, sagte er. »Das ist ja mehr als zwei Wochen her.

Augenblick, ich werde mal nachsehen.«

Er suchte eine Weile in dem Regal unter dem Tresen, fand schließlich ein kleines schwarzes Buch und blätterte darin. Dann sagte er:

»Das war ich. In der Nacht von Freitag auf Samstag, ja. Was für ein Gast soll das gewesen sein? Hat er nur diese eine Nacht hier gewohnt?«

»Soweit ich weiß, ja«, antwortete Martin Beck. »Er kann natürlich auch später nochmal hier gewohnt haben. Ein schwedischer Journalist namens Alf Matsson.«

Der junge Mann starrte Nägel kauend zur Decke. Dann schüttelte er den Kopf.

»Ich kann mich an keinen Schweden erinnern. Wir haben sehr wenige Schweden hier. Wie sah er denn aus?«

Martin Beck zeigte ihm Alf Matssons Passfoto. Der junge Mann betrachtete es eine Weile und sagte dann zögernd:

»Ich bin mir nicht sicher. Kann sein, dass ich ihn gesehen habe.

Ich weiß es wirklich nicht mehr.«

»Haben Sie ein Fremdenbuch? Ein Gästeverzeichnis?«

Der junge Mann zog eine Schublade mit einer Kartei auf und begann darin zu suchen. Martin Beck wartete. Er schmachtete nach einer Zigarette und suchte in seinen Taschen, aber sein Vorrat war unwiderruflich zu Ende.

»Hier«, sagte der Empfangschef und zog eine Karte aus der Schublade.

»Alf Matsson, Schwede, ja. Er hat vom 22. auf den 23. Juli hier übernachtet, ganz so, wie Sie sagten.«

»Und nach dieser Nacht nicht mehr?«

»Nein, danach nicht mehr. Er hat aber Ende Mai schon einmal ein paar Tage hier gewohnt. Das war allerdings vor meiner Zeit. Damals stand ich gerade im Examen.«

Martin Beck nahm die Karte und betrachtete sie. Alf Matsson hatte vom 25. bis zum 28. Mai ein Zimmer in diesem Hotel.

»Wer hatte damals Dienst?«

Der junge Mann überlegte. Dann sagte er:

»Das müsste Steh gewesen sein. Oder auch der Typ, der vor mir hier war. Ich weiß aber nicht mehr, wie der hieß.«

»Steh«, sagte Martin Beck. »Arbeitet er noch hier?«

»Sie«, korrigierte ihn der junge Mann. »Das ist ein Mädchen, Stefania. Sie und ich arbeiten im Wechsel.«

»Wann kommt sie?«

»Sie ist bestimmt da. Ich meine, auf ihrem Zimmer. Sie wohnt hier im Hotel. Aber sie hat diese Woche Nachtdienst, darum schläft sie wahrscheinlich.«

»Könnten Sie das bitte mal feststellen?«, fragte Martin Beck. »Wenn sie wach ist, würde ich gern mit ihr reden.« Der junge Mann öffnete eine Klappe im Empfangstresen und kam heraus.

»Ich sehe mal nach, ob sie da ist«, sagte er. »Augenblick, bitte.« Er stieg in einen der Aufzüge, und Martin Beck sah an der Leuchtanzeige, dass er in der ersten Etage hielt. Nach einer Weile kam er wieder herunter.

»Ihre Zimmergenossin sagt, dass sie beim Sonnenbaden ist. Warten Sie, ich werde sie holen.«

Er verschwand im Aufenthaltsraum und kehrte nach einer Weile mit einer jungen Frau zurück. Sie war klein und pummelig, trug Sandalen und über dem Bikini einen karierten Baumwollkittel. Sie knöpfte den Kittel zu, während sie auf Martin Beck zuging.

»Entschuldigen Sie bitte die Störung«, sagte er.

»Das macht nichts«, erwiderte die junge Frau, die Steh genannt wurde. »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«

Martin Beck fragte, ob sie an den betreffenden Tagen im Mai Dienst gehabt habe. Sie ging hinter den Tresen, sah in dem schwarzen Buch nach und nickte.

»Ja«, sagte sie. »Aber nur tagsüber.«

Martin Beck zeigte ihr Alf Matssons Pass.

»Ein Schwede?«, fragte sie, ohne aufzusehen.

»Ja«, antwortete Martin Beck. »Ein Journalist.«

Er sah sie an und wartete. Sie betrachtete das Passfoto und legte den Kopf schräg.

»Ja ...«, sagte sie zögernd. »Ja, ich glaube, ich erinnere mich an ihn. Er hat zuerst allein in einem Dreibettzimmer gewohnt, dann bekamen wir eine russische Gruppe, und ich brauchte das Zimmer und musste ihn umquartieren. Er regte sich fürchterlich auf, weil es in dem neuen Zimmer kein Telefon gab. Wir haben nicht auf allen Zimmern Telefon. Er schimpfte dermaßen wegen dieses Telefons, dass ich gezwungen war, ihn mit jemandem das Zimmer tauschen zu lassen, der kein Telefon brauchte.«

Sie schlug den Pass zu und legte ihn auf den Tresen.

»Wenn er es denn war«, sagte sie. »Das Foto ist nicht sonderlich gut.«

»Können Sie sich erinnern, ob er mal Besuch bekam?«, fragte Martin Beck.

»Nein«, antwortete sie. »Ich glaube nicht. Soweit ich mich erinnere, jedenfalls nicht.«

»Hat er viel telefoniert? Oder erinnern Sie sich an irgendwelche Gespräche, die für ihn eingegangen sind?«

»Ich glaube, eine Dame hat ein paarmal angerufen, aber sicher bin ich mir nicht«, sagte Steh.

Martin Beck überlegte eine Weile, dann sagte er: »Fällt Ihnen sonst noch etwas zu dem Mann ein?« Die junge Frau schüttelte den Kopf.

»Er hatte wohl eine Schreibmaschine dabei. Und dann erinnere ich mich noch, dass er gut gekleidet war. Ansonsten ist mir nichts Besonderes an ihm aufgefallen.«

Martin Beck steckte den Pass in die Tasche, und dabei fiel ihm ein, dass er keine Zigaretten mehr hatte.

»Kann ich hier eine Schachtel Zigaretten bekommen?«, fragte er.

Die junge Frau bückte sich und schaute in eine Schublade. »Ja, natürlich«, sagte sie. »Ich habe aber nur Terv.«

»In Ordnung«, sagte Martin Beck und bekam eine graue Pappschachtel, auf der eine Fabrik mit hohen Schornsteinen abgebildet war.

Er bezahlte mit einem Schein und bat sie, das Wechselgeld zu behalten. Dann griff er sich einen Stift und einen Block vom Tresen, schrieb seinen Namen und den seines Hotels darauf, riss das Blatt ab und reichte es der jungen Frau.

»Falls Ihnen noch etwas einfällt, würden Sie mich dann bitte anrufen?«

Stefi starrte auf das Papier und runzelte die Augenbrauen. »Jetzt, wo ich den Zettel sehe, fällt mir tatsächlich noch was ein«, sagte sie. »Ich glaube, es war dieser Schwede, der wissen wollte, wie man zu einer Adresse in Üjpest kommt. Es muss nicht er gewesen sein, ich bin mir nicht sicher.

Vielleicht war es auch ein anderer Gast. Ich habe ihm einen kleinen Plan gezeichnet.«

Sie verstummte, und Martin Beck wartete. »An die Straße, nach der er gefragt hat, erinnere ich mich, aber nicht an die Nummer. Meine Tante wohnt in dieser Straße, deshalb weiß ich das noch.«

Martin Beck schob ihr den Block hin.

»Würden Sie mir die Straße bitte aufschreiben?«

Als Martin Beck aus dem Hotel trat, sah er auf den Zettel.

Venetianerüt.

Er steckte den Zettel in die Tasche, zündete sich eine Terv an und ging in Richtung Fluss.