Die erste Julihälfte war kühl und regnerisch. Viele Urlauber hatten, verlockt durch das warme und sonnige Juniwetter, ihre Gesellschaftsreisen in südliche Länder abbestellt und beschlossen, den kurzen schwedischen Sommer auszunutzen. Nun fluchten sie leise und starrten durch tropfnasse Zeltöffnungen oder Wohnwagentüren hinaus in den Regen und träumten von der strahlenden Sonne an den Küsten des Mittelmeeres. Als dann die Sonne mitten in der zweiten Urlaubswoche vom wolkenfreien blauen Himmel strahlte und die Regennässe dampfend von der Erde aus den Pflanzen aufstieg, horte das Geschimpfe schlagartig auf; stolze Schweden zogen sich ihre neue Urlaubsgarderobe an und bereiteten sich darauf vor, die kleinen Städte und Dörfer zu erobern. Glänzend blankgeputzte Autos rollten in langen Schlangen die Fernstraßen entlang, an deren Rändern Familien mit Campingmöbeln, Picknickkoffern, Thermoskannen und Lunchpaketen für kurze Zeit Rast machten. Eingehüllt von Staub und Abgasen, lauschten sie den Klängen ihrer Kofferradios, sprachen über die Autos, die vorbeifuhren, bewunderten die verstaubte und verkümmerte Vegetation an der anderen Seite der Fahrbahn und bedauerten die armen Leute, die gezwungen waren, in der Stadt zu bleiben.
Martin Beck fühlte sich nicht bemitleidenswert. Jedenfalls nicht, weil er im Juli in Stockholm bleiben und arbeiten mußte, ganz im Gegenteil: das war die Jahreszeit, in der er sich in der Stadt am wohlsten fühlte. Schließlich liebte er seine Heimatstadt und freute sich, daß er sich darin bewegen konnte, ohne sich von dem immer intensiver werdenden Verkehr und den Giftgasen, die von den Autos herrührten, bedroht fühlen zu müssen. Er fand es herrlich, an einem Julisonntag durch die menschenleeren, von der Sonne durchglühten Straßen im Stadtzentrum zu wandern oder an einem milden Abend an den Kais entlangzugehen, wo eine leichte Brise den Duft frischen Heus von einer Wiese am Mälarsee oder einen Hauch von Seeluft und den Geruch von Tang draußen vom Schärengarten mit sich brachte.
Am Dienstag, dem 16. Juli, tat er jedoch keines von beidem, sondern saß in Hemdsärmeln an seinem Schreibtisch draußen in Västberga und litt. Vormittags hatte er die Untersuchung eines Mordfalls abgeschlossen, der ebenso traurig wie sinnlos war. Ein Jugoslawe und ein Finne hatten sich gemeinsam auf einem Campingplatz betrunken. In dem darauffolgenden Streit hatte der Finne den Jugoslawen mit einem Dolch erstochen, umringt von einem Dutzend Zeugen. Es war dem Finnen zwar gelungen, vom Tatort zu flüchten, aber er wurde noch am gleichen Abend in einem leeren Eisenbahnwagen auf dem Hauptbahnhof gestellt. Er hatte ein langes Register von Vorstrafen, sowohl in Finnland als auch in Schweden, und war außerdem illegal eingereist, nachdem man ihn vor vier Wochen für eine Frist von zwei Jahren des Landes verwiesen hatte.
Danach hatte Martin Beck einige Routinearbeiten erledigt, und jetzt starrte er aus dem Fenster und langweilte sich. Kollberg war immer noch stellvertretender Kriminalkommissar und hatte seinen Arbeitsplatz auf Kungsholmen. Skacke war unterwegs, Martin Beck hatte ihn selbst losgeschickt, wußte aber nicht mehr, wohin. Er hörte Schritte auf dem Flur, Türenschlagen, Schreibmaschinengeklapper und Stimmen aus dem Raum nebenan und überlegte einen Augenblick, ob er hinübergehen und fragen solle, ob jemand auf eine Tasse Kaffee mitkommen wolle, aber dann ließ er es bleiben denn eigentlich hatte er auch dazu keine Lust.
Martin Beck hob die Schreibtischunterlage hoch und zog einen Merkzettel hervor, den er dort verwahrte. Vor einiger Zeit war ihm aufgefallen, daß sich sein sonst gutes Gedächtnis verschlechtert haben mußte, und er hatte angefangen, vorsorglich Notizen zu machen. Das Dumme an der Sache war nur, daß er das Vorhandensein des Merkzettels vergaß, der dann häufig längere Zeit in seinem Versteck liegenblieb, ohne daß Martin Beck sich seines Vorhandenseins erinnerte.
Richtig waren auch alle Punkte bis auf zwei erledigt, ohne daß er hätte nachsehen müssen. Er nahm einen Kugelschreiber und strich diese durch. Dabei versuchte er dahinterzukommen, was der Name, der als Punkt eins auf der Liste stand, zu bedeuten hatte. Ernst Sigurd Karlsson.
Ganz unten stand Zachrisson. Zachrisson war jedenfalls Polizist, und Martin Beck hatte ihn um einen genauen Bericht über Malms Tagesablauf bitten wollen, in der Zeit, während er beschattet wurde. Die anderen, die ebenfalls mit der Beobachtung beauftragt worden waren, hatten schon jede Einzelheit gemeldet; Zachrisson dagegen war nur in aller Eile kurz nach dem Brand befragt worden. Und jetzt war er auf Urlaub gefahren.
Martin Beck steckte sich eine Florida an, lehnte sich zurück und ließ den Rauch senkrecht zur Zimmerdecke aufsteigen.
»Ernst Sigurd Karlsson«, sprach er halblaut vor sich hin. In derselben Sekunde fiel ihm ein, wer das gewesen war. Ein ihm unbekannter Mann, der seinen, Martin Becks, Namen auf einen Block geschrieben hatte, ehe er sich erschoß. Martin Beck hatte immer noch nicht erfahren, warum. An und für sich war es nichts Besonderes, daß Fremde von ihm wußten. Als Kommissar bei der Mordkommission wurde sein Name oft bei der Presse genannt, und er war mehrmals gezwungen gewesen, im Fernsehen aufzutreten.
Er legte die Liste wieder unter die Schreibunterlage. Dann stand er auf und ging zur Tür. Eine Tasse Tee könnte eigentlich nicht schaden, dachte er. Am Montag, dem 22. Juli, kam Zachrisson zurück, und Martin Beck rief ihn schon gleich am Vormittag an.
Jetzt saß er Martin Beck in Västberga gegenüber, räusperte sich und leierte die Angaben aus seinem Notizbuch herunter. Hin und wieder blickte der Mann von seinem Heft auf und ergänzte die Niederschrift aus dem Gedächtnis.
Göran Malms zehn letzte Tage waren von Einsamkeit und Trostlosigkeit überschattet gewesen. Die Hauptzeit des Tages verbrachte er in zwei Bierstuben in der Hornsgatan. Fast immer ging er gegen acht nach Hause, allein und angetrunken. Einige Male kaufte er Schnaps und nahm sich eine Prostituierte mit. Es war offensichtlich, daß er sehr knapp bei Kasse war. Olofssons Tod mußte ihn in eine schwierige Lage gebracht haben. Am Tag vor seinem Ableben hatte Mahn fast eine Stunde vor seiner Stammkneipe um Geld gebettelt, war dann hineingegangen und hatte sich ein Glas Bier geleistet.
»Er war also völlig pleite«, murmelte Martin Beck.
»An seinem Todestag hat er noch versucht, Geld zu borgen«, bestätigte Zachrisson. »Jedenfalls glaub ich das. Er ging zu einem…« Er blätterte um.
»Um 9.40 Uhr am 7. März verließ er die Sköldgatan und ging zur Karlsviksgatan 4.«
»Karlsviksgatan«, wiederholte Martin Beck leise.
»Ja, auf Kungsholmen. Er fuhr mit dem Fahrstuhl in den vierten Stock und kam nach einigen Minuten wieder aus dem Haus. Er wirkte irgendwie verstört, deshalb nahm ich an, er habe sich bei einem Freund Geld leihen wollen und der war nicht zu Hause oder hat ihm nichts gegeben.«
Zachrisson blickte Martin Beck an, so als ob er ein Lob für seine Kombinationsgabe erwartete. Aber der starrte an ihm vorbei und murmelte: »Karlsviksgatan 4. Wo hab ich das schon mal gehört?« Dann sah er Zachrisson an und fragte: »Du hast das doch schon früher zu Protokoll gegeben, nehm ich an?«
Zachrisson nickte. »Jedenfalls hab ich es Kommissar Kollberg erzählt. Der hat mich dann beauftragt, die Namen der Leute festzustellen, die in dem Haus wohnen.«
»Na und?«
Zachrisson blickte in sein Buch.
»Viele waren es nicht. Seved Blom, A. Svensson, Ernst Sigurd Karlsson…« Die Karlsviksgatan ist eine kurze und wenig bekannte Straße, die in der Nähe von Fridhemsplan den Norr Mälarstrand und die Hantverkargatan verbindet. Martin Beck brauchte nur zehn Minuten, um mit dem Auto dorthin zu gelangen. Er wußte nicht, was hier noch zu finden sein konnte, denn Ernst Sigurd Karlsson war seit viereinhalb Monaten tot.
Im dritten Stock stand wie erwartet Seved Blom und A. Svensson auf zwei Türschildern. Das dritte trug den Namen Skog. Dort klingelte Martin Beck, und als niemand öffnete, klingelte er an der Tür nebenan.
Nachdem er Zachrisson weggeschickt hatte, hatte er mit den Beamten gesprochen, die am Morgen nach dem Selbstmord in Ernst Sigurd Karlssons Wohnung gewesen waren. Von ihnen wußte er unter anderem, wer die Polizei alarmiert hatte.
Hauptmann Seved Blom ließ Martin Beck sofort ein und begann zu erzählen, wie er in der Nacht gesessen und Patiencen gelegt hatte, als er von nebenan den Schuß gehört hatte. Es machte ihm offensichtlich Spaß, die ganze Geschichte noch einmal berichten zu dürfen, und er beschrieb ausführlich, wie alles passiert war. Martin ließ ihn ausreden und fragte erst am Schluß: »Was wissen Sie über den Toten? Haben Sie öfter mit ihm gesprochen?«
»Nein. Wir haben uns gegrüßt, wenn wir uns im Flur begegnet sind, aber mehr auch nicht. Er schien ein sehr scheuer Mensch gewesen zu sein.«
»Haben Sie einige seiner Bekannten gesehen?« Hauptmann Blom schüttelte den Kopf.
»Er schien keine zu haben. Es war immer still nebenan, und nie kam jemand zu Besuch. Doch, ja, eigenartigerweise kam ein Bekannter noch am gleichen Morgen. Am Morgen nach seinem Tod. Ein kleiner, verkommener Mann. Ich wollte gerade den Mülleimer ausschütten, der Krankenwagen und die Polizei waren schon wieder weg. Da stand der Mann vor der Tür und klingelte. Ich hab ihn gefragt, wen er sucht, und als ich merkte, daß er ein guter Bekannter von Karlsson war, hab ich ihm erzählt, was passiert ist. Und daß er sich bei der Polizei erkundigen solle, wenn er Genaueres wissen wolle.«
»Haben Sie ihm erzählt, daß Karlsson Selbstmord begangen hat?«
»Das weiß ich nicht mehr genau, jedenfalls hab ich ihm gesagt, daß er tot war und daß die Polizei schon hier gewesen war.«
Als Martin Beck nach Västberga zurückkam, saß er eine ganze Weile still, rauchte und dachte nach, ehe er Hammar anrief.
»Die Sache wird immer ärgerlicher«, erwiderte Hammar. »Es wäre wirklich schön, wenn ihr mal einen Beteiligten vorweisen könntet, der noch lebt. Hilft dir diese Entdeckung irgendwie weiter? Und warum hat er deinen Namen auf einen Zettel geschrieben, ehe er sich erschossen hat?«
»Ich glaube, Karlsson und Malm und Olofsson hatten sich zusammengeschlossen und gehörten einer Firma an. Karlsson wollte sich aus irgendwelchen Gründen zurückziehen. Er überlegte, ob er die Polizei anrufen solle, wahrscheinlich hatte er mal einen Namen gehört oder gelesen. Dann hat er sich anders entschieden. Ich weiß nicht, was er in der Firma für 'ne Stellung hatte. Was meinst du denn dazu?«
»Ich finde, das klingt alles wie 'ne richtige Räubergeschichte. Jetzt haben wir drei Tote: einer ist ermordet worden, einer hat außerdem Selbstmord begangen, und der dritte hat nur Selbstmord begangen. Wie erklärst du dir diese Selbstmordpsychose?« Martin Beck seufzte.
»Ich nehme an, daß Malm nervös wurde und schließlich zu Karlsson gegangen ist, um ihn zu fragen, ob er wisse, wo Olofsson abgeblieben sei. Als er hörte, daß Karlsson tot war, nahm er das zum Anlaß, sich ebenfalls das Leben zu nehmen.«
Eine Weile war es still.
»Ja. So kann das natürlich gewesen sein. Bloß hab ich nie einen Fall mit so vielen Wenn und Aber und Vielleicht und Vermutlich gehabt. Was wir sicher wissen, ist herzlich wenig. Wir müssen uns nachher mal zusammensetzen. Ich ruf dich dann noch an.«
Er legte auf.
Martin Beck saß eine Weile da und ließ die Hand auf dem Hörer liegen. Er versuchte sich vorzustellen, was Kollberg zu dieser Sache sagen würde. Bevor er abheben konnte, klingelte es.
»Treffer«, sagte Kollberg.
»Was?«
»Antwort von Interpol. Lasalles Fingerabdrücke.«
»Teufel auch. Und?«
»Ja, die kennen den Daumen, aber nicht den Namen Alphonse Lasalle.«
»Wessen Fingerabdrücke sind das denn?«
»Wart mal, wirst du gleich hören. Der Mann mit dem Daumen hat viele Namen. Die französische Polizei kennt ihn unter folgenden: Albert Corbier, Alfonse Benette, Samir Riffi, Alfred Laffey, Auguste Cassin und Auguste Dupont. Weitere Namen kommen später durch. Man weiß nicht, wer er ist, glaubt aber, daß er die libanesische Staatsbürgerschaft besitzt und sich in den letzten Jahren hauptsächlich in Frankreich und Nordafrika aufgehalten hat. Man meint Beweise dafür gefunden zu haben, daß er früher zur OAS gehört hat, und hat den Verdacht, daß er eine ganze Reihe von Verbrechen begangen hat und bei vielen anderen beteiligt war. Rauschgifthandel, Valutaschmuggel und noch einiges mehr, darunter Mord.«
»Ist er denn niemals festgenommen worden?«
»Offenbar nicht. Scheint 'n geschickter Hund zu sein. Er wechselt offensichtlich den Namen und die Nationalität öfter als seine Unterwäsche, und bis jetzt hat man keine hieb und stichfesten Beweise gegen ihn sammeln können.«
»Und die Personenbeschreibung?«
»Da ist noch manches unklar. Sie haben eine geschickt, aber mit der Bemerkung, daß sie nicht unbedingt stimmen muß. Nett übrigens, was? Hier hab ich's. Ungefähr fünfunddreißig Jahre alt. Einssiebzig groß, Gewicht achtzig Kilo, schwarzes Haar, braune Augen, gesunde Zähne, warte mal… das ist Französisch, ich hab noch nicht alles übersetzt… gerader Haaransatz, kräftige gerade Augenbrauen, Nase etwas gebogen, mit einer zentimeterlangen, kaum erkennbaren Narbe auf dem linken Nasenflügel, sonst keine Narben oder besonderen Kennzeichen bekannt.«
»Das paßt ja ausgezeichnet zu Lasalle. Die wissen natürlich nicht, wo er sich jetzt aufhält?«
»Nein. Ich ruf nachher noch mal an. Muß das hier erst noch übersetzen und abschreiben lassen.«
Martin Beck blieb mit dem stummen Hörer in der Hand sitzen. Als er ihn auflegte, fiel ihm ein, daß er gar nicht dazu gekommen war, von Ernst Sigurd Karlsson zu erzählen.