16

Die Uhr war noch nicht acht am Donnerstagmorgen, als Kollberg bei Martin Beck läutete. Der war noch nicht angezogen, saß im Bademantel in der Küche und unterhielt sich mit seiner Tochter Ingrid, deren Schule erst eine Stunde später begann und die daher ausnahmsweise Zeit hatte, ordentlich zu frühstücken. Er selbst trank nur Tee mit Milch, während das Mädchen mit gesundem Appetit mit Käse belegte Knäckebrotschnitten in den Kakao stippte und dabei von dem FNL-Treffen erzählte, auf dem sie am Vorabend gewesen war. Als es an der Tür klingelte, zog Martin Beck den Gürtel seines Bademantels fester und legte die Zigarette weg, obwohl er wußte, daß Ingrid heimlich einen Zug nehmen würde. Dann ging er und öffnete die Tür.

»Noch nicht angezogen?« fragte Kollberg ärgerlich.

»Hatten wir nicht acht gesagt?« fragte Martin zurück. Er ging voraus in die Küche.

»Es ist zwei Minuten vor acht. Morgen, Ingrid.«

»Guten Morgen«, murmelte das Mädchen und fächelte schuldbewußt die Rauchwolke über ihrem Kopf weg.

Kollberg setzte sich auf Martin Becks Stuhl und besah sich den Tisch. Er hatte zwar ein ausreichendes Frühstück hinter sich, fühlte sich aber durchaus in der Lage, noch ein zweites zu sich zu nehmen. Martin Beck hatte bereits eine Tasse geholt, und Ingrid schob ihm die Butterdose, Käse und den Brotkorb hinüber.

»Ich bin gleich fertig«, sagte Martin Beck und ging in sein Zimmer.

Während er sich anzog, hörte er durch die halboffene Küchentür, wie Ingrid sich nach Kollbergs sieben Monate alter Tochter Bodil erkundigte und der stolze Vater von den Fortschritten der Kleinen berichtete. Als Martin Beck kurze Zeit später angezogen und frisch rasiert in die Küche kam, sagte Kollberg: »Ich hab gerade einen neuen Babysitter engagiert.«

»Ja. Er hat mir versprochen, daß ich das nächste Mal, wenn es nötig ist, auf Bodil aufpassen kann. Das darf ich doch wohl? Babys sind so süß.«

»Vor einem Jahr hast du noch gesagt, daß Babys das Ekligste sind, was es gibt«, erinnerte Martin Beck.

»Das war damals. Da war ich noch sehr kindisch.«

Martin Beck blinzelte Kollberg zu und sagte respektvoll: »Natürlich. Entschuldige. Jetzt bist du ja eine reife Frau.«

»Sei nicht so albern. Eine reife Frau will ich nie werden. Ich will ein junges Mädchen sein, und dann werde ich eine alte Dame.«

Sie boxte ihren Vater in die Rippen und verschwand in ihr Zimmer. Als Martin Beck und Kollberg in die Diele kamen und ihre Mäntel anzogen, hörten sie laute Popmusik durch die verschlossene Tür.

»Beatles«, sagte Martin Beck. »Ich wundere mich immer, daß sie noch nicht taub geworden ist.«

»Rolling Stones«, verbesserte Kollberg.

Martin Beck sah ihn verwundert an. »Kannst du denn da einen Unterschied hören?«

»Die sind ziemlich verschieden«, antwortete Kollberg und trat aus der Wohnung ins Treppenhaus.

Um diese Tageszeit herrschte starker Verkehr in Richtung Innenstadt, aber Kollberg, der bei allen außer sich selbst als nervöser und schlechter Autofahrer galt, kannte sich ausgezeichnet in Stockholm und Umgebung aus und nahm kleine Straßen durch Villenviertel und Hochhäuserblocks, in denen Martin Beck noch nie gewesen war. Er parkte den Wagen vor einem relativ neuen Hochhaus in der Sandjärdsgatan in Ärsta.

»Hier sind die Mieten sicher nicht niedrig«, bemerkte Kollberg, als sie mit dem automatischen Fahrstuhl nach oben fuhren. »Kaum vorstellbar, daß ein Mann wie Bertil Olofsson sich eine solche Wohnung leisten kann.«

Martin Beck brauchte weniger als eine halbe Minute, um die Tür aufzubekommen, was als lange Zeit angesehen werden mußte, denn er hatte den Schlüssel von der Wohnungsgesellschaft bekommen. Es zeigte sich, daß die Wohnung aus einem Zimmer, Küche, Diele und Bad bestand; aus einer Mietrechnung, die auf dem Fußboden der Diele zwischen Reklamezetteln und anderen Papieren lag, ging hervor, daß sie 1269,51 Kronen im Quartal kostete. Außer dieser Rechnung gab es nichts Interessantes in dem Stapel von Prospekten, Broschüren und Postwurfsendungen aller Art, die durch den Briefkastenschlitz gesteckt worden waren und sich einen Monat lang gestapelt hatten. Zuunterst in dem Haufen lag ein hektographiertes Blatt von einem benachbarten Lebensmittelgeschäft. SONDERANGEBOT stand oben drüber, und dann folgte eine Liste von verschiedenen Produkten mit den Preisen vor und nach der Preissenkung. Der Preis für eine Dose Rollmöpse war zum Beispiel von 2,63 auf 2,49 gesunken. Martin Beck faltete das Blatt zusammen und steckte es in die Tasche.

Im Zimmer standen ein Eßtisch, drei Stühle, ein Bett, ein Nachttisch, zwei Sessel, ein niedriger Tisch, ein Fernseher und eine Kommode. Alle Möbel schienen vor nicht allzu langer Zeit gekauft worden zu sein. Das Zimmer war flüchtig saubergemacht. Über das ungemachte Bett war eine bunte Decke geworfen worden. Auf dem Eßtisch stand ein geleerter, aber nicht abgewaschener Aschenbecher. Die ganze Bibliothek bestand aus einem offensichtlich noch nicht gelesenen Jerry-Cotton-Taschenbuch mit dem Titel Raff und Rififi. Bilder gab es keine, dafür waren eine Anzahl Illustriertenfotos mit Autos und mehr oder weniger nackten Mädchen mit Klebestreifen an den Wänden befestigt worden.

In der Küche standen einige Gläser, Teller und Tassen aufgereiht auf dem Spültisch, der fleckig war vom Abwaschwasser, das vor langer Zeit eingetrocknet war. Der Kühlschrank war angestellt und enthielt ein halbes Paket Margarine, zwei Flaschen Bier, eine verschrumpelte Zitrone und ein steinhartes Stück Käse. Im Schrank fanden sie einige Küchengeräte, ein Paket Kekse, eine Tüte mit Zucker und eine leere Kaffeedose. Der Besenschrank war leer, aber unter dem Abwaschtisch entdeckten sie einen Handfeger und eine Müllschippe. Da stand eine Papiertüte mit Abfall. Eins der Schubfächer war voller leerer Streichholzschachteln Martin Beck ging in die Diele und öffnete die Tür zum Bad. Aus dem Toilettenbecken stank es, wahrscheinlich war es niemals saubergemacht worden. Schmutzränder fanden sich auch in der Badewanne und der Seifenschale und deuteten daraufhin, daß auch hier keine besonderen Anstrengungen unternommen worden waren, den Raum sauberzuhalten Im Badezimmerschrank fand er eine abgenutzte Zahnbürste, einen Rasierapparat, eine leere Zahncremetube und einen fettigen Kamm, dem einige Zähne fehlten. Das Frotteehandtuch am Haken neben dem Waschbecken starrte vor Schmutz. Martin Beck hatte genug und machte sich daran, den Kleiderschrank zu untersuchen.

Auf dem Boden standen ein Paar Schuhe, ungeputzt und außen und innen mit einer dicken Staubschicht, und eine Segeltuchtasche mit muffig riechender schmutziger Wäsche. Auf den Kleiderbügeln aus Stahldraht hingen zwei schmuddelige Oberhemden, drei noch dreckigere dünne Pullover, zwei Paar Terylenehosen, eine Tweedjacke, ein hellgrauer Sommeranzug und ein dunkelblauer Popelinemantel.

Martin Beck wollte gerade die Taschen durchsuchen, als Kollberg ihn in die Küche rief.

Er hatte den Inhalt der Abfalltüte auf den Abwaschtisch geschüttet, hielt eine zerknüllte Plasttüte hoch.

»Guck mal her.«

In der einen Ecke der Tüte lagen einige grüne Krümel. Kollberg nahm eine kleine Probe und zerrieb sie zwischen dem Daumen und dem Zeigefinger.

»Hasch«, sagte er.

»Nun wissen wir ja, warum er leere Streichholzschachteln sammelte. Wenn die Tüte voll gewesen wäre, hätte es gereicht, um mindestens dreißig Stück zu füllen.«

Die weitere Untersuchung der Wohnung ergab wenig. Einige Andenken deuteten darauf hin, daß Bertil Olofsson auf den Kanarischen Inseln und in Polen Urlaub gemacht hatte. Vier alte Quittungen in den Taschen der Tweedjacke trugen Daten vom Dezember und stammten alle aus dem Restaurant Ambassadeur. Die Schublade des Nachttisches enthielt zwei Präservative und ein Amateurfoto, das eine füllige, dunkelhaarige Frau im Bikini an einem Sandstrand zeigte. Auf die Rückseite hatte jemand mit dem Kugelschreiber Berra with love, Kay geschrieben.

Es gab keine persönlichen Habseligkeiten in der Wohnung und vor allen Dingen nichts, woraus sich auf den jetzigen Aufenthaltsort des Mannes schließen ließ.

Martin Beck klingelte an der Tür der Nachbarwohnung. Eine Frau öffnete. Sie stellten einige Fragen.

»Na, Sie wissen doch, wie das in solchen Häusern ist. Man kümmert sich nicht um die Leute in der Nachbarwohnung. Ich glaube, ich hab ihn ein paarmal gesehen, so lange hat er auch wohl gar nicht hier gewohnt.«

»Können Sie sich erinnern, wann Sie ihn zuletzt gesehen haben?« fragte Kollberg.

Die Frau schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Aber das ist schon eine ganze Weile her. Weihnachten oder so. Ich weiß es wirklich nicht mehr.«

In den beiden anderen Wohnungen auf der gleichen Etage war offenbar keiner zu Hause. Jedenfalls öffnete niemand. Einen Hausmeister schien es nicht zu geben; eine Bekanntmachung im Eingang wies die Mieter darauf hin, daß sie sich an einen Maschinisten zu wenden hätten, wenn irgend etwas in der Wohnung nicht funktionierte. Aber der hatte eine ganz andere Adresse. Als sie aus dem Haus kamen, setzte sich Kollberg ins Auto, während Martin Beck über die Straße ging und den Lebensmittelladen auf der anderen Seite betrat. Er sprach mit dem Inhaber und zeigte ihm das Reklameblatt mit dem Sonderangebot.

»So auf Anhieb kann ich nicht sagen, wann wir das rausgeschickt haben. Solche Listen teilen wir immer freitags aus. Warten Sie einen Augenblick.« Er verschwand in den hinteren Räumen des Ladens und kam nach kurzer Zeit zurück. »Freitag, den 9. Februar«, sagte er.

Martin Beck nickte und ging hinaus zu Kollberg.

»Seit dem 9. Februar ist er jedenfalls nicht zu Hause gewesen.« Kollberg zuckte unlustig die Achseln.

Sie fuhren den Sockenvägen und den Nynäsvägen entlang, durch das Hammarby-Industriegebiet und kamen auf die Hauptstraße nach Värmdö. Als sie in Gustavsberg ankamen, gingen sie zur Polizeiwache und sprachen mit einem der beiden Polizisten, die die gestohlenen Autos auf Olofssons Grundstück entdeckt hatten. Er beschrieb ihnen den Weg zum Sommerhaus. Sie brauchten eine Viertelstunde für den Weg.

Das Haus lag gut gegen Sicht geschützt. Der Zufahrtsweg war kurvenreich und voller Schlaglöcher, kaum mehr als ein Waldweg. Das Grundstück war früher einmal gepflegt gewesen mit Rasenflächen, Steingärten und Sandwegen, aber davon war kaum noch etwas zu erkennen. Um das Haus herum war der Schnee geschmolzen, aber im Wald, der sich dicht um das Grundstück schloß, lagen immer noch grauweiße Schneehaufen. Direkt am Waldrand an der anderen Seite der Lichtung stand eine offensichtlich neu erbaute Garage, Sie war leer, und die drei Wagen, die den Reifenspuren nach zu urteilen hinter dem Haus gestanden hatten, waren ebenfalls fortgeschafft worden.

»Dummheit, die Autos wegzuholen«, sagte Kollberg. »Wenn er kommt, merkt er sofort, daß die Polizei hier war.«

Martin Beck sah sich die Tür zum Haus an. Sie war mit einem Sicherheitsschloß und zusätzlich mit einem großen Vorhängeschloß aus Messing versperrt. Der einzige, der ihnen die Schlüssel dazu geben konnte, war Olofsson selbst. Hier mußten sie also anders vorgehen. Aus dem Handschuhfach holten sie Schraubenzieher und verschiedenes anderes Werkzeug und fingen mit der Arbeit an. Nach wenigen Minuten brauchten sie die Tür nur noch aufzuklinken.

Das Sommerhaus bestand aus einem großen, rustikal möblierten Raum, zwei kleinen Schlafzimmern, Küche und Toilette. Die Luft hier drin war kalt und feucht und roch nach Schimmel und Petroleum. Im großen Raum gab es einen offenen Kamin und in der Küche einen kleinen Holzofen, darüberhinaus beschränkte sich die Heizmöglichkeit auf einen Petroleumofen in einem der Schlafräume. Überall auf dem Fußboden lagen Sand und getrocknete Lehmklumpen, und die Möbel im großen Raum waren fleckig und abgewetzt. In der Küche standen Tische, Bänke, Herd und Regale voller leerer Flaschen, schmutziger Teller, Tassen mit eingetrockneten Kaffeeresten und schmutziger Gläser. In einem der Schlafräume lag auf dem an der Wand befestigten Bett ein schmutziges Laken und eine fleckige, zerrissene Steppdecke.

Im Haus befand sich kein Mensch.

In der kleinen Veranda entdeckten sie eine Tür und dahinter eine lange Kammer, deren Regale voller Diebesgut waren, offenbar Gegenstände, die aus den gestohlenen Autos stammten. Da lagen Transistorapparate, Kameras, Ferngläser, Taschenlampen, Werkzeug, ein paar Angelruten, ein Jagdgewehr und eine Reiseschreibmaschine. Martin Beck kletterte auf einen Hocker und blickte in das oberste Fach des Regals. Dort lagen ein altes Krokketspiel, eine verblichene schwedische Flagge und eine eingerahmte Fotografie. Er nahm das Bild herunter und gab es Kollberg.

Es zeigte eine junge blonde Frau in kurzärmeliger Seidenbluse und kurzen Hosen mit einem kleinen Jungen. Die Frau war hübsch, und sowohl sie als auch der Junge lachten fröhlich in die Kamera. Der Kleidung und Frisur der Frau nach zu urteilen, stammte das Bild aus den dreißiger Jahren; im Hintergrund sah man das Haus, in dem sich Martin Beck und Kollberg gerade befanden.

»Ein oder zwei Jahre bevor der Vater starb, würde ich sagen. Das Haus sah damals etwas anders aus«, meinte Martin Beck.

»Eine hübsche Mutter hat er«, sagte Kollberg. »Wer weiß, wie es Rönn ergangen ist.«

Einar Rönn war mit dem Wagen eine ganze Weile in Segeltorp umhergeirrt, ehe er das Haus fand, in dem Bertil Olofssons Mutter wohnte. Sie hieß jetzt Lundberg, und ihr Mann war nach Rönns Informationen Abteilungsleiter in einem großen Warenhaus.

Die Frau, die ihm öffnete, hatte völlig weißes Haar, sah aber nicht älter als fünfundfünfzig aus. Sie war schlank und braungebrannt, obwohl der Frühling gerade erst begonnen hatte. Die feinen Falten um die schönen grauen Augen herum leuchteten hell aus dem sonnenverbrannten Gesicht, als sie fragend die Augenbrauen hob. »Sie wünschen?«

Rönn nahm den Hut in die linke Hand und holte seinen Dienstausweis heraus.

»Sie sind Frau Lundberg?« fragte er.

Sie nickte, und ihr Blick verriet einen Anflug von Unruhe, als sie auf seine nächsten Worte wartete.

»Es betrifft Ihren Sohn, Bertil Olofsson. Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.«

Sie zog die Stirn kraus. »Was hat er denn nun wieder angestellt?«

»Nichts, hoffe ich. Darf ich einen Augenblick hereinkommen?«

Die Frau nahm zögernd die Hand von der Türklinke. »Jaa…«, sagte sie unentschlossen. »Bitte.«

Rönn hängte seinen Mantel auf, legte den Hut auf die Kommode in der Diele und folgte ihr in das Wohnzimmer, das freundlich und geschmackvoll, aber ohne übertriebene Eleganz möbliert war. Die Dame des Hauses wies auf einen Sessel vor dem Kamin und setzte sich selbst aufs Sofa.

»Ja. Dann schießen Sie mal los. Was Bertil betrifft, so bin ich eine ganze Menge gewohnt. Sie können also gleich sagen, worum es sich handelt. Was hat er getan?«

»Wir suchen ihn, weil wir hoffen, daß er uns bei der Klärung eines Falles helfen kann. Ich wollte eigentlich nur fragen, ob Sie wissen, wo er sich zur Zeit aufhält.«

»Ist er denn nicht zu Hause in Ärsta?«

»Nein. Er scheint eine ganze Weile nicht dort gewesen zu sein.«

»Und im Sommerhaus? Wir haben… er hat ein Sommerhaus auf Värmdö. Mein früherer Mann, Bertils Vater, hat es gebaut, und nun gehört es Bertil. Vielleicht ist er da?«

Rönn schüttelte den Kopf. »Hat er Ihnen nicht gesagt, daß er verreisen wollte?« Bertil Olofssons Mutter hob abwehrend die Hände. »Nein. Wir sprechen nicht mehr oft miteinander. Ich weiß nie, was er vorhat oder wo er sich aufhält. Hier ist er zum Beispiel seit mehr als einem Jahr nicht gewesen, und da kam er auch nur, um sich Geld von mir zu leihen.«

»Hat er in der letzten Zeit auch nicht angerufen?«

»Nein. Nun waren wir allerdings drei Wochen in Spanien, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß er während der Zeit angerufen hat. Wir haben praktisch keine Verbindung.« Sie schluckte. »Mein Mann und ich haben schon lange die Hoffnung aufgegeben, daß Bertil zur Vernunft kommt. Bergauf wird's wohl kaum noch mit ihm gehen.«

Rönn schwieg eine Weile und blickte die Frau an. Ihre Züge hatten sich verhärtet.

»Kennen Sie jemanden, der vielleicht weiß, wo er sich befindet? Vielleicht ein Mädchen oder einen Freund oder so?«

Sie lachte kurz und hart. »Nein. Und ich bin froh, daß ich keine von denen kenne, mit denen er sich herumtreibt.«

Sie starrte in den leeren Kamin und blickte dann zu Rönn hoch.

»Ich will Ihnen eins sagen. Er war früher mal ein richtig netter Junge, aber er ist in schlechte Gesellschaft geraten. Er war immer leicht zu beeinflussen und wollte von mir, meinem Mann und seinem Bruder nichts mehr wissen, ja, er stellte sich praktisch gegen uns alle. Dann wurde er in die Jugendstrafanstalt eingewiesen, und da wurde es natürlich nicht besser. Dort lernte er die Gesellschaft noch mehr hassen, machte auch seine erste Bekanntschaft mit dem Rauschgift.«

Sie sah Rönn feindselig an. »Aber inzwischen ist es ja ganz normal, daß unsere Schulen und Anstalten die ersten Stufen zu Rauschgiftsucht und Kriminalität sind. Das, was Sie mit Fürsorge bezeichnen, ist in meinen Augen absolut sinnlos.«

Rönn stimmte ihr eigentlich zu, wußte aber nicht recht, was er sagen sollte.

»Ja«, meinte er schließlich. »So sieht es vielleicht aus.« Dann riß er sich zusammen und fuhr fort: »Es war nicht meine Absicht, hierherzukommen und Sie zu beunruhigen. Darf ich Sie nur noch eine Sache fragen?«

Sie nickte.

»Wie ist der Kontakt zwischen Ihren Söhnen? Treffen sie sich noch, oder stehen sie in Verbindung miteinander?«

»Jetzt nicht mehr. Gert ist Zahnarzt und hat eine eigene Praxis in Göteborg. Aber als er noch hier auf die Zahnärztliche Hochschule ging, gelang es ihm tatsächlich, Bertil zu überreden, zu ihm zu kommen und sich seine Zähne in Ordnung bringen zu lassen. Gert ist ein so netter und freundlicher Junge. Sie waren eine Zeitlang richtig gute Freunde. Aber dann ist irgendwas passiert, und danach haben sie sich nicht mehr getroffen. Ich glaube nicht, daß es einen Zweck hat, Gert zu fragen, denn jetzt weiß er auch nicht viel mehr über Bertil. Da bin ich ganz sicher.«

»Wissen Sie, aus welchem Anlaß sich die beiden entzweiten?«

»Nein«, sagte sie abweisend. »Ich habe keine Ahnung. Irgendwas ist geschehen. Irgendwas passiert ja dauernd mit Bertil, nicht wahr?«

Sie sah Rönn starr an.

Der hüstelte umständlich. Vielleicht war es Zeit, das Gespräch zu beenden? Rönn stand auf und streckte die Hand aus. »Vielen Dank für Ihre Hilfe, Frau Lundberg.«

Sie gab ihm die Hand, sagte aber nichts. Er nahm seine Visitenkarte heraus und legte sie auf die Tischkante.

»Wenn Sie etwas von ihm hören, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mich anrufen würden.«

Sie sagte immer noch nichts, aber sie begleitete ihn hinaus und öffnete die Haustür.

»Auf Wiedersehen«, sagte Rönn.

Als er den halben Weg zum Gartenzaun zurückgelegt hatte, drehte er sich um und sah sie aufrecht und regungslos in der Türöffnung stehen und ihm nachblicken. Sie sah jetzt bedeutend älter aus als vorhin, als er gekommen war.