Abschied
Eine Spur mehr Leben noch ist im Biermösel, obwohl auch der schon fast erfriert, wie er in dieser mehr als kühlen Nacht, die ihm aber durch die Begegnung mit der Anni und ihren Zwillingen auch das Herz gewärmt hat, mit seiner Fips um den See herumtuscht, in der Ersten, weil die Bodenbeschaffenheit und die nächtlichen Sichtverhältnisse praktisch eine Einladung zum Blutbad sind. Kaum ist der Sommer vorbei, ärgert sich der Biermösel, grüßt auch schon wieder der böse Geselle Winter vom Berghang herunter und vereist mit seinem kalten Atem alle Verkehrswege in dieser Gegend, was denn sonst!
Aber das ficht ihn heute nicht an. Er schaltet in die Zweite und ist zufrieden mit sich und der Welt, weil jetzt endlich alles vorbei ist. In der Sache mit den verschwundenen Kampfhunden ist überraschend und ohne sein Zutun Ruhe eingekehrt. Und die leidige Sache mit den Handtaschen hat er sogar richtig aufgeklärt. Auch wenn ihn die speziellen Umstände der Aufklärung leider leider auch in diesem Fall daran hindern werden, als Star den Weg in die Hauptnachrichten zu finden, so ist er jetzt doch sehr froh, dass er den ganzen Ballast endlich abwerfen und die „Causa Handtaschen“ zusammen mit der „Causa Kampfbellos“ endgültig ad acta legen kann, bravo.
Weil er aber nach dem heute Nacht Erlebten in einer gewissen innerlichen Vorweihnachtsstimmung ist, jetzt im September, will er wenigstens das Glück von der Anni perfekt machen und gleich anschließend, noch bevor er heimfährt zur Roswitha in den Auerhahn, hinauf zum Schlevsky fahren und den Unruheherd in einem ernsten Gespräch ersuchen, den Mallinger mit seiner bekannten Charakterschwäche nicht wieder zu allem möglichen Blödsinn zu verführen, insbesondere nicht zum Alkoholmissbrauch und zum Bleifußtreten, damit er sich nicht ruiniert und Stattdessen der Anni mit seiner schönen Pension den Lebensabend versüßen kann.
Er selbst wird sich von einer erträumten Zukunft mit der Anni wohl oder übel endgültig verabschieden müssen und ihr eine letzte Träne nachweinen. Aber es nützt halt alles nichts: Der Mallinger hat letztlich einfach die viel schönere Pension (auch wenn er nicht Moped fahren kann!)
Innerliche Vorweihnachtsstimmung freilich übermannt den Biermösel auch deshalb, weil über Nacht natürlich schon wieder der erste Schnee gefallen ist und er sich vom kurzen Sommer verabschieden kann. Bald wird wieder das Christkind kommen und ihm wieder nichts bringen, denkt sich der Biermösel, wie er in die Dritte schaltet und mit einigem Lustgewinn noch immer um den See herum fährt. Bald wird er mit der Roswitha wieder in der Wirtsstube im Auerhahn sitzen und mit ihr alleine und ohne Kinder und Enkelkinder „Stille Nacht, Heilige Nacht“ singen und „Süßer die Glocken nie klingen“. Wer weiß denn schon, fragt er sich auf einmal, vielleicht werden das ja meine letzten Weihnachten als Gendarmerie sein? Und wer weiß, hört er nicht auf zu fragen, vielleicht werden es auch seine letzten Weihnachten im Auerhahn sein, bevor er sich aus seinen vier Wänden oben in der Kammer verabschieden muss und drüben in Goisern im Siechenheim die Kerzen am Gemeinschaftschristbaum anzünden darf und von der Heimleitung vielleicht eine Mon Chéri als Geschenk bekommt, eine abgelaufene? Und wer weiß, geht er noch einen Schritt weiter beim Wissen-Wollen, vielleicht werden es ja seine letzten Weihnachten überhaupt sein?
Er weiß es nicht.
Trotz der gewaltigen Waschküche, durch die er reitet, nimmt er dann wieder die forciert aerodynamische Haltung ein, schaltet in die Vierte und gibt ordentlich Gas. Er will die ungeplante Nachtschicht schleunigst hinter sich bringen und nach dem Gespräch mit dem Schlevsky endlich ein verdientes Frühstück bei der Roswitha zu sich nehmen. Er hofft wirklich inständigst, dass sie sich an die Kost-Logis-Abmachung zwischen ihnen beiden hält und sie nicht das ganze Bratlfett selbst gegessen hat, das hofft er bei dem Hunger, den er mittlerweile beisammen hat, wirklich sehr sehr inständig. Am liebsten täte er jetzt auf der Stelle eine halbe Sau essen, selbstverständlich eine tote und gebratene, mit einem schönen Krusterl drumherum.
Aber zuerst müssen die zwei Handtascherln entsorgt werden, bevor sie vielleicht wieder ein Rotzbub stehlen könnte oder – noch schlimmer! – ihn irgendwer mit ihnen sieht. Da täte er am Ende noch in den Geruch falscher sexueller Ausrichtung kommen, wenn ihn einer mit zwei Handtascherln sehen täte, und das braucht er jetzt im fortgeschrittenen Alter auch nicht mehr, nicht das Kainsmal falscher sexueller Ausrichtung! Genügt eh, wenn alle „Nur Bier, nie Möse!“ über ihn sagen, genügt eh, dass er auch diesmal wieder nicht bei der Anni hat landen können.
Also bremst er sich jetzt ganz hinten beim See abrupt ein. Genau da im See sollen die Handtaschen ihre ewige Ruhe finden, hat er entschieden. Genau da wird er sich von den Werkzeugen des Bösen verabschieden, den Auslösern von der ganzen blöden Geschichte, die er sich wirklich gerne erspart hätte.
Aber, muss er sich jetzt selbst ein bisserl den Wind aus den Segeln nehmen und die Kirche im Dorf lassen:
Gott sei Dank ist ja nichts wirklich Horrendes passiert!
So ein Handtascherlraub ist ja im Vergleich zur Verbrechensexplosion in anderen Regionen vom Bundesgebiet ein Komantschenpfiff im Wald. Da kann Aussee ja wirklich von Glück reden, dass es nicht zuletzt dank seiner Umsicht und dank seiner gewissen Erfahrung weder Chicago geworden noch zu einem Wintersportgebiet verkommen ist, in dem sich dauernd alle Besoffenen nur die Schädel einhauen und sie ein Blutbad nach dem anderen einlassen. Da kann Aussee wirklich von Glück reden, dass die Blutbäder als solches praktisch keine Rolle mehr spielen, seit die Biermösels hier den Sheriffstern tragen.
Weil die Pflicht als Gendarmerie ihn aber zwingt, in eine Handtasche hineinzuschauen, bevor er sie wegwirft, holt er jetzt doch den Ausweis aus dem Damenhandtascherl heraus und liest ihn mit der gewissen Routine der erfahrenen Gendarmerie von unten nach oben, weil die interessanten Sachen in einem Ausweis natürlich immer unten stehen, und von unten nach oben steht da:
Ausweisnummer: 9993Jddsle909 Sozialversicherungsnummer: OEsJF3949SVR Erlernter Beruf: Frisöse
Wohnort: Furzenbüttel (Anmerkung Biermösel: Haha! Hihi!)
geb. 1922 Augenfarbe: blau
Haarfarbe: blond (Anmerkung Biermösel: Lüge)
Größe: 161 cm
Name: Maria Schlevsky (Anmerkung Biermösel: Da schau her!)
Sind die zwei eventuell sogar verwandt, fragt sich der Biermösel jetzt, der Schlevsky oben am Gebirgshang, und die Schlevsky herunten in ihrer deutschen Regenhaut? Dazu vielleicht von ihm nur zwei Worte: „Mir wurscht!“
Er wird sich jetzt nicht noch eine zusätzliche Aufgabe um den Hals hängen und vielleicht eine Verwandtschaftszusammenführungen auch noch organisiert, er nicht!
Nichtsdestotrotz wird dem Biermösel das ganze persönliche Drama dieser weiblichen Sexbestie, als die er sie mittlerweile bezeichnen muss, augenblicklich klar. Und sofort nach Studium von ihrem Ausweis erschließt sich ihm der ganze Kosmos der verzweifelten Ausschweifungen, in dem die Dame als Trägerin von diesem Namen automatisch gefangen sein muss, und er ermisst die gesamte Tragik ihrer sinnleeren Existenz.
Ist es möglich, fragt sich der Biermösel jetzt im Angesicht von dieser Erkenntnis, während er einen ordentlichen Schluck aus der Flasche nimmt, ist es möglich, dass die schlichte Namensgleichheit zwei Menschen zu Gefangenen von ein und derselben Krankheit macht, obwohl das eine Sexmonster laut Ausweis aus Furzenbüttel stammt, der andere Sexsüchtige aus Berlin?
Sex! Sex! Sex!, schreit der Biermösel abermals innerlich aus sich heraus. Gibt es denn wirklich nichts anderes mehr als immer nur Sex?
Kopfschüttelnd schaut der Biermösel noch einmal deppert zum See hinaus und driftet ein wenig ins Sinnierende ab. Sind vielleicht alle Schlevskys besessen vom Sex und gehen solcherart am Leben vorbei, fragt er sich, weil es letztlich doch der Name ist, der die Menschen gleich macht? Sollte es also möglich sein, dass dann alle Biermösels gute Triumph-Fips-Fahrer sind, wirklich alle? Sind alle Teresas Mütter und kann jeder Wolfi gut Cello spielen, wenigstens das? Und – Kruzifix! – sind letztlich alle Ramzis fehlgeleitete Bierfahrer ohne jede Berufung? (Nur schwer kann er sich beruhigen, wenn er an fehlgeleitete Bierfahrer ohne jede Berufung denkt!)
Vielleicht, schließt der Biermösel den Ausflug ins Sinnierende ab, vielleicht ist es ja wirklich so. Aber wenn ja, warum? Und seit wann? Kann jedenfalls gut sein, dass er darüber einmal mit dem Doktor Krisper redet, wenn er in die Pension hinübergeglitten sein wird und dann für die Roswitha (Haben alle Roswithas einen Ausschlag?) die Ringelblumensalbe holt. Der Doktor Krisper kennt sich ja mit dem Menschengeschlecht ebenso gut aus wie er selbst. Mit dem wird er die Fragen erörtern.
Dann schweift der Blick vom Biermösel vom See hinauf zum Flachdachneubau, der den Gebirgskamm ziert wie früher das Indianerzelt den Wildwestfilm.
Der Schlevsky selbst wird am besten wissen, wenn eine Verwandtschaft von ihm Urlaub in Aussee macht, dem wird er also nicht extra davon erzählen müssen. Darum steckt er den Ausweis von der Schlevsky jetzt einfach wieder zurück in die Handtasche und wirft alles miteinander weit in den See hinaus.
Dann wischt er mit der gewissen Routine den Sitz von der Fips mit seinen dicken Fäustlingen ab, die er Gott sei Dank immer im Wetterfleck mit sich führt, auch jetzt im Spätsommer, und er muss sagen:
Ärgern tut ihn das jetzt im fortgeschrittenen Alter natürlich nicht mehr, weil er ja mittlerweile die gewisse innerliche Ruhe gewonnen hat. Aber Kruzifixnocheinmal! Kaum stehst in dieser Gegend einmal fünf Minuten deppert herum, schneit es dir schon wieder die Fips bis obenhin zu!
Das wird ihm jetzt wieder gar nicht gut tun, weiß der Biermösel, wenn er auf dem feuchten und kalten Mopedsitz die Fahrt hinauf zum Schlevsky in Angriff nehmen muss. Da werden wieder alle schimpfen mit ihm, wenn sie dann mit den fürchterlichen Konsequenzen konfrontiert sein werden!
Und Vollgas!