Blutbad, unvermeidliches

Als hätte er nicht immer gewusst, dass ihm die lange Unterhose noch gewaltige Probleme bereiten würde! Kaum, dass er drüben im Himmelreich angekommen ist, zeigt die Runde der versammelten Nachtclubkönige an ihrem Pokertisch unter Vorsitz von Tony „Die Zunge“ Stompanato aus Köln auch schon mit dem nackten Finger auf ihn, weil ihm das heiße Teil halb beim Arsch hinunterhängt.

Um die eigenartige Spannung ein wenig zu lösen, fragt der Schlevsky:

„Tony, du hier? Was hat denn dich gefällt?“

„Die Sommergrippe“, sagt der Tony nur, und schon lachen sie wieder alle.

Die lange Unterhose ist nämlich bei weitem das Schlimmste, was die harten Jungs hier seit langem zu sehen bekommen. Exakt, seit der Idi Amin Dada aus Uganda zum Pol Pot aus Kambodscha in den Hängekäfig über den glühenden Kohlen gezogen ist, wo die beiden seither gut gelaunt „Mensch ärgere dich nicht“ spielen und fortwährend und akzentfrei „Hoch auf dem Gelben Wagen“ singen – es ist einfach die Hölle!

In einem solchen Klima kann und will sich der Schlevsky die lange Unterhose unmöglich leisten. Also muss er unbedingt noch einmal zurück ins Leben, um sie für immer im Herrenhandtäschen zu bunkern, noch einmal zurück ins Leben! Hin und her, und her und hin, Rushhour im Schattenreich. Schon trifft er jemanden, den er zu kennen glaubt:

„Jocy? Bist du das?“

Uff! Geschafft!

Seine Seele ist wieder in seinem Körper gelandet. Als blutiger Klumpen Fleisch liegt er auf dem ehedem schönen Tigerfellbezugbett und betrachtet röchelnd die Sauerei um sich herum. Jetzt aber schnell aus der langen Unterhose raus und in den Brioni geschlüpft, bevor er sich endgültig aus diesem Leben verabschiedet. Doch ist das in seinem Zustand leichter gesagt als getan.

Und schon wird ihm wieder schwarz vor Augen!

Dass ausgerechnet er es sein würde, der das Blutbad nimmt, damit hätte er noch vor einer Stunde nicht gerechnet. Und dass es ausgerechnet dieser nachgemachte Affe Mallinger sein würde, der ihm das Blutbad einlässt, das nimmt er nun beinahe persönlich.

Eher hätte er damit gerechnet, dass dieser verrückte Bulle mit seinem Schießgewehr heraufkommt und ein paar ausstehende Strafmandate per Genickschuss eintreibt. Oder auch, dass der Kofi Annan samt einer Abordnung von Amnesty International auf einem Radpanzer zu ihm herunter ins Exil geritten kommt und ihm aus dem großen Buch der Genfer Flüchtlingskonvention vorträgt, nur weil er neulich auf dem Tingeltangel in Strudelwasser an der Oder einen Scheinasylanten ein wenig gröber angefasst hat.

Aber nein! Stattdessen steht plötzlich der Mallinger in einem roten Ferrari-Rennoverall mit lässig unter den Arm geklemmtem Vollvisierhelm bei ihm im Schlafzimmer und fordert die Schlüssel für seinen F50, weil er, wie er wörtlich sagte, endlich die Kompression an der Abzweigung nach Goisern mit Vollgas durchfahren und die Schmach tilgen muss. „Sonst glauben immer alle, ich kann nicht Auto fahren!“

Hat er schon jemals so eine gequirlte Scheiße gehört?

Für einen kurzen Moment lang vermeinte er in ihm einen berühmten Schifahrer zu erkennen: die unglaublichen Hasenzähne und das verbrannte Ohr samt schütterem Haar auf der Schädeldecke. Dazu die kleine Wohlstandswampe und keinen Meter sechzig groß.

Erinnerte er ihn an den Klammer? Oder war es der Maier? Außer ein paar Schifahrer gibt es ja in diesem Österreich niemanden, der berühmt wäre. Aber letztlich wollte es ihm doch nicht mehr einfallen, an wen er ihn erinnerte. Vielleicht lag es auch daran, dass der Mallinger sogar ein wenig sexy aussah in seiner Verkleidung, dass er ungewohnt ambitioniert und zielgerichtet wirkte, voller Optimismus und Entschlossenheit, bevor er ihn mit einem letzten „Wawarumm!“ und einem fürchterlichen Schlag mit dem Helm in die Bewusstlosigkeit schickte.

Herrgott!, flucht der Schlevsky nun vor sich hin, hilf- und kraftlos in seinem Zustand des Hinüberdämmerns, während er sich auch der Unterhose nicht und nicht entledigen kann. Herrgott, warum muss denn ausgerechnet ich die Hauptrolle in dieser Scheiß-Seifenoper spielen? Hätte mir dieser Idiot nicht einfach die Elefantenbüchse an die markante Stirn setzen und das Hirn wegblasen können? Dieser verdammte Deutschlehrer in seiner Extremrage, extrem unstoisch, wie ein randalierender Chinese? Stattdessen drosch er wie ein Berserker mit seinem Vollvisierhelm auf ihn ein und klopfte ihn weich wie ein Wiener Schnitzel, als er ihm die Schlüssel nicht sofort und freiwillig aushändigen wollte.

Warum ich?, schreit der Schlevsky immer wieder und hadert mit seinem Schicksal. Doch nur noch ein paar Hirschkühe draußen im finsteren Wald hören sein Klagen. Und mit der gewissen Einsicht, die der nahende Tod stets als Werbegeschenk mit sich führt, wenn er einen für sich gewinnen will, in der Gnade dieser Einsicht sagt er sich nun sogar:

Ich hab es nicht anders verdient. Also nehm’ ich meinen Hut und sag Adieu.

„Jocy?“

Immer kälter wird es dem Schlevsky von den Zehen herauf, weil ihm der Mallinger mit einem furchtbaren Helmtreffer wohl auch die Schlagader am Schenkel zerfetzt hat.

Aber ist es nur der innere Verlust des warmem Blutes, der ihn gar so zittern lässt, oder zieht es da auch ganz gehörig vom Keller herauf?

„Ivana?“, schreit er. „Ivana!“

Mehr fällt ihm augenblicklich nicht mehr ein auf Russisch. Und sie hat es umgekehrt auch nicht viel weiter gebracht mit ihren Deutschkenntnissen.

Warum, hadert der Schlevsky mit sich, hat er diesen verdammten Saint Hermain überhaupt angerufen und ihn mit einbezogen in die Planung seines kurzfristig angebrochenen Lebensabends? Hätte er ihn doch einfach am Bahnhof oben in Nang-Pu erschossen, als es ohnehin zu eng geworden war in seinem F50!

„Ivan...mmpf. .a!“

Hölle auch, was ist denn nun schon wieder? Fallen ihm jetzt die Reservezähne auch noch heraus?

Aber natürlich! Total zerbrochen, kotzt er die zweite Garnitur Beißerchen in sein Bett, und als er sich an die Schädeldecke fasst, um sich wenigstens das Haar zu richten, bevor er hinüber geht, spürt er einen tiefen Riss in seiner Kopfhaut. Da erinnert er sich, dass ihm der Mallinger ja auch noch den ausgestopften Wildsauschädel aufgesetzt hat, quasi als Dankeschön dafür, dass er ihm letztlich und schweren Herzens doch den Schlüssel für seinen F50 ausgehändigt hatte.

„Ivana!“

Aber auch die hört ihn nicht mehr. Auch die ist mit Sicherheit lange weg, entschlüpft durch das Kellerfenster, durch das jetzt die kalte Luft heraufzieht. Und er selbst wird auch nicht mehr lange hier sein. Stirbt er nämlich nicht an den Verletzungen, so wird er halt an der Kälte zugrunde gehen.

Der Schlevsky beobachtet, wie sein Blut langsam über die Kautschukunterlage (auch er war nicht mehr ganz sicher während der Nacht!) auf den herrlichen Bettvorleger läuft und schließlich dem ehemals stolzen und blutrünstigen, heute ausgestopften Tiger aus der Walachei in sein weit aufgerissenes Maul hineintropft. Der eine Tiger, weiß der Schlevsky, ist nun beinahe so tot wie der andere. Bald werden sie beide vereint sein in den Himmeln der Ewigkeit.

„Ivana!“

Nichts.

„Herrgott Ivana! Hilf mir wenigstens aus der Scheiß-Unterhose heraus!!!“

Nichts.

„Du rote Sau!“

Nichts. Nicht einmal ein leises höhnisches Kichern aus irgendeiner Ecke hört er, von wo aus sie sein unwürdiges Verenden beobachten würde. Dann halt:

„Jocelyn!“

Wieder nichts.

Traurig klingt der Schrei des Tigers, und voller Wehmut erstickt er. Dass er so einsam sterben muss im eigenen Blutbad! Keine Hand weit und breit, welche die seine halten könnte. Keine zärtlichen Finger, die ihm das Haar aus der Stirn streichen. Keine Augen, die ihn tröstend anlächeln würden. Und am schlimmsten: Keine warme Stimme, die ihm versichert, dass er nicht alles falsch gemacht hat in seinem Leben, alles nicht.

Vielleicht, überlegt er nun, da ihm die Tränen der Erinnerung in die Augen steigen, vielleicht ist ihm sein größter Fehler überhaupt schon viel früher passiert, damals, als er weggegangen ist aus Furzenbüttel?

Und in der Stunde seines Todes denkt er plötzlich an die Frau, die ihm letztlich von allen am nächsten gestanden war, und aus dem Meer seiner Erinnerungen taucht noch einmal der Ort seiner wunderbaren Kindheit auf. Er sieht den Frisiersalon seiner Mutti in der Hamburger Erhardstraße, und als er sich zur Seite dreht und die Augen schließt, atmet er plötzlich die unvergleichlichen Düfte ihres Ladens, den Geruch des Haarwassers, des Rasierwassers, der Haarsprays, und in Gedanken schmiegt er sein Gesicht noch einmal in den gestärkten Friseurmantel seiner Mutti, während er sich an ihr Bein klammert und unter ihrem Mantel Schutz sucht. Dann hört er noch einmal den hellen Klang des Türglöckchens, und er sieht die alten Männer, die immer zum Gruß ihren Hut hoben, sobald sie eintraten.

„’Tach Frau Schlevsky“, sagten sie. Und dann zu ihm:

„Na Rudi, du kleiner Hosenscheißer, alles klar bei dir?“ Dann beugten sie sich zu ihm herunter, zogen ihn launig am Ohr und steckten ihm einen Pfennig zu oder zwei.

Als der Schlevsky an das satte, einfallende Sonnenlicht denkt, das sich während der warmen Sommertage stets im Glas der Eingangstür brach, kann er beinahe noch einmal die feinen Haare sehen, die der Windhauch durch den Laden wehte, wenn ein neuer Kunde ihn betrat. Und dann hört er leider auch wieder diese Scheiß-Operettenmusik, die seine Mutti immer spielte und ohne die er vielleicht wirklich Friseur geworden wäre und sich das alles hier erspart hätte:

„Wiener Bluuuuuhhht Wiener Bluuuuhhhhut! Dadadadam dadadam dadam dadam!“

Diese schwulen Operetten! Er wäre nie fortgegangen aus Furzenbüttel, wenn er nicht immer diese Zuckerscheiße hätte hören müssen und seine Mutti ...

„Mutti?“

Nach all den Jahren, während der er keinen Furz lang an sie gedacht hat, hegt er plötzlich zärtliche und warme Gefühle für seine Mutti, und er ist ihr trotz allem dankbar, dass sie ihm das Leben geschenkt hat. Denn auch wenn er jetzt mitten in der Zielkurve zu verrecken droht, so war es doch ein wunderschönes und erfülltes Leben. Und jetzt, da es nicht mehr lange dauern wird und sich schon die Glasglocke der ewigen Ruhe über ihn stülpt, jetzt tröstet ihn die Erinnerung daran, wie wunderbar friedlich es immer war in ihrer Straße nach dem getanen Werk des Tages, wenn ganz Furzenbüttel zu Hause vor dem Fernseher saß und auch er mit seiner Mutti die „Wünsch Dir Was!“-Show schauen durfte. Er denkt an die Männer, die vor ihren Häusern standen, HB rauchten und Bier tranken und sich über den HSV unterhielten. Keine Operettenmusik war mehr zu hören, wenn die Nacht sich über Furzenbüttel legte und Mutti zu ihm an sein Bettchen trat. Sie beugte sich über ihn und zog ihm die Pyjamahose an. Dann zog sie ihm das Deckchen herauf bis zum Kinn und zeichnete ihm mit dem Daumen ein Kreuz auf die Stirn, das ihm Mut machen sollte, wenn die Angst vor der dunklen Nacht ihn übermannte.

Sie sagte: „Die Nacht ist gar nicht schwarz und finster, mein kleiner Liebling, sieh doch, dort oben am Himmelszelt leuchtet der Mond und passt auf dich auf.“ Und dann sang sie für ihn, so schön und warm und weich, wie wirklich nur seine Mutti es konnte:

„Turaluraluralu“ – Himmelarsch! Jetzt muss er aber wirklich weinen! – „Turaluraluralu, nur der Mann im Mond schaut zu.“ Und er schloss die Augen und schlief friedlich und ohne Angst ein.

Er schloss die Augen und schlief friedlich und ohne Angst ein. Herrgott! Wie sehr wünscht er sich, dass er das jetzt könnte! Augen zu und durch. Aber er scheißt sich so an vor dem Sterben, der Schlevsky mit seiner Ummantelung aus Stahl um seine Seele, die ihm nun wegschmilzt wie die Eiszapfen an seinem Flachdach, wenn dann im Sommer in dieser Scheißgegend doch einmal für ein paar Tage die Sonne durchkam. Und solcherart gänzlich ungeschützt gegen all die Gefühle der Angst und Einsamkeit wünscht er sich nichts mehr, als dass seine Mutti jetzt bei ihm sein und ihm die Hand halten und sie noch einmal, ein letztes Mal „Turaluralu“ für ihn singen könnte.

„Mutti! Mutti!“, schluchzt er leise vor sich hin.

„Warum hab ich dich verlassen?“