Kapitel zweiunddreißig
Robert trottete in Karri Karri über den hellgelben Staub und sah zu, wie das Futter aus dem schweren Jutebeutel auf seiner Schulter rieselte. Es war Mitte März, und nicht einmal ein Grashalm hatte die Dürre überlebt. Die Schafe folgten scharrend der Körnerspur und verschlangen jeden Krümel, kaum dass er den Boden berührte. Immer wieder blieb Robert stehen, lockerte seinen schmerzenden Rücken und musterte zufrieden seine Herde. Es gab noch immer schöne Dinge im Leben. Chris reparierte am anderen Ende der Farm eine der vielen Windmühlenpumpen, die immer wieder Ärger machten. Wie Robert gehofft hatte, erwies sich Chris als sehr tüchtig, und es sah aus, als würden sie die Trockenzeit, wenn auch mehr schlecht als recht, überstehen. Die Futtermittel-preise waren astronomisch gestiegen, und zudem würde die Wolle in diesem Jahr von minderer Qualität sein. Aber sie hatten kein einziges Schaf verloren. Außerdem wies einiges darauf hin, dass die Dürre bald vorüber sein würde. Das Wetteramt sagte für die nächsten zwei bis drei Monate Gewitter und heftige Winde voraus. Deshalb war Robert trotz der alltäglichen Sorgen sicher, dass sie es schaffen würden.
»Offenbar komme ich besser mit Schafen zurecht als mit meinem Privatleben«, dachte Robert finster, als er den leeren Beutel in den Laster warf und einen vollen herauswuchtete.
Allerdings hatte sich seine Lage in bemerkenswert kurzer Zeit drastisch verbessert, denn er war nun von Katies ständigen Forderungen befreit und wusste darüber hinaus, dass Stewart sich entschieden hatte, bei ihm zu leben.
Seit der Enthüllung, dass Stewart nicht sein leiblicher Sohn war, liebte er ihn nur um so mehr. Der Junge hatte zwar auch seine Launen, doch beim Kochen, Waschen und der Arbeit auf der Farm rückten sie immer enger zusammen. Während der Woche besuchte Stewart die Schule am Ort. Vor der Rückkehr nach Karri Karri hatten Robert und Stewart der Hütte auf Gillgully Downs einen Besuch abgestattet. Robert plante, das Gebäude zu renovieren und neu einzurichten und dann dort einzuziehen, damit nichts mehr ihn an Katie erinnerte.
Er hatte beschlossen, Stewart erst dann die Wahrheit über seinen Vater zu erzählen, wenn er sicher sein konnte, dass der Junge es auch verkraften würde. Inzwischen machte er sich keine Sorgen mehr, Katie könnte es ihm eröffnen. Verdreht und widersprüchlich wie immer, hatte Katie plötzlich verkündet, sie habe keine Lust, die Verantwortung für Stewarts Erziehung zu übernehmen, und zwar unter dem Vorwand, Robert zahle ihr nicht genug Unterhalt, und außerdem sei ihre elegante Mietwohnung in Melbourne zu klein. Sie hatte Robert unmissverständlich klar gemacht, dass sie mit der Familie nichts mehr zu tun haben wolle, wenn sie Wangianna nicht bekommen könne. Doch damit konnte sie Robert in seiner unbeschreiblichen Erleichterung nicht mehr kränken.
Es hatte in ihrer Ehe auch zärtliche Momente gegeben, dachte Robert gerade, während er weiter die Schafe fütterte, doch inzwischen war ihm klar, dass diese stets an Bedingungen geknüpft gewesen waren. Nach der Scheidung würde er wieder ein freier Mann sein. Er stellte sich vor, wie Alice in seinen Armen lag und spürte ihren warmen Körper bereits dicht an seinem, glaubte, ihren berauschenden Duft zu riechen und seine Lippen auf ihre zu pressen. Immer noch empfand er die tiefe Sehnsucht, die ihn erfüllt hatte, als sie seinen Kuss erwidert und ihm so leidenschaftlich ihre Liebe gestanden hatte. Nun würde er endlich Nägel mit Köpfen machen. Bei seinem nächsten Besuch zu Hause – laut Wetterbericht also früher als erwartet – würde er sie bitten, seine Frau zu werden. Was hatte er schon zu verlieren?
Beschwingten Schrittes kehrte er zurück zum Laster, wandte sich dann der nächsten Herde zu und malte sich eine Zukunft mit Alice aus. Während er einen weiteren Futtersack öffnete, runzelte er die Stirn, als seine Hochstimmung schlagartig von Zweifeln getrübt wurde. Würde Alice ihm glauben? Würde sie ihm verzeihen? Bildete er sich vielleicht nur ein, dass sie ihn immer noch liebte, weil er es sich so verzweifelt wünschte? Konnte er wagen, ehrlich zu ihr zu sein, auch wenn er riskierte, dass sie ihn zurückwies? Würde er Stewwys Zukunft für nichts aufs Spiel setzen? Doch um sie zurückzugewinnen, musste er ihr die Wahrheit sagen. Diese Gedanken quälten ihn, als er die Fütterung beendete und anschließend nach den Silos sah. Zwei davon waren fast völlig leer. Er würde in die Stadt fahren müssen, um Futter nachzukaufen.
Der Wetterbericht an diesem Abend gefiel Robert gar nicht. Die Küste von Queensland war bereits von einem Zyklon heimgesucht worden, der die kleine Stadt Yameena ausgelöscht hatte und nun mit heftigen Winden und schweren Überschwemmungen die Umgebung von Rockhampton verwüstete. Das Regengebiet zog auf Neusüdwales zu. Die Menschen hatten kaum Zeit, sich darüber zu freuen, dass die Trockenheit offenbar endlich vorbei war, als das australische Wetter, extrem wie immer, der Dürre in eine Sintflut folgen ließ. In den nächsten drei Wochen wüteten heftige Regenfälle und Stürme über dem Land, und Robert machte sich Sorgen um Wangianna. Die Aufteilung war zwar in die Wege geleitet worden, aber Stanley Fenton ließ sich Zeit, weshalb die Farm noch eine Einheit bildete. Unter Andrews Leitung und angesichts von Ians Gleichgültigkeit, konnte eine Krise sich zu einer Katastrophe auswachsen. Er rief Elizabeth an.
»Pass auf, Mum, der Wetterbericht für eure Gegend gefällt mir gar nicht. Ich habe beschlossen, Chris die Verwaltung der Farm früher als geplant zu übertragen, und mit Stewwy in der nächsten Woche nach Hause zu kommen. Falls es wirklich zu den angekündigten schweren Überschwemmungen kommen sollte, wäre es besser, wenn ich auf Wangianna bin«, meinte er und rechnete eigentlich mit Widerspruch.
»Es ist knochentrocken hier, aber um ehrlich zu sein, wäre ich sehr froh, wenn du hier nach dem Rechten sehen würdest.« Er hörte die Erleichterung in ihrer Stimme. Zum ersten Mal seit der Testamentseröffnung übte sie Kritik an Andrew, für Robert ein Zeichen, dass ihr die Geschäftsführung seines Halbbruders großes Unbehagen bereitete. Er wünschte, die Anwälte würden endlich mit dem Gerede aufhören und die Farm aufteilen.
Am nächsten Tag fuhr Robert nach Meekatharra, um Futter und Lebensmittel zu kaufen und die Post abzuholen. Als er nach einer langen Fahrt durch die Hitze zurückkam, warf er seinen Hut auf einen Stuhl und holte sich ein eiskaltes Bier aus dem Kühlschrank. Nachdem er einen großen Schluck getrunken hatte, stellte er die Flasche auf den Tisch, wischte sich seufzend den Mund mit dem Handrücken ab und begann die Post zu sortieren. Rechnungen, Rechnungen und noch mehr Rechnungen. Er legte sie auf einen Stapel mit den Kontoauszügen und der Lokalzeitung. Es versetzte ihm einen unangenehmen Stich in die Brust, als er plötzlich Katies Handschrift auf einem eleganten weißen Umschlag erkannte. Warum zum Teufel schrieb sie ihm denn? Der Unterhalt für diesen Monat war bereits auf ihr Konto überwiesen, und er hatte sich darum gekümmert, dass ihr das Haus in Perth überschrieben wurde. Ihm lag viel daran, den Kontakt mit ihr auf ein Minimum zu beschränken. Robert schlitzte das Kuvert auf und zog einen Bogen übertrieben elegantes Briefpapier heraus.
»Lieber Robbo«, las er. »Hoffentlich geht es dir gut. Ich wollte dir nur mitteilen, dass ich nie vorhatte, dir wehzutun.« Beinahe hätte er den Brief sofort in den Mülleimer geworfen, doch seine Neugier siegte – Katie tat nie etwas ohne Hintergedanken. Also las er weiter. »Ich komme gut zurecht und habe auch schon einen Käufer für das Haus in Perth gefunden. Außerdem kann ich vielleicht ein nettes Häuschen in Melbourne erwerben.
Über Marigold und Alice gibt es gute Neuigkeiten. Mum hat es mir am Telefon erzählt. Fraser hat sich endlich getraut und Marigold tatsächlich einen Antrag gemacht. Planen sie womöglich eine Doppelhochzeit? Sicher weißt du, dass Alice vorhat, Jo Perry zu heiraten. Sie wird eine wunderbare Pilotengattin abgeben, meinst du nicht auch? Letztens erzählte sie mir, sie spiele mit dem Gedanken, die Farm zu verkaufen und eine Ausbildung zur Notfallsanitäterin zu machen, damit sie mehr Zeit mit Jo verbringen kann. Ich habe meinen Ohren nicht getraut. Wie geht es Stewwy? Bestimmt kümmerst du dich gut um ihn. Sag ihm, ich vermisse euch beide. Viele Küsse, eure euch liebende Katie. PS: Ich habe letztens zufällig Andrew getroffen, und er hat mich zum Essen eingeladen. Er ist gar nicht so übel.«
Robert ließ den Brief sinken und starrte auf die Spinnweben über dem Herd. Alice wollte Jo Perry heiraten? Er konnte es nicht glauben. Als er den Brief noch einmal las, wurde ihm angesichts dieser zynischen Wendung des Schicksals das Herz schwer. Wieder einmal hatte Katie es geschafft, Salz in seine Wunden zu streuen. Er fühlte sich plötzlich sehr müde, als er Stewart zum Essen ins Haus rief und ihm von der Rückkehr nach Gillgully Downs erzählte.
Eines Sonntags Ende März wurde Alice von einem leisen Trommeln auf das Dach geweckt. Die Nacht war ungewöhnlich heiß gewesen, und im Raum war es stickig. Obwohl es früher Morgen war, herrschte draußen noch Dunkelheit. Alice glaubte zu träumen, drehte sich um und zog die Decke hoch. Doch als das Trommeln lauter wurde, erkannte sie, was geschah. Sie sprang aus dem Bett und eilte zum Fenster. Es hatte zu regnen angefangen. Vor ihren Augen verwandelten sich die Tröpfchen in Tropfen und wurden schließlich zu einem Regenschleier, hinter dem die Landschaft verschwand. Bald war das Hämmern auf das Blechdach ohrenbetäubend. Alice stürmte in Marigolds Zimmer, rüttelte sie bei den Schultern und schrie ihr ins Ohr.
»Es regnet, Marigold! Es regnet wie aus Kübeln!« Marigold fuhr hoch, machte dann ebenfalls einen Satz aus dem Bett und spähte schlaftrunken aus dem Fenster. Noch nie hatte sie einen solchen Regen erlebt. Er war so stark, dass sie die Bäume neben dem Haus nicht mehr sehen konnte. Alice fiel ihr um den Hals und tanzte mit ihr durch das Zimmer.
»Weißt du, was das bedeutet?«, jubelte sie und schleppte Marigold aus dem Zimmer auf den Flur. Dort ließ sie ihre Hand los, riss die Vordertür auf und stürzte in den Regen hinaus. Schon im nächsten Moment war sie völlig durchnässt, sodass ihr dünnes Nachthemd an ihrem Körper zu kleben schien und seine Konturen sichtbar machte; ihre Haarpracht hing schlaff herunter. Unter lautem Gelächter streckte sie die Hände zum Himmel. Marigold stand auf der Schwelle und beobachtete sie erstaunt.
»Bist du jetzt vollkommen übergeschnappt, Alice!«, rief sie aus und trat dann auch in den Regen hinaus. Auch ihr kurzes Nachthemd war in Sekunden klatschnass. Vicky und Ben, die von dem Radau aufgewacht waren, kamen nach unten gelaufen und rieben sich den Schlaf aus den Augen. Voller Erstaunen sahen sie zu, wie ihre Mutter und ihr Kindermädchen völlig durchweicht im Regen umhertanzten. Nachdem Alice und Marigold den Kindern versichert hatten, dass sie noch ganz richtig im Kopf waren, gingen sie hinein, um sich abzutrocknen und anzuziehen.
In den nächsten beiden Wochen regnete es fast pausenlos. Nur hin und wieder war ein Fleckchen blauer Himmel zu sehen, dann wälzten sich schon wieder die nächsten dicken schwarzen Wolken über das Land und luden ihren Inhalt ab, bis sich die Weiden grün verfärbten und die Kanäle sich füllten. Doch bald verwandelte sich die Begeisterung der Farmer in Sorge, denn die Wasserpegel der Flüsse stiegen, sodass man die Herden auf höher gelegenes Gelände treiben musste. Seit Monaten ausgetrocknete Bäche führten wieder Wasser. Jeden Tag überprüfte Alice den Bach, der zwischen ihrer Farm und Gillgully Downs verlief, und hörte sich die Wasserstandsberichte im Radio an.
Als das Wetteramt einen weiteren Anstieg der Wasserpegel meldete, beschloss Alice, Vicky bei Bea in der Stadt zu lassen. Der Damm rings um die Stadt, der in den frühen sechziger Jahren gebrochen war, war verstärkt worden. Die Einwohner waren zwar besorgt, aber zuversichtlich, dass er diesmal standhalten würde. Dennoch verstärkten sie ihn mit Sandsäcken und postierten rund um die Uhr Wachen. Da Ben jedes Mal eine Szene machte, wenn er von Alice getrennt wurde, und außerdem eine Erkältung ausbrütete, beschloss sie, ihn nur in die Stadt zu schicken, falls es wirklich gefährlich werden sollte. Sie schätzte, dass ihr noch zwei Wochen Zeit blieben, bis der Wasserspiegel in MerryMaid bedrohlich ansteigen würde.
An dem Tag, als Alice beschloss, Ben ebenfalls zu Tante Bea zu bringen, trat der Macquarie River über die Ufer.
»Du wirst nicht durchkommen, Kind«, sagte Bea am Telefon. »Die Brücke über den Harris Creek ist letzte Nacht eingestürzt, und die Straßen auf deiner Seite stehen bereits einen guten halben Meter unter Wasser. Es ist einfach zu riskant, so lange die Flut weiter steigt.« Ihre Angst wuchs, als ihr klar wurde, dass Robert Alices nächster Nachbar war. Bis jetzt hatte er zwar noch keine Anzeichen der Gewalttätigkeit gezeigt, vor der Katie sie gewarnt hatte, doch Bea machte sich noch immer Gedanken über seinen Geisteszustand.
Alice teilte die Auffassung ihrer Tante, dass es zu gefährlich war, die Fahrt mit dem Wagen zu machen. Dann versuchte sie, Beas Befürchtungen, was ihre Sicherheit anging, zu zerstreuen. Im Moment machte sie sich mehr Sorgen um ihre Schafe als um sich selbst und um Ben. Doch als sie und Ben in dem leeren Haus allein waren, wurde sie beim Gedanken an die Worte ihrer Tante dennoch nervös. Die Flüsse waren noch nicht so hoch gestiegen wie bei der letzten Überschwemmung. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als abzuwarten, Radio zu hören und sich in Geduld zu üben. Sie funkte Jimmy an, der nun schon den fünften Tag am Stück mit einigen anderen Männern unterwegs war, um die Schafe auf höheres Gelände zu treiben. Marigold war auf der Bo-wens-Farm und half Fraser bei der Arbeit. Alice hätte sich ohrfeigen können, denn sie hatte außerdem ihrer Putzhilfe am letzten Donnerstag freigegeben. Nun saß das Mädchen in Dubbo fest.
Den ganzen Tag lang stieg das Wasser und quoll über die Ufer der Flüsse und Bäche. Es hatte die Farbe von milchigem Tee, als es sich rasch über die Weiden ausbreitete. Obwohl das Gelände bis zum Horizont mehr oder weniger eben war, gab es Vertiefungen im Boden. Das Haus stand auf einem winzigen Hügel, der sich hinter dem Gebäude bis zum Heuschober erstreckte. Auch der Stall für die Widder war absichtlich auf höherem Gelände und weitab vom Bach errichtet worden. Alice war mit Ben allein im Haus, als sie im Radio hörte, dass der Wasserspiegel immer mehr stieg. Sie starrte in den prasselnden Regen hinaus und kam zu dem Schluss, dass ihnen, wenn die Wettervorhersage stimmte, zumindest heute Nacht nichts geschehen konnte. Sie ließ Ben eingekuschelt auf dem Wohnzimmersofa sitzen und watete durch den Sumpf, um nach den Widdern zu sehen. Anschließend kochte sie Tee und ging zu Bett. Den schniefenden Ben neben sich, schlief sie unruhig und stand jede Stunde auf, um den Wetterbericht zu hören und mit einer Taschenlampe die Höhe des Wassers draußen zu kontrollieren. Als sie bei Morgengrauen aufwachte, stellte sie fest, dass die Weiden unterhalb des Hauses überschwemmt waren. Doch rings um das Haus war der Boden noch nicht überflutet.
Das Wasser stieg schneller und schneller und umschwappte am späten Nachmittag bereits die Fundamente des Widderstalls. Hilflos musste Alice mit ansehen, wie ihr geliebter Garten überschwemmt wurde. Es brach ihr das Herz, als die Pflanzen, die sie in der Trockenzeit mühsam durchgepäppelt hatte, langsam in Wasser und Schlamm erstickten. Von Jimmy und den anderen Schafhirten hatte sie noch nichts gehört. Um vier Uhr nachmittags fing Alice einen Funkspruch auf.
»Alice, hier spricht Robert. Ich war gerade an dem Bach, der unsere beiden Farmen trennt. Er ist über die Ufer getreten. Hast du gehört, dass der Wasserspiegel in Karina Downs einen Meter höher ist als hier?« Alice hielt den Atem an. Karina Downs befand sich fünfundsiebzig Kilometer stromaufwärts von MerryMaid, was bedeutete, dass sie innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden mit weiteren ein bis anderhalb Metern Wasser rechnen mussten. »Es regnet immer noch, und deshalb wissen wir nicht, wie weit es steigen wird. Aber ein Rückgang ist frühestens in zwei bis drei Tagen zu erwarten. Ich würde dir empfehlen, sofort zu verschwinden.«
Im nächsten Moment meldete sich Tante Bea. »Ich habe alles gehört. Sei vorsichtig, Kind.« Alice verstand nur die letzten drei Wörter.
»Es geht uns gut, Tante Bea. Wir machen uns aus dem Staub. Rings um das Haus steht das Wasser über einen halben Meter hoch, und es steigt weiter«, sagte Alice, froh, die vertraute Stimme ihrer Tante zu hören. »Ich wollte gerade das Boot fertig machen, als Robert sich gemeldet hat.«
Sie stand vom Funkgerät auf und warf einen raschen Blick auf Ben, der unruhig auf dem Sofa schlief und wegen seiner Erkältung schnarchte. Dann hastete sie in die Waschküche, wo sie für derartige Notfälle einen kleinen Außenbordmotor aufbewahrte und stellte ihn an die vordere Tür. Danach ging sie auf die Veranda, um das kleine Ruderboot zu holen, das hinter dem Haus vertäut war. Sie war überzeugt, dass der Motor funktionieren würde, denn schließlich hatte Fraser ihn kurz vor Beginn des Regens überprüft. Sie schätzte, dass ihnen noch eine Stunde blieb, bis das Wasser die Veranda erreichte. Die bald einbrechende Dunkelheit bereitete ihr Sorgen. Es hatte zwar vorübergehend aufgehört zu regnen, doch der Himmel war düster und bewölkt, weshalb die Dämmerung früher hereinbrechen würde als gewöhnlich. Als sie um die Ecke der Veranda bog, blieb ihr fast das Herz stehen. Das Seil, mit dem das Boot festgebunden gewesen war, hing zwar noch da, aber von dem Boot war nichts zu sehen. Alice traute ihren Augen nicht und untersuchte das Seil. Es war nicht einmal gerissen. Der Knoten war aufgegangen. Nach einem weiteren Blick auf das steigende Wasser wusste Alice, dass sie nur eine Wahl hatte. Sie betete, dass sie keinen Fehler machte, als sie zurück ins Haus eilte und Robert anfunkte.
»Robert, das Boot ist weggeschwommen. Du musst uns hier rausholen«, sagte sie. Wegen ihrer eigenen Unfähigkeit wäre sie am liebsten im Erdboden versunken, insbesondere deshalb, weil der ganze Bezirk mithören konnte.
»Wir sind auf halbem Wege nach Wangianna«, erwiderte Robert. »Bleib, wo du bist, dann komme ich zurück, um dich zu holen. Pack alles Nötige zusammen. Wenn es sein muss, klettere aufs Dach. Ich bin da, so schnell es geht.« Seine Stimme klang ruhig – ganz wie der Robert, den sie von früher kannte, und all ihre Befürchtungen wegen seines Geisteszustands waren mit einem Mal verflogen.
»Danke. Was ist mit meinen Widdern? Gibt es eine Möglichkeit, sie zu retten? Ich kann sie doch nicht einfach ertrinken lassen?«
»Es bleibt dir nichts anderes übrig. Wir können sie nicht mitnehmen. Tut mir wirklich Leid. Mach einfach die Stalltüre auf.« Nachdem Alice das Gespräch beendet hatte, watete sie hinüber zum Widderstall, der inzwischen ringsum von Wasser umgeben war. Hilflosigkeit drohte, sie zu überwältigen. Der Wind frischte auf. In wenigen Stunden würde sie vielleicht alles verloren haben, für das sie sich abgemüht hatte. Ihr Schloss und alles, was sie sich aufgebaut hatte, würde zerstört werden, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Eine Überschwemmung war fast noch schlimmer als ein Feuer. Sie wollte gar nicht an das Grauen denken, das Jimmy vermutlich beobachtet hatte, als das Wasser stieg und und die verängstigten Tiere im zähen Schlamm feststeckten, ohne sich befreien zu können. Sie schob die schrecklichen Bilder beiseite und watete durch das Wasser, das ihr inzwischen bis zur Taille reichte, zum Widderstall, wo sie aus den Fluten stieg und die Treppe hinauflief. Die Widder drängten sich aneinander und beäugten sie in der Dunkelheit, als sie beide Türen weit aufriss, die Türflügel festband, damit sie nicht wieder zufielen, und noch einmal die Rampe überprüfte. Anschließend füllte sie Futter- und Wassertrog, warf den Widdern einen letzten Blick zu und kehrte zurück zum Haus.
»Jetzt können sie wenigstens schwimmen, wenn es sein muss«, dachte sie sich, während sie zwei Kartons mit Lebensmitteln, zwei Wasserschläuche, Kleidung zum Wechseln und die wichtigsten Dokumente zusammenpackte. Dann zerrte sie die Anrichte in der Küche unter die Falltür in der Decke, die zum Dach führte. Ray hatte dort oben aus Dielenbrettern eine Rettungsplattform gebaut. Nachdem Alice sich vergewissert hatte, dass sie, Ben und die beiden Hunde im Notfall hinaufklettern konnten, kümmerte sie sich um das restliche Haus. In den nächsten anderthalb Stunden arbeitete sie mit Feuereifer, rollte Teppiche zusammen, stapelte Kisten und räumte Schränke aus, um im Fall einer Überschwemmung des Hauses so viel wie möglich von ihrer Habe zu retten. Währenddessen schlichen die beiden Hunde kläglich jaulend um sie herum. Bald sah es im Haus aus wie in einem Gebrauchtwarenladen. Nach einer Weile wachte Ben auf und begann zu weinen. Alice redete ihm gut zu und arbeitete weiter. Als sie endlich einen Teil ihrer Besitztümer in Sicherheit gebracht hatte, nahm sie ihn zärtlich auf den Arm.
»Gleich kommt Onkel Robert und holt uns mit dem Boot ab. So eine Spazierfahrt bei Dunkelheit wird bestimmt ein Abenteuer.« Sie küsste ihn auf die Stirn.
Das letzte Licht verblasste am Himmel, und das Wasser schwappte über den Rand der Veranda, als Robert in seinem Boot eintraf. Inzwischen hatte der Regen wieder eingesetzt. Dankbarkeit überwältigte Alice.
»Gillgully steht auch fast vollständig unter Wasser«, meinte Robert. »Lass uns aufbrechen, bevor es so dunkel wird, dass wir nicht mehr sehen, wo wir hinfahren. Bei diesem Wind werden wir sicher eine Weile nach Wangianna brauchen.« Alice reichte Robert Kartons und Wasserschläuche. Dann hob sie Ben, der in seinem Regenmantel mit tief heruntergezogener Kapuze und mit seinen vor Staunen geweiteten Augen aussah wie ein Zwerglein, in seine Arme, und befahl den Hunden, ins Boot zu springen. Der ältere Hund gehorchte sofort, doch Bitsa lief ängstlich jaulend vor dem Boot hin und her und duckte sich, bis ihr Bauch fast den Boden berührte. Ungeduldig packte Robert die Hündin am Genick und zerrte an ihr, bis sie es endlich unter Protestgebell wagte. Alice folgte ihr. Als sie im strömenden Regen über die Weiden davontuckerten und ihr Zuhause den tosenden Fluten überließen, war Alices Herz zu voll, um sich Gedanken um Robert zu machen. Sie drückte Ben an sich, schützte sein Gesicht vor dem auffrischenden Wind und musste die Tränen unterdrücken, während sie zusah, wie der Widderstall in der Nacht verschwand.
Der Wind wurde immer stärker. Robert hielt Ausschau nach Orientierungspunkten, die aus der Dunkelheit aufragten, und musste immer wieder den Motor aus dem Wasser heben, damit sich die Schrauben nicht in einem Zaun verhedderten. So kamen sie nur langsam voran. Auf halbem Wege zwischen MerryMaid und Wangianna tosten heftige Böen, beutelten das Boot hin und her und peitschten das Wasser zu kleinen Wellen auf. Plötzlich durchzuckte ein Blitz die Wolken und erhellte die bleichen Gesichter der drei Reisenden. Schon im nächsten Moment folgte ein gewaltiger Donner-knall. Erschrocken brach Ben in Tränen aus. Die beiden Hunde drängten sich gegen Alices Knie. Die Bäume bogen sich im heftigen Wind, und ihre gewaltigen Äste konnten der Wucht kaum standhalten. Inzwischen waren Robert, Alice und Ben nass bis auf die Haut. Der heftige Sturm, der rings um sie peitschte, brachte sie immer wieder vom Kurs ab, sodass Robert mit aller Kraft gegensteuern musste. Einmal wurden sie sogar rückwärts geweht, und nur ein Zickzackkurs sorgte dafür, dass sie bald wieder in die richtige Richtung fuhren. In der Dunkelheit wehten ihnen Blätter und Rindenstückchen ins Gesicht, und der Regen, den der Wind ihnen entgegentrieb, ergoss sich über ihre gebeugten Köpfe. Die Arme fest um Ben geschlungen, begann Alice zu beten. Als sie sich den Lichtern von Wangianna näherten, leuchtete ein riesiger Blitz am Himmel auf, schlug dann in einen der majestätischen alten Eukalyptusbäume ein und spaltete ihn in der Mitte. Wie um seine Kraft zu beweisen, riss der Wind die eine Hälfte des Baumes mit sich und schleuderte sie wie ein Spielzeug ins schäumende Wasser. Robert ließ den Motor mit voller Kraft laufen, als sie das letzte Stück Wasserfläche zum Haus zurücklegten. Dann, plötzlich, verebbten die Wut des Wetters und der Regen, und das Boot stieß gegen die Veranda von Wangianna.
Elizabeth, in einen Regenmantel mit Kapuze gehüllt, erwartete sie schon aufgeregt. Alice und Ben wateten zitternd die Stufen hinauf, während Stewart Robert beim Festmachen des Bootes half. Die Hunde brauchten keine Aufforderung, um auf die trockene Veranda zu springen.
»Dem Himmel sei Dank, ihr seid alle gerettet«, sagte Elizabeth.
Als Alices Hunde die von Robert kennen lernten, entstand ein wenig Radau. Doch ein scharfer Befehl von Elizabeth schickte die eine Partei zurück auf ihre Decke, während Alice ihre beiden Vierbeiner am anderen Ende der Veranda festband. Dann wurden sie und Ben in das warme Haus geführt, wo ein dampfendes Getränk und ein heißes Bad sie bald wieder aufmunterte.
Nachdem Ben, von dem Abenteuer erschöpft, eingeschlafen war, saß Alice, eine Tasse Kakao in der Hand, da und lauschte zusammen mit den McIains dem Wetterbericht im Radio. Als Andrew anschließend anfing, die anderen herumzukommandieren, forderte Elizabeth ihn sofort auf, den Mund zu halten.
»Ich halte es für das Vernünftigste, Robert die Verantwortung zu übertragen, bis das Schlimmste vorbei ist«, verkündete sie mit Nachdruck. Ian und Jordie schwiegen. Andrew errötete und verstummte schlagartig.
Zur allgemeinen Erleichterung waren bis zehn Uhr keine weiteren Überschwemmungen gemeldet worden. Alice fiel neben Ben ins Bett, wo sie wach lag und sich fragte, ob wohl einer ihrer Widder das Unwetter überlebt hatte.
»Wenn ja, lass bitte den Kaiser dabei sein«, betete sie und fiel dann in einen unruhigen Schlaf.
Als sie aufwachte, lag Dunst über der Landschaft. Im Laufe des warmen Tages lockte die Sonne die mit jeder Flut einhergehenden Plagegeister, die Mücken und Sandfliegen, hervor, und man hörte Tag und Nacht die kläglichen, herzzerreißenden Schreie der Tiere, die von diesen winzigen Blutsaugern gequält wurden.
»Das hasse ich am meisten an Überschwemmungen. Man kommt sich so hilflos vor«, gestand Elizabeth Alice mit einem bedrückten Kopfschütteln. Die beiden Frauen bereiteten gemeinsam die Mahlzeiten zu, während die Männer im Boot losfuhren, um die Schafe zu retten und sie zu füttern. Stewart, der auf Alice bemerkenswert gesund und ausgeglichen wirkte, begleitete sie.
»Mit dem Verlust der Herden muss man sich abfinden. Ein Haus kann man putzen oder neu aufbauen, aber es fällt mir schwer, das Leid von den Tieren mit anzusehen«, stimmte Alice zu. Sie machte sich Sorgen um ihre Schafe und fühlte sich in Gegenwart dieser Frau, die ihr in der Vergangenheit so viel Ablehnung entgegengebracht hatte, ein wenig unwohl. Als sie über den flachen milchig braunen See blickte, aus dem hin und wieder ein paar niedrige Bäume ragten, konnte sie auf den Anhöhen weiße Punkte sehen. Offenbar drängten sich dort einige Tiere zusammen.
Plötzlich legte Elizabeth das Messer weg und stützte sich auf den Tisch. »Dieser Zeitpunkt ist so gut wie jeder andere«, verkündete sie.
Alice blickte von ihrem Schneidebrett auf und fragte sich, was nun wohl kommen würde. »Ich möchte Ihnen für Ihre Hilfe an Weihnachten danken, Alice. Zum ersten Mal im Leben habe ich mich von den Umständen überwältigen lassen, und ich werde Ihnen immer dafür dankbar sein, dass Sie mich in dieser Krise unterstützt haben. Ich habe mich immer für eine gute Menschenkennerin gehalten, doch bei Ihnen habe ich mich gründlich geirrt. An diesem Tag ist mir klar geworden, dass Sie nicht nachtragend sind. Ich möchte Ihnen sagen, dass Sie und Ihre Familie auf Wangianna immer willkommen sind.«
Alice stand da wie vom Donner gerührt.
Die nächsten beiden Tage schleppten sich dahin, und am Ende des dritten Tages machte das Wasser noch immer keine Anstalten zurückzuweichen. Zum Glück hatte Jimmy sich per Funk gemeldet. Er hatte zwei Nächte in einem Baum am anderen Ende der Farm verbracht, nachdem es ihm gelungen war, die meisten Mutterschafe nach oben auf die Straße zu treiben. Die übrigen Schafhirten waren ebenfalls wohlauf, und es war niemand ums Leben gekommen. Allerdings wusste er nicht, wie es drinnen im Haus aussah.
Am vierten Tag ging das Wasser endlich zurück, doch man war noch immer auf das Boot angewiesen. Als Alice bei Sonnenaufgang aufstand, blickte sie auf eine Welt hinaus, die unter einer dicken weißen Decke versteckt war. Im Dunst waren die Bäume nur als graue Umrisse zu erkennen. Die Sonne verbreitete im Osten einen schwachen Schimmer. Aber in ein paar Stunden würden ihre Strahlen die Wolken vertreiben und die Schwüle sowie die schwarzen Mückenschwärme zurückbringen.
»Ich muss zu meinen Widdern«, flehte Alice Robert an, der sich zu ihr auf die Veranda gesellt hatte. »Einige von ihnen leben vielleicht noch. Falls sie nicht ertrunken sind, werden sie verhungern, wenn ich mich nicht um sie kümmere.«
Robert nickte. Sie hatte ihm erzählt, dass sie in der vergeblichen Hoffnung, die Widder zu retten, die Türen offen gelassen hatte. Bis jetzt hatte er wegen der angespannten Lage keine Zeit gehabt, an Alice oder an seine eigenen Gefühle zu denken. Nun blickte er sie bewundernd an. Trotz ihrer Erschöpfung ging es ihr vor allem um ihre Tiere. Mein Gott, wie sehr er sie liebte! Warum war das Leben nur so ungerecht?
»Wir fahren sofort nach dem Frühstück los. Mum wird auf Ben aufpassen«, erwiderte er ruhig.
Nachdem Alice Ben beim Frühstück alles erklärt hatte, sprang sie mit Robert ins Boot. Auf dem Weg durch die allmählich aus den Fluten auftauchende Landschaft hielten sie Ausschau nach Orientierungspunkten, die sich vor ihnen aus dem weißen Dunst erhoben. Und da sie einen starken Wind im Rücken hatten, dauerte die Fahrt nach MerryMaid nicht so lange, wie Alice gedacht hatte.
Zuerst steuerten sie den Widderstall an. Er lag auf höherem Gelände, und das Wasser war bereits ein Stück gesunken. Dennoch erschrak Alice beim Anblick des Gebäudes. Ein dicker Eukalyptusbaum war auf das Blechdach gestürzt, hatte es eingedrückt und außerdem den gesamten Stall auf seinen Fundamenten verschoben. Alice glaubte ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt, als sie aus dem Boot sprang und durch das Wasser auf den Stall zuwatete. Zwei Stufen auf einmal nehmend, hastete sie die Treppe hinauf und blickte in den dunklen Innenraum. Der Baum hatte ein Ende des Stalls völlig zerstört. Das Gebäude war leer. Ebenso die Futtertröge, die sie bis zum Rand aufgefüllt hatte. Vielleicht gab es ja doch noch Hoffnung, einige der Tiere lebend zu finden. Ihr Herz machte einen Satz, als sie ein vertrautes Poltern hörte und die Widder die Rampe hinaufkamen.
»Sie sind hinter dem Stall im Wasser herumgepaddelt«, verkündete Robert grinsend. »Komm raus und sieh nach, ob sich noch welche in der Nähe des Hauses herumtreiben.« In der nächsten Stunde fanden sie die meisten Widder wieder und trieben sie zurück in den Stall. Trotz des beschädigten Daches waren sie hier sicherer, als wenn man sie frei herumlaufen ließ und riskierte, dass sie vielleicht im Schlamm stecken blieben. Robert füllte die Futtertröge nach, während Alice die Widder noch einmal zählte und sie auf Verletzungen untersuchte. Seit ihrem Gespräch mit Elizabeth fiel es ihr leichter, sich mit Verlusten abzufinden, und zum Glück wurden nicht viele Tiere vermisst. Doch ihre größte Sorge galt dem Kaiser. Als sie die Herde nach ihm absuchte, bekam sie ein flaues Gefühl im Magen.
»Der Kaiser fehlt«, rief sie. Sofort blickte Robert auf.
»Bist du sicher?«
»Ich würde ihn aus einem Kilometer Abstand erkennen. Er ist mein bester Widder. Selbst wenn ich alle anderen verloren hätte, könnte ich es mit dem Kaiser immer noch schaffen.« Sie eilte die Stufen hinunter. »Ich werde mich noch einmal beim Haus umsehen.« Seit sie sich von dem Schrecken beim Anblick des von dem Baum eingedrückten Stalldachs wieder erholt hatte, verließ sie nun zum ersten Mal wieder aller Mut. Robert folgte ihr, als sie im Laufschritt auf den Hügel zuhielt. Doch die zwanzigminütige Suche blieb vergeblich.
»Weit kann er nicht sein.« Sie schlug sich an die Stirn. »Warum habe ich nicht gleich daran gedacht? Wahrscheinlich ist er bei den Heuschobern und sucht etwas Essbares. Das ist einer seiner Lieblingsplätze.« Der Wind wehte ihr das Haar ins Gesicht. »Wir werden ihn bestimmt finden«, meinte sie tapfer und schob sich Haarsträhnen aus Augen und Mund. Dann watete sie durch den zähnen Schlamm, der ihr bis zu den Waden reichte und wie Plateausohlen an ihren Stiefeln klebte, zu den Heuschobern.
»Ich sehe auf der anderen Seite bei den Unterkünften für die Arbeiter nach«, rief Robert und ging in die entgegengesetzte Richtung los.
»Er muss da sein. Bitte lass ihn da sein«, flehte Alice. Sie biss sich auf die Lippe und ließ den Blick über die durchweichte Weide schweifen. Als sie den Schuppen umrundete, sah sie den Kaiser, der, einen angewiderten Ausdruck auf dem majestätischen Gesicht, im zehn Zentimeter tiefen Wasser stand.
»Kaiser!«, stieß sie hervor. Doch im selben Moment brach ein gewaltiger, vom Sturm abgeknickter Ast über ihrem Kopf ab und stürzte auf sie hinunter, sodass sie bäuchlings ins Wasser fiel.
Robert hatte kein Glück bei den Unterkünften. Er schaffte es nur, Wasser in den Stiefel zu bekommen, auszurutschen und auf dem Hintern im Schlamm zu landen. Überall lagen abgebrochene Äste und Laub herum. Nachdem er sich aufgerappelt hatte, hinkte er zu den Stufen der Hütte hinüber, um seinen Stiefel auszukippen. Kaum hatte er ihn wieder angezogen, als er einen lauten Knall hörte. Wie in Zeitlupe hastete er auf den Heuschober zu, denn wegen des Schlamms, der sich an seine Stiefel heftete, kam er kaum voran.
»Alice!«, rief er. »Alice!« Da sah er sie bäuchlings im Wasser liegen. Es dauerte eine Ewigkeit, die nächsten Meter zurückzulegen. »Alice, mein Liebling, du darfst nicht sterben.« Er fiel auf die Knie, packte sie an den Schultern und drehte sie herum. Ihr Gesicht war mit Schlamm bedeckt.
Hustend setzte sie sich auf und wusste im ersten Moment nicht, wo sie sich befand. Robert stützte sie und wischte ihr vorsichtig mit einem Taschentuch den Schlamm aus dem Gesicht. Alice lehnte sich an Roberts Arm. Der Kopfschmerz trieb ihr die Tränen in die geschlossenen Augen.
»Mach die Augen auf, Alice«, drängte Robert. »Kannst du mich sehen?« Alice schlug die Augen auf und blickte Robert verdattert an. Als sie seine besorgte Miene bemerkte, lächelte sie.
»Sei nicht albern, Robert. Natürlich kann ich dich sehen. Das hat teuflisch wehgetan. Was ist denn passiert?«
»Ein Ast hat dich getroffen.«
Alice drehte sich zu dem ein paar Meter entfernt liegenden Ast um. »Ein Glück, dass es mich nicht schlimmer erwischt hat. Es gibt Leute, die in zehn Zentimeter tiefem Wasser ertrunken sind. Bestimmt sehe ich fürchterlich aus«, fügte sie hinzu und wischte sich die Hände an der Jeans ab. »Wo ist der Kaiser?«
»Gott sei Dank.« Vor lauter Erleichterung, dass sie nicht schwer verletzt war, drückte Robert sie an sich und küsste sie fest auf die Lippen. Erschrocken wollte sie sich zunächst sträuben, doch dann schmiegte sie sich an ihn und erwiderte seinen Kuss. »Alice, ich liebe dich so sehr. Nie habe ich aufgehört, dich zu lieben. Ich hatte solche Angst, ich könnte dich verloren haben«, murmelte Robert zwischen den Küssen. »Ist dir auch wirklich nichts passiert?« Er küsste sie wieder, ohne ihr die Gelegenheit zu einer Antwort zu geben.
Dann wich er zurück, umfasste ihr schönes Gesicht mit beiden Händen und blickte in ihre leuchtend blauen Augen. »Du darfst Jo nicht heiraten«, stieß er hervor. »Das erlaube ich nicht. Du wirst meine Frau.«
Als er spürte, wie sie zusammenzuckte, ließ er sofort die Hände sinken. »Mein Gott, jetzt bin ich wohl so richtig ins Fettnäpfchen getreten, aber ich kann den Gedanken einfach nicht ertragen, dich wieder zu verlieren.« Niedergeschlagenheit überwältigte ihn.
»Hast du mir etwa gerade einen Heiratsantrag gemacht?«, rief Alice aus. Ihre Augen strahlten verliebt, und der pochende Schädel war vergessen.
»Du brauchst nicht zu antworten. Ich weiß ja, dass du mit diesem Blödmann Jo Perry verlobt bist«, antwortete Robert bedrückt.
Alice musterte ihn fragend, als er ihr beim Aufstehen half. »Wer hat dir denn das erzählt?«, erkundigte sie sich und klopfte sich den Schlamm ab, der bereits an ihren Kleidern antrocknete.
»Katie.«
»Katie!«, rief Alice aus. »Warum kann sie ihre miesen kleinen Intrigen nicht lassen?«
»Stimmt es also nicht? Der ganze Bezirk glaubt es.«
»Der ganze Bezirk kann mir mal den Buckel runterrutschen.« Die Anspannung der letzten Tage forderte schließlich ihren Tribut. Die Erleichterung, den Kaiser wiedergefunden zu haben, mischte sich mit der Sehnsucht, die Roberts Küsse in ihr geweckt hatten. Und der Schlag mit dem Ast war der Tropfen gewesen, der das Fass nun zum Überlaufen brachte. Robert, der annahm, dass ihre Tränen Jo galten, wurde von Verzweiflung ergriffen.
»Also, bist du mit Jo verlobt?«
Alice schüttelte den Kopf. Langsam hob Robert ihr Kinn und blickte in ihre tief saphirblauen Augen. Wellen der Erleichterung und Hoffnung ergriffen ihn, als er ihr die Tränen abwischte, die auf ihren Wangen schimmerten. Sie wussten beide nicht, wer den ersten Schritt gemacht hatte, als sich ihre Lippen berührten und ein Feuer entfachten, das sich mit Windeseile in ihren Adern ausbreitete. Nach einer Weile lösten sie sich wieder voneinander.
»Willst du mich heiraten, meine wundervolle, schöne Alice?«
Alice holte tief Luft, denn Beas Warnung gellte ihr noch immer in den Ohren. »Vorher muss ich dich etwas fragen, Robert.« Zögernd wich sie zurück, und das Herz klopfte ihr bis zum Halse.
»Frag, was du willst, und dann sag einfach ja«, antwortete Robert, der wieder neue Hoffnung schöpfte.
»Hast du Katie wirklich gedroht, sie umzubringen, wenn sie Stewwy mitnimmt?«
Robert blieb der Mund offen stehen. »Was?«
»Katie hat Tante Bea erzählt, du hättest sie damit erpresst. Außerdem sagt sie, du seist seit dem Unfall nicht mehr ganz richtig im Kopf«, sprudelte sie hervor.
»Dieses verlogene …« Er holte tief Luft. »Und du hast Katie geglaubt?«
»Nein«, erwiderte Alice mit Nachdruck. »Aber ich möchte wissen, wie sie dazu kommt, so etwas zu behaupten.« Ihr Herz klopfte immer noch. Robert betrachtete erst seine Hände und dann Alice und schwieg so lange, dass sie sich fragte, ob er ihr überhaupt antworten würde.
»Selbst in der allerschlimmsten Situation würde ich niemals solche Drohungen ausstoßen«, begann er. Alice seufzte hörbar auf. Robert hielt inne. »Sie sah keinen anderen Ausweg mehr, da sie sonst keine Macht mehr über mich hatte. Denn weißt du was, Alice? Stewart ist nicht mein Sohn.«
Erschrocken riss Alice die Augen auf. »Was?«
»Nach dem Unfall bin ich fast durchgedreht, weil ich dachte sie bringen ihn um, indem sie ihm die falsche Blutgruppe verabreichen. Aber ich hatte mich gründlich geirrt.« Er erklärte ihr, wie er die Schwester um Bestätigung gebeten hatte und wie es ihm danach wie Schuppen von den Augen gefallen war.
»Ich fasse es nicht«, flüsterte Alice. »Soll das etwa heißen, dass die Nacht vor so vielen Jahren …?« Robert nickte.
»Nein, nein, das kann nicht sein.« Alice wandte sich ab und stürmte über die Weide davon. Die Wut, die in ihr aufstieg, war so unbeschreiblich groß, dass sie sich nicht mehr im Zaum hatte. Katies Bösartigkeit und Verlogenheit kannte offenbar keine Grenzen. Und sie hatte gewonnen. Oh, ja, sie hatte gewonnen. All die langen Jahre hatte sie Alice und Robert ins Gesicht gelacht.
Mit ausdrucksloser Miene stand Robert neben dem abgebrochenen Ast. Er hatte ihr die Wahrheit gebeichtet, doch offenbar glaubte sie ihm nicht.
Plötzlich wurde Alice klar, was sie da gesagt hatte. Sie eilte zu Robert zurück und fiel ihm in die Arme.
»Ach, du armer, armer Liebling«, rief sie aus und küsste ihn leidenschaftlich auf die Lippen. »Natürlich glaube ich dir. Ich konnte nur nicht fassen, wie Katie etwas so unbeschreiblich Gemeines hat tun können … Wie soll ich das wieder gutmachen?«
Mit klopfendem Herzen schloss Robert sie in die Arme und blickte ihr tief in die Augen. »Du könntest ja sagen.«
»Der arme Jo. Ich muss es ihm erklären«, murmelte Alice leise.
»Sag einfach ja«, beharrte Robert.
»Es ist, als würde ich träumen«, stieß Alice mit leuchtenden Augen hervor. »Ja, Robert, ja, ja, eine Million Mal ja.« Ihr Lachen hallte über die überfluteten Weiden, als Robert ihr Gesicht mit Küssen bedeckte. Dann betrachtete er zärtlich die Frau, die er schon seit so vielen Jahren liebte, und konnte kaum glauben, dass sie nun endlich zueinander gefunden hatten.
»Erinnerst du dich an mein Versprechen, dir dein Schloss zu bauen?«
»Wie könnte ich das vergessen?«, flüsterte Alice und kuschelte sich an ihn.
»Diesmal wird nichts mich aufhalten.«
Alice legte ihm den Finger an die Lippen. »Wir bauen es gemeinsam. Wir haben unser Land, wir haben unsere Kinder, und wir haben einander.« Als sie ein Rascheln hörten, drehten sie sich um. »Und außerdem haben wir den Kaiser.« Sie kicherte, als der Kaiser seinen majestätischen Kopf zurückwarf, mit dem Hinterteil wackelte und empört den Abhang hinunter in Richtung Stall stolzierte. Alice strich sich die schwarze Lockenmähne aus dem Gesicht und blickte Robert in die Augen.
»Ich habe nicht geglaubt, dass es möglich ist, so glücklich zu sein«, sagte sie lachend und genoss seine Küsse, bis er das Gesicht an ihren Hals schmiegte.
Dann nahm er sie in die Arme und trug sie über die matschigen Weiden, die im Sonnenschein funkelten, zum Haus. Als er sie auf der Veranda von MerryMaid absetzte und ihr von grauem Morast bedecktes Gesicht und ihre mit Schlamm verkrusteten Kleider betrachtete, fand er, dass sie noch nie schöner gewesen war.
»Ich liebe diesen Ort, und ich liebe dich«, murmelte sie, während Robert sie an sich zog, und sie sich in seine Umarmung sinken ließ.
Eng umschlungen standen sie da. Die Sonne brannte auf die gewaltige überschwemmte Ebene hinunter, und über ihren Köpfen kämpfte eine einsame Krähe gegen den Wind an. Alice hätte schwören können, dass sie rückwärts flog.