Kapitel dreißig
In den nächsten Tagen umschlichen Katie und Robert einander argwöhnisch und warteten darauf, dass der andere den ersten Schritt machte. Da Robert mit einer Schimpftirade rechnete und kein Öl ins Feuer gießen wollte, entschuldigte er sich für sein Verhalten und tat dann so, als wäre nichts geschehen. Innerlich jedoch waren seine Nerven zum Zerreißen gespannt, weil er jeden Moment Katies Vergeltungsschlag erwartete. Vor Angst, sie könnte einfach ausziehen und Stewart mitnehmen, wenn er nicht zu Hause war, sorgte er dafür, dass sich der Junge so oft wie möglich in seiner Nähe oder unter Melons Obhut aufhielt. Seine zweite Sorge war, sie könne ihm einen Anwalt auf den Hals hetzen, um ihm nicht nur seinen Sohn, sondern auch seinen Anteil an Wangianna wegzunehmen. Da Wangianna nach Georges Testament noch nicht offiziell aufgeteilt war, konnten hohe Gerichts- und Anwaltskosten die ganze Familie in den Bankrott reißen. Zwischen seinen Gefühlen für Alice und für Stewart hin und her gerissen und wissend, dass seine Ehe mit Katie endgültig gescheitert war, ging ihm immer dieselbe Frage im Kopf herum: Was sollte er jetzt tun?
Katie hingegen hatte eine Todesangst, dass Robert wieder das Thema Scheidung zur Sprache bringen könnte. Obwohl sie das Bild von Alice, wie sie in Roberts Armen lag, nicht mehr losließ, zwang sie sich, ruhig zu bleiben. Ihre größte Befürchtung war, dass sie ihre Drohung wahrmachen und mit Stewart würde fortgehen müssen, denn dann hätte sie Wangianna verloren, das doch schon zum Greifen nah schien. Stewart war das einzige Druckmittel, das sie gegen Robert in der Hand hatte.
Allmählich wurde ihr klar, dass Robert als Einziger der Brüder der Leitung einer Farm gewachsen war. Er hatte Karri Karri wieder aufgebaut, während die anderen die Farm heruntergewirtschaftet hatten, und wusste, wie sich mit Schafen Geld verdienen ließ. In Sachen Wolle, Verwaltung und Schafzucht galt er als anerkannter Fachmann. Katie war erstaunt gewesen und hatte sich geschmeichelt gefühlt, als er ihr kurz vor Weihnachten seine Pläne anvertraut hatte, Karri Karri zu verkaufen und von dem Erlös Andrews und Ians Anteile zu erwerben. Sein Angebot, Ian im Austausch gegen seinen Anteil an Karri Karri eine Erntemaschine zur Verfügung zu stellen, hatte alle bis auf Katie, die seine Motive kannte, überrascht. Da Katie sein Vorhaben nicht stören wollte, gab sie sich Mühe, so reizend und kompromissbereit wie möglich zu sein. Sie begeisterte sich über den Vorschlag, nach Karri Karri zurückzukehren, beteuerte immer wieder, sie wolle Robert unterstützen, schrie Stewart nicht mehr so oft an und versuchte sogar, das Haus sauber zu halten. Robert wusste nicht, wie er ihr ungewöhnliches Verhalten deuten sollte, und sein Argwohn wuchs. Nichts wies darauf hin, dass sie vorhatte, die Koffer zu packen und zu gehen. Außerdem waren die Tränen und Wutanfälle in letzter Zeit deutlich seltener geworden. Als sie ihm mitteilte, sie habe sich mit Alice zum Mittagessen verabredet, um sich mit ihr zu versöhnen, erfüllte er ihr gern ihre Bitte, sie doch für ein paar Tage Freunde in Sydney besuchen zu lassen, bevor sie nach Westaustralien zurückkehrten. Robert war froh, dass Chris offenbar gut alleine zurechtkam, und beschloss, seinen Aufenthalt in Wangianna zu verlängern und die Zeit zu nutzen, noch einige rechtliche Einzelheiten im Zusammenhang mit der Aufteilung der Farm zu klären.
Alice stürzte sich in die Arbeit, um sich von Verwirrung, Wut und Trauer abzulenken. Von Selbstzweifeln gequält, hinterfragte sie ständig ihr Verhalten und zermürbte sich mit Vorwürfen, weil sie sich von Robert hatte küssen lassen. Dabei überlegte sie, ob sie vielleicht ein tief sitzendes Bedürfnis hatte, sich an ihrer Cousine zu rächen, dem sie sich endlich stellen musste.
Außerdem grübelte sie ununterbrochen über Roberts Motive nach. Wie hatte er sie so leidenschaftlich küssen können, wohl wissend, dass Katie ganz in der Nähe war? Soweit Alice informiert war, waren die beiden glücklich verheiratet. Wie also konnte sie so eingebildet sein und annehmen, dass er Katie nach nur einem einzigen Kuss verlassen könnte, um sich ihr in die Arme zu werfen? So drehten sich ihre Gedanken immer weiter im Kreis, und je schneller das Karussell wurde, desto mehr arbeitete sie, weil sie nur so müde genug wurde, um Schlaf zu finden. Sehr zu ihrer Erleichterung kehrte Marigold endlich von fröhlicher Weihnachtsstimmung erfüllt und strotzend vor Energie aus England zurück. Die Kinder waren überglücklich, und Alice entspannte sich wieder ein wenig.
Dann kam Katies Anruf. Obwohl Alice dem plötzlichen Stimmungswechsel ihrer Cousine nicht ganz traute, war sie einverstanden, sich zum Mittagessen mit ihr in Coonamble zu treffen.
Allerdings bestand sie darauf, dass Marigold und die Kinder auch dabei sein müssten. Froh über diese Möglichkeit, Zeit zu gewinnen, plauderte Katie mit den Kindern und erkundigte sich bei Marigold nach ihrer Englandreise. Ohne die Antwort abzuwarten, begann sie dann über sich selbst zu sprechen, und stocherte in ihrem Salat herum, während die Kinder sich an Fisch, Pommes und Eistorte gütlich taten. Sie erhielt ihre Gelegenheit, als Marigold die Kinder zur Toilette begleitete.
»Ich weiß, es tut dir schrecklich Leid, dass du Robbo geküsst hast, Alice, aber das braucht es nicht«, meinte Katie leise.
Alice errötete heftig. »Er sah so elend aus. Ich wollte ihn nur umarmen, um ihn zu trösten. Mehr war nicht dabei, Katie.« Alice war schrecklich verlegen. Genau dieses Gespräch hatte sie unter allen Umständen zu vermeiden versucht. Sie wünschte sich, Marigold würde bald zurückkommen.
Katie verschränkte die Finger mit den langen rot lackierten Nägeln und beobachtete ihre Cousine aufmerksam.
»Du weißt ja, dass Robbo mich anbetet«, sagte sie lässig. »Er hat Verständnis dafür, dass ich nach dem Schock wegen Elizabeths Erkrankung ein wenig durcheinander war.« Sie lächelte Alice zuckersüß und gekünstelt zu. »Ich gebe zu, dass ich überreagiert habe. Also vergessen wir die Vergangenheit, insbesondere deshalb, weil wir jetzt Nachbarinnen sind.«
Alice erschauderte unwillkürlich. »Was ist los, Katie? Was fehlt Elizabeth denn? Und warum wird Wangianna aufgeteilt?«
Katies Blick wurde argwöhnisch. »Es hat ein paar Auseinandersetzungen gegeben. Aber es klingt dramatischer, als es ist. Robbo ist so klug, er wird schon eine Lösung finden.« Sie beugte sich vor. »Genau genommen hat er bereits damit angefangen. Robbo nimmt an, dass Andy in sechs Monaten aufgeben wird. Eine Aufteilung wird er nicht überstehen. Dann kauft Robbo seinen Anteil zurück, und ich werde die Herrin von Wangianna.« Sie lehnte sich zurück, räkelte sich genüsslich, betrachtete ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe und spielte an ihrer silbernen Halskette herum.
»Der gute Robbo. Ich liebe ihn ja so sehr. Letzte Nacht war er einfach wundervoll. Du solltest auf der Hut sein, sonst kauft er dir dein Land auch noch weg.« Sie betrachtete Alice durch dick getuschte Wimpern und beugte sich dann mit gehässig verzerrtem Mund vor. »Jetzt lachst du noch darüber, aber glaubst du wirklich, es ist ein Zufall, dass er von all dem Land, das er hätte kaufen können, ausgerechnet das ausgesucht hat, das an dein Grundstück angrenzt?«
»Es ist gutes, fruchtbares Land, und er brauchte Zugang zum Bach«, widersprach Alice.
»Es gibt noch mehr fruchtbare Ländereien mit Bächen«, entgegnete Katie und musterte mit Unschuldsmiene ihre Fingernägel.
Als Marigold mit den Kindern zurückkehrte, wurde Katie schlagartig wieder zuckersüß und verwandelte sich in das Sinnbild einer liebenden Tante. Alice konnte das Theater nicht mehr ertragen.
»Kommt, Kinder, wir müssen los«, sagte sie barsch und scheuchte die Kinder nach draußen.
Anfangs hielt Alice Katies Bemerkungen für Lügen, die wie üblich nur das Ziel verfolgten, Unfrieden zu stiften. Dennoch war der Same des Misstrauens gesät und begann zu keimen. Als Alice wieder in MerryMaid war, wurde sie den Gedanken nicht los, dass Robert Charlie Westons Farm vielleicht doch nicht rein zufällig gekauft hatte. Möglicherweise hatte sie in den Kuss zu viel hineingeheimnisst und übertriebene Hoffnungen daran geknüpft, während er damit taktische Zwecke verfolgte. Wie man es auch drehte und wendete, hatten Katies Worte Alice sehr in Aufruhr versetzt.
Als Katie an dem kleinen Flugplatz aus dem Landrover stieg, nahm sie Staub und Hitze zur Abwechslung einmal nicht wahr. In wenigen Stunden würde sie in der Maschine von Dubbo nach Sydney sitzen. Immer noch voller Angst, er könnte Stewart verlieren, hatte Robert sie mit reichlich Bargeld und einem ordentlichen Kreditlimit ausgestattet. Katie war sicher, Alice so verstört zu haben, dass sie sich während ihrer Abwesenheit von Robert fern halten würde. Voller Vorfreude auf zehn glückliche Tage, die sie mit Einkäufen, in teuren Restaurants und vor allem in der Zivilisation verbringen würde, schmiegte sie ihre Wange an Roberts, um ihren Lippenstift nicht zu verschmieren.
»Als Erstes gehe ich zum Friseur, damit meine Haare nicht mehr wie Stroh aussehen. Anschließend besorge ich mir eine völlig neue Garderobe und außerdem ein Kleid für den Wohltätigkeitsball in Perth«, verkündete sie und hielt Stewart die Wange hin. »Und du bist brav und folgst deinem Dad.« Widerwillig küsste Stewart seine Mutter.
»Wir kommen schon klar. Amüsier dich gut«, sagte Robert und hoffte, dass man ihm nicht anmerkte, wie erleichert er über ihre Abreise war. Er und Stewart blickten Katie nach, als sie in die Maschine stieg, und winkten, während das Flugzeug im kobaltblauen Himmel verschwand. Als es nur noch ein winziger Punkt war, seufzte Robert tief auf und drehte sich zu Stewart um. »Jetzt sind wir Männer unter uns, mein Sohn«, meinte er mit einem verschwörerischen Grinsen. Stewart grinste zurück.
Sie gingen zurück zum Landrover, und Robert schlug den Weg nach Gillgully Downs ein. Es gab dort einiges zu tun, und außerdem sehnte er sich nach einem Ort, wo ihn nichts an Katie erinnerte. Er fühlte sich wie von einer Zentnerlast befreit.
»Darf ich fahren, Dad?«, fragte Stewart, als sie die Landstraße entlangrasten.
»Sobald wir auf der Staubpiste sind, mein Sohn.« Nachdem sie eine Weile lachend miteinander geplaudert hatten, verfielen sie in Schweigen. Stewart dachte daran, wie schön es sein würde, mit seinem Vater allein zu sein, während Robert überlegte, wie er den Plan, der seit der Aufteilung der Farm in ihm reifte, in die Tat umsetzen sollte. Ian hatte sich bereit erklärt, ihm seinen Anteil von Karri Karri abzutreten. Wenn er harte Überzeugungsarbeit leistete, würde Jordie sich vielleicht auch von seinem Teil trennen. Jordie hatte bis jetzt kein Interesse gezeigt, auch nur einen Fuß auf die Farm zu setzen, und manchmal fragte sich Robert, ob er in der Stadt nicht glücklicher gewesen wäre. Vor kurzem hatte er gemeint, er wolle am liebsten Architekt oder Landschaftsgärtner werden. Bis jetzt hatte nur Mutters eiserner Wille alle drei Jungen auf der Farm gehalten.
Und dann war da noch Andy. Tja, der würde bald kein Problem mehr darstellen. Auch wenn er noch so laut tönte, dass er hier das Sagen hatte, würde Robert ihm seinen Anteil an Wangianna schon noch abnehmen. Nach der endgültigen Aufteilung der Farm würde er sich finanziell sicher derart verkalkulieren, dass er Robert förmlich anflehen würde, ihm sein Land abzukaufen. Robert bog in die Staubpiste ein und stoppte den Wagen.
»So, mein Junge, da wären wir.« Er stieg aus und nahm auf dem Beifahrersitz Platz, während Stewart mit leuchtenden Augen hinter das Steuer rutschte. »Ganz langsam. Pass auf Steine und Schlaglöcher auf und gib nicht zu viel Gas.«
»Das weiß ich, Dad.«
»Mag durchaus sein, aber darf ich dich vielleicht daran erinnern, dass du noch minderjährig bist und auf mich hören musst«, neckte Robert. Er hatte volles Vertrauen zu Stewart. Trotz seiner Jugend und seines Temperaments war der Junge ein vorsichtiger Fahrer. »Es ist schon ein Luxus, wenn man einen Privatchauffeur hat«, kicherte er und machte es sich bequem, um die Fahrt zu genießen.
Ein breites Grinsen auf dem Gesicht fuhr Stewart los. Er fühlte sich überlebensgroß und hatte eine Riesenfreunde daran, seinem geliebten Vater seine Fähigkeiten zu beweisen. Durch das offene Fenster wehte ihm ein heißer Wind ins Gesicht, als sie über die holperige Straße tuckerten und hin und wieder einen Schluck aus ihren Wasserflaschen nahmen. Für den späten Nachmittag waren Gewitter angesagt, doch im Moment war der Himmel klar, und nur ein paar zarte Wölkchen schwebten über die dunstige heiße Landschaft. Auf beiden Seiten der Straße flogen Kakadus auf, als sie vorbeifuhren, und in der Ferne sahen sie einen scheuen Emu beim Grasen.
»Die blöden Vögel warten immer bis zur letzten Minute, bis sie aus dem Weg gehen«, schimpfte Stewart und drosselte das Tempo, als fünf oder sechs Vögel mit rosafarbenen Bäuchen über die Straße flitzten. Die Staubpiste verlief kerzengerade bis zum Horizont. »Glaubst du, die Dürre hört irgendwann einmal auf, Dad?«, fragte Stewart.
»Irgendwann schon. In Queensland hat es Überschwemmungen gegeben, und das heißt, dass das Wasser früher oder später auch herkommt«, erwiderte sein Vater und blickte durch die mit toten Fliegen übersäte Windschutzscheibe. Die weißen Schäfchenwolken ballten sich zunehmend zusammen. Stewart gab Gas und raste über die von Schlaglöchern durchsetzte Staubstraße auf einen vor kurzem mit Schotter bestreuten Abschnitt zu, wo die weißen Steinchen in der Sonne schimmerten. In einer halben Stunde würden sie in Gillgully Downs sein.
»Nicht so schnell, mein Junge. Und pass auf die verdammten Vögel auf«, warnte Robert.
»Klar, Dad«, entgegnete Stewart vergnügt. »Wann darf ich wieder mit Melon Kängurus schießen?« Noch während er sprach flatterte ihnen ein riesiger Kakaduschwarm aus dem Gras entgegen.
»Vorsicht!«, rief Robert.
Zu spät trat Stewart auf die Bremse und geriet ins Schleudern, als die Vögel mit einem dumpfen Knall gegen die Windschutzscheibe prallten. Stewart duckte sich unwillkürlich, sodass der Wagen unkontrollierbar zu schlingern begann. Das Auto rutschte über den losen Schotter, landete im Graben und blieb ruckartig stehen, als die Vorderräder mit einem großen Felsen kollidierten. Durch den Aufprall wurde Stewarts schlanker Körper auf das Lenkrad geschleudert, sodass er mit dem Kopf gegen das Armaturenbrett stieß. Die Windschutzscheibe zerbarst, als Robert erst mit dem Kopf dagegen flog und dann an die Wagentür geschleudert wurde. Er verlor das Bewusstsein. Blut floss aus einer Schnittwunde dicht über Stewarts rechter Augenbraue. Auch auf Roberts Wange war ein dünnes Rinnsal Blut zu sehen, und in seiner sich zunehmend rötenden Stirn steckten winzige Glassplitter. Gnadenlos brannte die Sonne auf eine Welt hinunter, in der es plötzlich still geworden war.
Pfeifend tuckerte Jimmy auf seinem neuen Motorrad über die Weiden. Auf dem Sozius saß Bitsa, Alices kleinste Hütehündin. Nachdem Jimmy auf den hinteren Weiden nach dem Rechten gesehen hatte, wollte er nun noch die Zäune entlang der Straße überprüfen.
»Schauen wir doch mal, wie sich das Ding auf einer richtigen Straße fährt, was, Bitsa?«, meinte er zu der Hündin und ließ beim Grinsen weiße Zähne aufblitzen. Bitsa, die noch nicht wusste, was sie von diesem neuen Gefährt halten sollte, wedelte mit dem Schwanz und hechelte. Jimmy gab Gas und raste auf der Staubstraße weiter, während sich die Hündin eng an seinen Rücken presste. Jimmy hatte einen Heidenspaß daran, die Schlaglöcher zu umkurven und über Baumwurzeln zu holpern, bis ihm die Zähne aufeinander schlugen und sein Puls vor Begeisterung raste. Wenn er über eine besonders tiefe Rinne sprang oder heftiger schlingerte, als beabsichtigt, machte sein Magen jedes Mal einen Satz. Zwanzig Minuten später hatte er die Kreuzung erreicht, wo die frisch mit Kies bestreute Straße nach Gillgully Downs abzweigte.
»Zeit für ein Zigarettchen. Dann kehren wir besser um und tun etwas für unser Geld, sonst gibt es für uns beide heute Abend nichts zu essen«, meinte Jimmy und stoppte das Motorrad. Bitsa rührte sich nicht von der Stelle. Aus Gewohnheit suchte Jimmy die Landschaft mit Blicken ab, um festzustellen, ob sich irgendwo etwas rührte. Er sah, wie ein Wagen aus der gleißenden Hitze heranraste, winkte ihm nach und suchte dann nach seinem Zigarettenpäckchen. Doch seine Hand erstarrte mitten in der Bewegung, als er plötzlich ein Knirschen gefolgt von einem dumpfen Knall hörte.
»Das klingt gar nicht gut, Bitsa«, murmelte er. Er trat auf den Anlasser und fuhr in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Die Hinterräder drehten sich noch, als er den Landrover erreichte. Jimmy sprang vom Motorrad und eilte mit klopfendem Herzen auf den Wagen zu.
»Ach, du meine Güte, das sieht ja übel aus.« Jimmy erschrak, als er sah, in welchem Zustand die Insassen des Wagens waren. Auf den ersten Blick erkannte er Robert, der mit dem Kopf an der Beifahrertür lehnte. Stewart war über dem Lenkrad zusammengesackt. Kurz stand Jimmy wie erstarrt da und fragte sich, was er tun sollte. Dann öffnete er die Wagentür, und erkannte zu seiner Erleichterung, dass Stewart noch atmete. Vorsichtig zog er den Jungen aus dem Fahrzeug, stützte ihm so gut wie möglich den Kopf und legte ihn in den Schatten des Wagens. Stewarts Stirnwunde blutete heftig. Mit klopfendem Herzen suchte Jimmy den Verbandskasten, legte ein Päckchen Mull auf die Wunde riss mit den Zähnen ein Stück Heftpflaster ab und klebte es fest. Danach eilte er zu Robert hinüber. Da es früher Nachmittag war, brannte die Sonne auf den Landrover hinunter. Nachdem Jimmy Robert aus dem Auto gezerrt hatte, legte er ihn neben Stewart. Er ließ die Wagentüren offen, damit die zwei wenigstens ein bisschen Schatten hatten, sprang auf sein Motorrad und fuhr so schnell wie möglich zurück nach Merry-Maid. Eine Viertelstunde später kam er auf die Veranda gestürmt und rief laut nach Alice. Sie erschien sofort.
»Miss Alice, es hat einen Unfall gegeben. Sie müssen auf der Stelle einen Krankenwagen rufen«, keuchte Jimmy. Er rang so nach Luft, dass er kaum einen Ton herausbekam.
»Um wen geht es denn? Was ist passiert?«
»Mr. Robert und Stewwy sind beide verletzt. Stewwy hat eine schlimme Schnittwunde, und ich weiß nicht, was Mr. Robert fehlt. Ich habe ihn nicht wachgekriegt. Ich habe sie verbunden, so gut ich konnte, aber sie sehen ziemlich mitgenommen aus.«
Alice packte Jimmy an den Armen. »Gut, immer mit der Ruhe, Jimmy. Sagen Sie mir genau, wo sie sind.«
Jimmy schnappte nach Luft. »Auf der neuen Schotterstraße gleich nach unserer Abzweigung.«
»In Richtung Stadt oder in Richtung Gillgully?«
»Gillgully.«
»Kommen Sie mit«, befahl Alice und hastete aufgeregt ins Haus.
Kurz darauf kehrten sie mit einem Verbandskasten, Decken und einer Wasserflasche zurück. »Nehmen Sie den Kombi und fahren Sie so schnell wie möglich zu ihnen«, stieß sie hervor und rannte zum Wagen. Nachdem sie die Decken hineingeworfen hatte, drehte sie sich zu Jimmy um. »Und jetzt hören Sie mir gut zu. Schauen Sie nach, ob die Verbände die Blutungen noch stoppen, und nehmen Sie eine Decke, um ein Sonnensegel zu bauen. Wenn einer von ihnen aufwacht, versuchen Sie ihn zu beruhigen. Ich komme, sobald ich den Krankenwagen verständigt habe.«
Voller Angst raste Jimmy die Straße hinunter, während Alice ins Haus stürzte, um die Krankenwagenzentrale in Coonabarabran anzufunken. Als sie sicher war, dass ein Krankenwagen losgeschickt werden würde, sprang sie in den Geländewagen, um Jimmy zu folgen.
Alice krampfte sich beim Anblick der beiden Verwundeten, die reglos am Straßenrand lagen, das Herz zusammen. Jimmy hielt die Decke hoch, um ihnen Schatten zu spenden. Alice ging in die Knie und vergewisserte sich rasch, dass beide noch atmeten. Dann kontrollierte sie die Verbände. Jimmy hatte ganze Arbeit geleistet und die Blutungen gestillt. Alice wusste, dass sie nichts weiter tun konnte, als auf den Krankenwagen zu warten, und griff deshalb zum Funkgerät im Geländewagen. Es funktionierte. Also versuchte sie mehrmals, Wangianna anzufunken, und wollte schon aufgeben, als Elizabeth sich endlich meldete.
»MerryMaid, hier spricht Mrs. McIain. Sind Sie das, Alice?«
»Ja, Mrs. McIain. Es hat einen Unfall gegeben. Robert und Stewwy sind an der neuen Schotterstraße an der Abzweigung nach MerryMaid von der Fahrbahn abgekommen.« Sie hörte, dass Elizabeth nach Luft schnappte. »Der Krankenwagen ist schon unterwegs. Wahrscheinlich werden sie nach Walgett ins Krankenhaus gebracht. Wir sind jetzt bei ihnen. Könnten Sie bitte Katie informieren, damit sie weiß, was los ist?«
»Katie ist nach Sydney geflogen, Alice. Sie haben sie gerade zum Flugplatz gebracht.« Elizabeth gab sich Mühe, sich ihren Schrecken nicht anmerken zu lassen. »Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf darüber. Ich fahre sofort nach Walgett ins Krankenhaus. Ist von dem Krankenwagen schon etwas zu sehen?« Alice verneinte und beendete das Gespräch. Nachdem sie einen Schluck Wasser getrunken hatte, ließ sie sich neben Robert nieder und starrte auf die Straße. Sie fühlte sich so hilflos, als sie wartend in der Hitze saß, die Fliegen verscheuchte und zusah, wie die Sekunden vergingen.
Eine kleine Staubwolke am Horizont kündigte das Eintreffen des Krankenwagens an, der quälend langsam die kerzengerade Straße entlangtuckerte, bis er endlich den Unfallort erreichte. Sofort wurde die Stille von emsiger Betriebsamkeit abgelöst, als der Wagen scharf bremste und zwei Männer heraussprangen. Einer der Sanitäter bedeckte Stewarts Gesicht sofort mit einer Sauerstoffmaske und legte ihm eine Halskrause an, um sein Genick zu schützen, sodass er noch kleiner und zerbrechlicher wirkte. Dann hoben der Sanitäter und Jimmy Stewart auf eine Trage.
»Kann ich etwas tun?«, fragte Alice, die sich überflüssig vorkam.
»Sie können bei dem Jungen bleiben, während wir uns um den anderen Mann kümmern. Achten Sie darauf, ob er noch atmet«, erwiderte der leitende Sanitäter, als sie die Trage in den Wagen hoben. Der Sanitäter wusste, dass der Junge sofort ins Krankenhaus musste, denn er wies die klassischen Symptome innerer Blutungen auf. Außerdem stand er unter einem starken Schock, was allein schon reichen konnte, um ihn umzubringen. Und durch die Wucht des Aufpralls hatte er sicher einen Milzriss erlitten.
Alice nickte und stieg in den Krankenwagen, wo sie neben Stewart Platz nahm. Ihre Handflächen waren schweißnass, als sie beobachtete, wie sich seine Brust mühsam hob und senkte. Robert stöhnte, als er auf eine zweite Trage gehoben und neben seinen Sohn in den Krankenwagen geschoben wurde. An seiner Wange klebte getrocknetes Blut, und der Bluterguss auf seiner Stirn war mit einem Verband abgedeckt. Doch dank des stabilen Landrovers und der nicht allzu hohen Geschwindigkeit hatte er keine schweren Verletzungen erlitten.
»Immer mit der Ruhe, alter Junge, wir bringen Sie gleich ins Krankenhaus«, sagte der Sanitäter zu Robert, schloss die Wagentür und nahm auf dem Fahrersitz Platz. »Wir fahren die beiden auf dem schnellsten Weg nach Walgett ins Krankenhaus«, teilte er Alice mit. »Haben Sie die Angehörigen informiert?« Alice nickte.
Benommen blickte sie dem Wagen nach, der in Richtung Walgett davonraste. Sie gehörte nicht an ihre Seite. Gewiss würden Elizabeth und die restliche Familie sie im Krankenhaus erwarten, und Katie befand sich zweifellos schon auf dem Rückflug. Als sie langsam hinter Jimmys Auto her nach Hause fuhr, breitete sich große Niedergeschlagenheit in ihr aus.
Allerdings befand sich Katie keineswegs auf dem Rückflug nach Walgett. Als sie am Flughafen von Dubbo ausgerufen worden war, war sie ziemlich schlechter Laune gewesen, denn sie hatte vor einer halben Stunde erfahren, dass ihr Flug nach Sydney zwei Stunden Verspätung haben würde. Nachdem Elizabeth ihr am Telefon erzählt hatte, was geschehen war, war sie sofort in Tränen ausgebrochen, und zwar nicht nur aus Sorge um Robert und Stewart, sondern auch aus Enttäuschung, weil ihr Ausflug nun ins Wasser fallen würde. Doch als ihr klar geworden war, dass Stewart in Lebensgefahr schwebte, war sie in Panik geraten, sodass Elizabeth zehn Minuten gebraucht hatte, um sie wieder zu beruhigen. Dann hatte sie Katie empfohlen, ein Flugzeug zu mieten, das sie zurück nach Walgett brachte, wo ein Taxi sie erwarten würde. Außer sich vor Angst, hatte Katie den Hörer hingeknallt war zu einem Flughafenmitarbeiter gestürmt und hatte auf der Stelle ein Flugzeug gefordert. Doch der Mann hatte ihr ruhig und freundlich erklärt, das sei nicht möglich, da zwar ausreichend Maschinen, aber keine Piloten vorhanden seien. Verzweifelt die Hände ringend, hatte Katie daraufhin wertvolle Zeit vergeudet, indem sie den Mann anschrie und einen Weinkrampf bekam. Nachdem es erneut gelungen war, sie zu beruhigen, sah sie sich schließlich gezwungen, einen Wagen zu mieten und die vier Stunden lange Rückfahrt auf sich zu nehmen.
Als die Oberschwester von dem Zustand der Patienten erfuhr, informierte sie sofort den Chefarzt des kleinen Provinzkrankenhauses. Die Symptome des Jungen, wie die Sanitäter sie schilderten, ließen eine sofortige Bluttransfusion und vermutlich auch einen chirurgischen Eingriff notwendig erscheinen. Dabei war Eile angesagt, denn man musste erst seine Blutgruppe bestimmen und den Operationssaal für die Notoperation vorbereiten. Beim Eintreffen des Krankenwagens hatten die Mitarbeiter des Krankenhauses alles im Griff. Stewart wurde hereingebracht, und während eine Schwester ihm Blut abnahm und eine andere ihn für die Operation fertig machte, wusch der Arzt sich schon die Hände.
Robert, der bei der Ankunft zu sich gekommen war, fühlte sich immer noch benommen und litt an Brechreiz, weshalb er in der Notaufnahme in ein Bett verfrachtet wurde. Man entfernte die Glassplitter aus seiner Stirn und untersuchte ihn auf mögliche Kopf- oder Brustverletzungen. Dann stellte man ihn, für den Fall, dass Komplikationen eintraten, unter Beobachtung.
Als Elizabeth erschien, sagte man ihr, dass Stewart sofort operiert werden müsse, weshalb sie ihn nicht sehen könne. Robert ruhe sich aus. Elizabeth trat ins Krankenzimmer, wo Robert – er hatte eine leichte Gehirnerschütterung davongetragen und trug einen dicken Verband über der Stirn – mit aschfahlem Gesicht im Bett lag. Elizabeth ging auf ihren Sohn zu, küsste ihn zart auf die Wange und nahm liebevoll seine Hand.
»Sie müssen Stewwy operieren«, stieß Robert hervor. Elizabeth tätschelte ihm die Hand und musste die Tränen unterdrücken.
»Der Arzt hat alles im Griff. Und du schläfst jetzt am besten und zermarterst dir nicht das Hirn«, befahl sie Robert.
Ian und Jordie scharrten sichtlich ernüchtert mit den Füßen, brummten mitleidig und versicherten Robert, dass alles gut werden würde. Andrew lief verlegen im Wartezimmer hin und her. Nachdem Ian peinlich berührt zwei Minuten lang einen Punkt über Roberts Kopf fixiert hatte, räusperte er sich.
»Ich kümmere mich darum, dass der Landrover abgeholt wird«, meinte er und verdrückte sich mit Jordie im Schlepptau.
Elizabeth zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. »Du siehst müde aus, Schatz. Ruh dich ein bisschen aus. Die Oberschwester meint, es dauert mindestens zwei Stunden, bis Stewwy aus dem OP kommt. Du hilfst deinem Sohn nicht, wenn du dich zermürbst.«
Robert schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht schlafen, ehe ich nicht weiß, dass er außer Gefahr ist.«
Elizabeth zuckte die Achseln. Doch zu ihrer Erleichterung schlief Robert trotz seiner Beteuerungen irgendwann ein, sodass sie sich hinausschleichen und eine Tasse Tee holen konnte.
Erschrocken wachte Robert auf. Er sah, dass Elizabeth nicht mehr an seinem Bett saß, glaubte, nur wenige Minuten eingedöst zu sein, und betätigte die Klingel. Eine Schwester kam hereingeeilt und spähte durch die Vorhänge rings um sein Bett.
»Wie geht es uns denn jetzt, Mr. McIain? Sie haben aber schön lange geschlafen. Hätten Sie gern eine Tasse Tee?«, fragte sie, nachdem sie die Diätanweisungen gelesen hatte, die über seinem Bett hingen.
»Wird mein Sohn noch operiert?«, fragte Robert. Ihm graute vor der Antwort.
Die Schwester lächelte aufmunternd. »Vor zwanzig Minuten ist er aus dem Operationssaal gekommen, und es geht ihm zum Glück sehr gut. Wir haben ihm ein Einzelzimmer gegeben.« Als Robert mühsam aufstand, taumelte er. »Aber Mr. McIain, ich glaube, es ist noch ein bisschen früh zum Herumlaufen«, protestierte die Schwester und hielt ihn am Ellenbogen fest.
Robert versuchte, das Gleichgewicht zu bewahren. »Ich möchte mich zu meinem Sohn ans Bett setzen.« Ohne den Einspruch der Schwester zu beachten, ging er in Stewarts Zimmer und betrachtete das zarte Gesicht seines Sohnes und die langen, hellen Wimpern, die auf seine Wangen fielen. Ein Infusionsschlauch mit Blut verlief von einem Beutel an einem Ständer zu seiner linken Hand. Die Bettdecke ruhte auf einem Rahmen, sodass kein Gewicht auf seinen Leib drückte. Als Robert den kleinen Stewart so friedlich schlafend daliegen sah, wurde er von Gefühlen überwältigt, und seine Knie drohten nachzugeben, sodass er sich setzen musste. Er wischte sich die Tränen aus den Augen.
Die Schwester war losgelaufen, um den Arzt zu holen. Doch da sämtliche Untersuchungsergebnisse negativ gewesen waren und Robert bei einer erneuten Untersuchung bis auf eine leichte Gehirnerschütterung keine Komplikationen zeigte, kam er zu dem Schluss, dass es den Patienten weniger belasten würde, wenn er ihn einfach neben seinem Sohn sitzen ließ.
Stewart atmete ruhig und regelmäßig. Als Roberts Blick zu dem Beutel mit dem lebensrettenden Blut wanderte, verschwamm ihm die Aufschrift zunächst vor den Augen. Wenn Stewart starb, würde er sich das nie verzeihen. Warum hatte er ihm nur erlaubt, auf der verdammten Schotterpiste zu fahren? Er wusste doch, wie gefährlich es abseits der Teerstraßen war. Der Unfall war ganz allein seine Schuld. Wie hatte er nur so ein unverantwortlicher Narr sein können? Der Beutel mit dem Blut war das Einzige, was er bis auf Stewarts eingefallenes Gesicht im Raum wahrnahm.
RH positiv.
Er hatte Mühe, die Buchstaben zu lesen. Ein Glück, dass es Leute gab, die Blut spendeten. Und Gott sei Dank war die richtige Blutgruppe vorrätig gewesen. Er selbst spendete schon seit Jahren Blut, weil RH negativ so selten vorkam. Vielleicht konnte er ja Katie auch dazu überreden. Warum eigentlich sollte er nicht jetzt gleich Blut spenden? In seiner Benommenheit wurde dieser Einfall plötzlich unglaublich wichtig für ihn. Was war, wenn ein anderer Junge wie Stewart heute Blut mit dieser Blutgruppe brauchte? Was war, wenn ihnen das Blut ausging und nicht mehr für Stewart reichte? Wieder betrachtete er den Beutel. RH positiv. Endlich begriff er, was das bedeutete. RH positiv! Das konnte doch gar nicht sein. Katie und er waren beide RH negativ. Das Krankenhauspersonal hatte einen Fehler gemacht. Mein Gott! Sie gaben seinem Sohn das falsche Blut! Sie retteten ihm nicht das Leben, sondern brachten ihn um. Als Robert aufsprang, drehte sich alles um ihn. Er griff nach der Klingel über dem Bett und drückte einige Male auf den Knopf. Dann stürzte er in panischer Angst zur Tür und rief nach der Schwester. Als sie erschien, fiel er ihr beinahe in die Arme. Sie war jung und hübsch und hatte gerade ihren Dienst angetreten.
»Setzen Sie sich, Mr. McIain.«
Er wehrte ihre Versuche ab, ihn zu beruhigen. »Ich muss mit dem Arzt sprechen. Er gibt meinem Sohn das falsche Blut.«
Die Schwester erbleichte. Rasch warf sie einen Blick auf das Krankenblatt am Fußende von Stewarts Bett, kontrollierte noch einmal den Beutel und atmete erleichtert auf. Die Aufzeichnungen und das Blut im Beutel stimmten überein.
»Alles in Ordnung. Er bekommt die richtige Blutgruppe.«
Aber Robert glaubte ihr nicht. Er taumelte den Flur entlang, stürmte auf die Oberschwester zu, die gerade ihren Mitarbeiterinnen Anweisungen gab, und schrie sie in seiner Angst an.
»Warum liegt dieser Patient nicht im Bett?«, fragte die Oberschwester, die nichts von der Entscheidung des Arztes wusste, mit einem missbilligenden Blick. Robert achtete nicht darauf.
»Sie geben meinem Sohn das falsche Blut«, brüllte er. »Er ist RH negativ und Sie verabreichen ihm RH positiv. Ihr hirnlosen Schwachköpfe, ihr werdet ihn umbringen!« Robert war außer sich vor Panik.
»Mr. McIain, ich bin sicher, dass kein Fehler vorliegt«, erwiderte die Oberschwester bemüht ruhig. Doch er hatte sie verunsichert. Während Robert auf einen Stuhl sank, rief sie den Arzt an. Als dieser hereinkam, sprang Robert jedoch sofort wieder auf und begann von neuem zu erklären.
Der Arzt klopfte ihm auf die Schulter. »Hören Sie, alter Junge. Sie hatten einen schweren Unfall und stehen noch unter Schock. Die Oberschwester hat Recht, wenn sie Sie zurück ins Bett schickt. Also seien Sie brav und legen Sie sich wieder hin.« Mit Nachdruck schob er Robert in Richtung Krankenzimmer. »Ich habe hier, anders als in vielen Provinzkrankenhäusern, eine gute Mannschaft. Vorhin hat die Schwester nach Ihrem Sohn gesehen. Wenn wir bedenken, dass wir ihm gerade die Milz flicken mussten und er einen Dreiviertelliter Blut verloren hat, geht es ihm prima. Sein Glück, dass man in seinem Alter noch widerstandsfähiger ist.« Er klopfte Robert auf die Schulter. Inzwischen standen Robert die Tränen in den Augen, und das Zimmer begann sich wieder zu drehen.
»Aber er ist doch RH negativ. Sie wollen mich einfach nicht verstehen. Er kann unmöglich RH positiv sein.« Der Arzt konnte ihn gerade noch festhalten, als er das Bewusstsein verlor.
Als Robert in seinem Krankenhausbett aufwachte, musste er sich übergeben. Er lehnte sich wieder in die Kissen zurück. Aus dem Nebel vor seinen Augen trat allmählich ein Gesicht hervor. Es war Alice. Sie hatte es nicht ertragen können, weiter untätig auf MerryMaid herumzusitzen und in Ungewissheit zu schweben, und war deshalb ins Krankenhaus gefahren.
»Alles wird gut, Robert«, sagte sie leise. »Katie ist in ein paar Minuten hier. Sie ist gerade angekommen und sieht nach Stewart. Es geht ihm ausgezeichnet. Elizabeth ist auch bei ihm. Wie fühlst du dich?«
Robert lächelte schwach und griff nach ihrer Hand. »Wir begegnen uns ständig in Krankenhäusern.«
Alice drückte seine Hand und zog sie rasch zurück, als Katie mit tränenüberströmtem Gesicht hereingestürmt kam.
»Wie konntest du so etwas tun? Warum hast du ihn ans Steuer gelassen?« Sie war von der langen Fahrt erschöpft und hatte sich in eine Panik hineingesteigert. Vor lauter Erleichterung machte sie nun ihrem Ärger Luft, während Alice unbemerkt aus dem Zimmer schlüpfte.
Robert erbrach sich noch einmal, trank einen Schluck Wasser und sank dann wieder in die Kissen.
Ein Taschentuch vor den Mund gepresst, flüchtete Katie sich rasch in eine andere Zimmerecke.
»Ist die Sache mit dem Blut inzwischen geklärt?«, fragte Robert, der zu erschöpft war, um ihre Tiraden über sich ergehen zu lassen. Sein Schädel pochte.
»Hast du mir überhaupt zugehört?«, zischte Katie wütend.
»Bekommt er das richtige Blut?«, beharrte Robert.
Katie sah ihn verdattert an. »Wovon redest du?«
»Sie haben ihm RH positiv verabreicht. Ich habe es selbst ge
sehen.« Mühsam richtete er sich im Bett auf.
»Na und?«
»Du bist RH negativ. Wir beide sind RH negativ. Das weißt du doch, Katie.«
»Die Ärzte wissen schon, was sie tun. Und jetzt ruh dich aus«, erwiderte Katie rasch und wurde sichtlich versöhnlicher. »Tut mir Leid, dass ich dich so angebrüllt habe, Schatz, aber die Autofahrt war die Hölle, und ich habe mir solche Sorgen gemacht. Du kennst mich ja. Mit Krankheiten kann ich einfach nicht umgehen.« Während sie sprach, durchzuckte ein Blitz den Himmel, und ein Donnerschlag ertönte. »Sei froh, dass du hier bist. Für heute Nacht sind heftige Gewitter vorhergesagt.« Sie warf ihm eine Kusshand zu und ging hinaus.
Robert lag im Bett, rieb sich die Augen und fragte sich, ob er im Begriff war, den Verstand zu verlieren. Eine Schwester entfernte die Bettschale und fragte ihn, ob er etwas essen oder trinken wolle.
»Nein, aber könnten Sie mir sofort einen Gefallen tun?« Flehend sah er die Schwester an.
»Wer könnte so einem Blick widerstehen, Mr. McIain«, gab sie neckisch zurück und zog fragend die Augenbrauen hoch.
»Sehen Sie nach, was für ein Blut mein Sohn bekommt und welche Blutgruppe er hat.«
Die Schwester verschwand und kehrte kurz darauf zurück. »AO RH positiv, und er hat AO RH positiv. Zufrieden?«, verkündete sie und strich seine Decke glatt.
»Sind Sie auch wirklich absolut sicher?« Robert packte sie am Ärmel.
Die Schwester nickte. »Gibt es da ein Problem?«
Robert sprang auf. »Meine Frau. Ich muss zu meiner Frau«, keuchte er und schob die Schwester beiseite. Als er den Flur entlanghastete, stellte er fest, dass Katie bereits den Krankenhausgarten durchquerte und schon fast auf der Straße war. Die Fliegentür hinter sich zuknallend, lief er die Treppe hinunter. Ihm schwindelte von der Anstrengung, als er ihr nachrief, hinter ihr her eilte und nur stehen blieb, um sich in ein Blumenbeet zu übergeben. Als Katie den Lärm hörte und sich umdrehte, sah sie, wie ihr Mann kreidebleich und barfuß auf sie zurannte. Das Krankenhausnachthemd bauschte sich im Wind.
»Robbo, was um Himmels willen …?«
»Wie konntest du so etwas tun, Katie? Wie konntest du mir Liebe schwören und dich dann so verhalten?«, keuchte er und packte sie am Arm. Um ihn herum drehte sich alles.
»Was redest du da für einen Unsinn?«, schrie sie und wollte sich losreißen. Aber Robert war zu stark.
»Es ist nie passiert, richtig? Zwischen uns ist damals gar nichts geschehen. Unsere Ehe war von Anfang an eine Lüge.« Katie erbleichte. »AO positiv! Stewart ist AO positiv.« Sein Griff wurde fester, und er blickte ihr eindringlich ins Gesicht. »Stewart ist nicht mein Sohn. Das ist unmöglich. Katie, sag, dass das nicht stimmt«, stieß er hervor. Sie sahen einander finster an.
»Hast du jetzt völlig den Verstand verloren, Robbo. Natürlich ist er dein Sohn. Du fühlst dich nicht wohl. Nach dem Unfall bist du verwirrt. Du gehörst wieder ins Bett.« Bis ins Mark erschrocken über seinen wilden Blick, begann sie zu zittern. Robert packte sie an beiden Armen und schüttelte sie.
»Sag mir die Wahrheit. Ich muss jetzt die Wahrheit wissen.«
»Sie lügen. Die Ärzte haben dich wegen des Blutes angelogen«, flüsterte sie voller Angst. »Du warst so hysterisch, dass sie irgendetwas dahergeredet haben, um dich abzuwimmeln. Schau dich doch nur an, du führst dich auf wie ein Verrückter. Lass mich los.« Roberts Finger gruben sich in ihre Arme, dass sich seine Knöchel weiß verfärbten.
»Er kann nicht mein Sohn sein. Ich habe es selbst gesehen.
RH negativ hätte ihn umgebracht. Ich wollte die Wahrheit von dir selbst hören. Ein einziges Mal in unserer Ehe solltest du die Wahrheit sagen.« Sein Griff tat ihr weh. Endgültig in die Ecke gedrängt, richtete Katie ihre ganze Wut gegen ihn.
»Was erwartest du denn von mir? Soll ich überall herumposaunen, dass dein Sohn von einem anderen Mann gezeugt wurde? Möchtest du das? Dein kostbarer Familienstammbaum ist doch nichts weiter als ein Witz!« Ihre Augen waren schmale Schlitze, und ihr Atem ging stoßweise. »Soll ich? Soll ich? Oder erzähle ich besser, dass das alles nur ein grausamer Trick von dir ist, um deine Frau und deinen Sohn um den Rest deines kümmerlichen Erbes zu bringen? Du spinnst doch. Du gehörst in die Klapse. Lass mich los!«, kreischte sie. Der Arzt und die Schwestern kamen angelaufen.
»Die Wahrheit, Katie, damit wir diese Farce endlich beenden können.« Katie schluchzte vor Wut. »Was ist wirklich in jener Nacht geschehen?«
»Die Wahrheit, du willst die Wahrheit hören. Es ist gar nichts passiert, du unfähiger, jämmerlicher …« Von unbeherrschbarer Wut geschüttelt, fauchte und spuckte sie wie eine Katze. »Du warst betrunken, du dämlicher, verblödeter, bemitleidenswerter Säufer, und hast nichts weiter hingekriegt, als herumzusabbern und mir wegen Alice die Ohren voll zu heulen. Ein paar Mal hast du mich geküsst und bist dann eingeschlafen. Ich selbst habe die Hose unter dem Teppich versteckt. Als du am nächsten Tag gegangen bist, habe ich es nicht ertragen. Ich habe mich so elend gefühlt.« Sie weinte immer heftiger. Roberts Augen funkelten wahnwitzig, und er hielt das Gesicht ganz dicht an ihres.
»Es ist aus zwischen uns, Katie. Ich reiche die Scheidung ein, sobald ich hier rauskomme. Aber zuerst sagst du mir, wer der Vater ist.« Er umklammerte Katie, um sich auf sie zu stützen und sie am Weglaufen zu hindern.
»Nein, Robbo, nein. Du verstehst das nicht. Ich liebe dich«, flehte sie verzweifelt. »Ich war ratlos und habe keinen anderen Weg gesehen, um dich zu bekommen. Du hast dich immer nur für Alice interessiert, obwohl du ihr völlig gleichgültig warst. Mich hast du überhaupt nicht wahrgenommen. Ach, Robbo, ich mache alles wieder gut. Ehrenwort. Bitte! Es tut mir Leid! Es tut mir Leid! Es lief doch so gut mit uns beiden. Bleib bei mir. Stewwy zuliebe. Verlass mich nicht.« Mit tränenüberströmtem Gesicht krallte sie sich an ihm fest, weigerte sich ihn loszulassen, und suchte panisch nach einem Weg, ihn zu halten.
»Wer ist der Vater?«
»Russell Heaton. Du hast ihn beim Debütantinnenball kennen gelernt. Du darfst mich nicht verlassen, Robbo, das darfst du nicht«, schluchzte sie. »Schwester, Schwester, helfen Sie mir. Er hat den Verstand verloren!«, kreischte sie. Der Arzt und die Schwestern eilten heran und zogen Robert von Katie weg.
»Aber, aber, Sir. Das wird schon wieder. Sie haben viel durchgemacht. Wir geben Ihnen jetzt etwas zur Beruhigung.«
Robert riss sich los. Ohne auf seine Übelkeit zu achten, taumelte er vorbei an den Patienten in der Ambulanz, die ihn erstaunt musterten, zurück ins Krankenhaus und den Flur entlang in Stewarts Zimmer. Er musste sich noch einmal selbst vergewissern. Er wollte absolut sicher sein. Stewart schlief friedlich. Seine Stirn war bandagiert, und seine zarten Wangen waren leicht gerötet. Unter der Krankenhausdecke hob und senkte sich seine Brust regelmäßig. Über ihm hing der Blutbeutel mit der Aufschrift, vor der Robert graute. AO RH positiv. So sehr galt seine Aufmerksamkeit dem Beutel, dass er seine Mutter gar nicht bemerkte, die aus einer Zimmerecke auf ihn zutrat.
»Lassen Sie ihm einen Moment Zeit. Wir schaffen das schon«, sagte sie leise und stellte sich zwischen Robert und die erschrockenen Krankenschwestern. Robert starrte auf das geliebte Kindergesicht. Der Junge bedeutete ihm unbeschreiblich viel. Dieses Kind war seine ganze Welt, und er hatte all seine Hoffnungen und Träume mit ihm verknüpft. Stewart war die nächste Generation der stolzen Wangianna-Dynastie. Und dennoch konnte er unmöglich sein leiblicher Sohn sein. Elizabeth legte Robert die Hand auf die Schulter.
»Ich weiß«, meinte sie sanft. Robert ließ die Schultern hängen, und er sank wie ein alter Mann auf den Stuhl neben dem Bett. Nachdem er vorsichtig Stewarts kleine Hand umfasst hatte, stützte er den Kopf aufs Bett und weinte lautlos in die Laken.