Kapitel neunundzwanzig

Eine tote Ratte am Schwanz schwenkend, kam Stewart hinter dem Traktorschuppen in Karri Karri hervor und rannte auf Robert zu. Chris, der junge Schafhirte, den Robert vor drei Monaten eingestellt hatte, folgte mit ein paar Metern Abstand.

»Soll ich sie vergraben oder zum Abendessen kochen, Dad?«, fragte Stewart mit einem spitzbübischen Kichern. »Schlechter als der Fraß von gestern kann es ja nicht schmecken.«

»Frechdachs. Lass das bloß nicht deine Mutter hören.« Stewarts Augen funkelten verschmitzt, als er sich grinsend auf die Suche nach Katie machte.

»Hast du ihn etwa dazu angestiftet?«, wollte Robert von Chris wissen.

»Wer, ich?«, erwiderte dieser mit Unschuldsmiene. Die Schreie aus der Küche waren ein deutlicher Hinweis darauf, dass Stewart seine Mutter gefunden hatte. Und dass sie ihn kurz darauf am Ohr aus dem Haus zerrte, zeigte, was sie von diesem Streich hielt.

»Hast du ihm gesagt, er soll das widerliche Ding ins Haus bringen?«, kreischte sie und sah sich nach Robert um. Doch der hatte sich mit Chris in den Traktorschuppen geflüchtet wie ein unartiger Schuljunge.

»Ach, Mum, das war doch nur ein Scherz. Aua! Aua!«, rief Stewart, als Katie ihn noch fester am Ohr zog. Er riss sich los, ließ die tote Ratte fallen und floh ebenfalls in den Schuppen.

»Ich fand das aber ganz und gar nicht witzig!«, brüllte Katie, und ihr hübscher Mund verzerrte sich vor Zorn. »Warte nur, bis ich es deinem Vater erzähle.« Sie machte sich daran, den Kadaver in die Mülltonne zu werfen.

»Sie hat nicht gelacht, Dad«, meinte Stewart mit einem frechen Grinsen.

»Ich habe dich gewarnt, Junge«, prustete Robert, und dann bogen sich die drei vor Lachen. Nachdem Robert sich die Tränen weggewischt hatte, klopfte er Stewart auf die Schulter. »Und jetzt geh und fang noch ein paar von den Biestern. Aber verbrenn sie sofort, damit die Hunde sie nicht kriegen. Anschließend kannst du deine Schularbeiten machen.«

»Die sind schon längst fertig«, erwiderte Stewart und trollte sich.

Stolz blickte Robert seinem Sohn nach. Mit seinen zehn Jahren war er bereits ein zuverlässiger Schafhirte. In diesem Jahr bekam er noch Unterricht an einer Fernschule, doch im nächsten Jahr würde er ein Internat besuchen müssen, um einen guten Abschluss zu machen. Dieser Gedanke gefiel Robert ganz und gar nicht, denn er wusste nicht, wie er allein mit Katie zurechtkommen sollte, ohne dass Stewarts Anwesenheit ihm einen Grund zum Durchhalten gab.

»Ich werde dich vermissen, du kleiner Schlawiner«, sagte Robert mehr zu sich selbst und wurde schlagartig ernst.

»Ihr beide werdet euch noch mal ordentlich Ärger einhandeln, Boss«, meinte Chris, immer noch lachend.

Robert nickte zustimmend. Vielleicht war es die einfachste Lösung, das Geld aufzutreiben, um Katie wieder nach Perth zu schicken.

Bis auf eine kurze Stippvisite bei der Familie lebten die drei nun seit ihrer Abmachung im April in Westaustralien, und Katie fühlte sich schrecklich unwohl hier. Die Farm war riesengroß und abgelegen und besaß nicht den hochherrschaftlichen Glanz von Wangianna. Aber wenn der Betrieb erst einmal richtig lief, würde er ordentliche Erträge abwerfen.

Im Augenblick jedoch war es hier nur heiß und staubig, und die trockene, rissige Erde konnte kaum die spärlichen Grasbüschel ernähren, die die Landschaft übersäten. Ihr nächster Nachbar wohnte dreißig Kilometer entfernt, und sie funkten sich abwechselnd jeden Abend um sechs an, um sicherzugehen, dass niemandem etwas zugestoßen war. Robert fuhr das Gelände mit einem alten Motorrad ab und hatte außerdem noch eine zweisitzige Cessna 150 zur wöchentlichen Überprüfung der zweiundfünfzig Windmühlen, die das Wasser aus den Bohrlöchern und Quellen nach oben pumpten.

Da Robert ganz und gar nicht damit einverstanden war, wie Andrew in Wangianna die Geschäfte führte, hatte er sein eigenes Geld in den Wiederaufbau von Karri Karri gesteckt und viel in die Herde investiert, was bedeutete, dass kein Geld mehr für Einkaufsausflüge übrig war. Er hatte Katie vorgeschlagen, sie solle doch der Landfrauenvereinigung beitreten, was sie zunächst auch getan hatte.

Allerdings war es ihr rasch gelungen, sich bei allen Frauen dort unbeliebt zu machen. Die Einheimischen, die Katie anfangs mit offenen Armen aufgenommen hatten, bekamen rasch genug von ihrem ständigen Gejammer und Genörgel und den Schilderungen des Luxuslebens, das sie vor Georges Tod hatte führen können. Außerdem hatten die Damen nicht viel dafür übrig, dass Katie ihren Männern schöne Augen machte und sich am liebsten vor jeglicher Arbeit drückte. Die Frauen in dieser Gegend hielten es für ihre Pflicht, ihren Ehemännern zu helfen und ihnen sowie ihren Nachbarn unter die Arme zu greifen, so lästig diese Pflicht manchmal auch sein mochte. Und in dieser Hinsicht hatte Katie auf ganzer Linie versagt.

Deshalb fühlte sie sich seit der Rückkehr von ihrem Besuch in Wangianna noch einsamer als zuvor, weinte sich oft in den Schlaf und klagte tagein, tagaus über ihre rissigen, geröteten Hände, die abgebrochenen Fingernägel und die harte Arbeit, die hier von ihr verlangt wurde. Katie war eine miserable Köchin und vernachlässigte außerdem den Haushalt. Obwohl ihre Weigerung, sich wenigstens ein bisschen anzustrengen, Robert langsam, aber sicher zur Weißglut trieb, hielt er sich an ihre Abmachung, einander und Karri Karri ein Jahr Zeit zu geben, bevor sie endgültig nach Wangianna zurückkehrten. Da Katie kein eigenes Geld besaß und sich mit dem begnügen musste, was Robert ihr gab, blieb ihr nichts anderes übrig, als die Situation zu erdulden, was sie meist mit entsprechend zur Schau getragener Leichenbittermiene tat.

Robert quälte ständig die Sorge um Wangianna. Seine Brüder hätten es genauso machen sollen wie Alice, was hieß, gute Schafe zu kaufen, solange die Preise niedrig waren, und sich gleichzeitig Überlebensstrategien für die nächsten Jahre zurechtzulegen. Das Kapital war zwar vorhanden, doch wenn er seinen Brüdern diesen Vorschlag machte, wurde er jedes Mal niedergeschrien.

Als seine Mutter ihm mitteilte, Andrew habe einige der besten Mutterschafe für eine lächerlich geringe Summe abgestoßen, um kein zusätzliches Futter kaufen zu müssen, wäre Robert vor ohnmächtiger Verzweiflung am liebsten in Tränen ausgebrochen.

In solch traurigen Momenten musste er immer wieder daran denken, wie sein Leben wohl mit Alice an seiner Seite ausgesehen hätte, worauf ihm noch elender zumute wurde. Zum Glück hatte er Chris, der ihn aufmunterte und so hart arbeitete, wie Robert es noch nie bei jemandem gesehen hatte.

»Warum bist du ausgerechnet nach Karri Karri gekommen?«, fragte er, als er mit Chris in der glühenden Hitze die Pumpe an einer Windmühle am nordöstlichen Rand der Farm reparierte.

»Weiß nicht genau. Ich mag die Einsamkeit. Zu viele Leute machen mich nervös. Ich bin hier aufgewachsen, und das Land ist eine Herausforderung. Das macht mir Spaß. Und wenn ich genug Geld gespart habe, werden meine Freundin und ich heiraten.«

»Du willst also bald wegziehen?« Robert hatte gehofft, Chris eines Tages zum Verwalter von Karri Karri machen zu können.

»Nur, wenn du mich rausschmeißt. Meine Freundin liegt mir schon dauernd damit in den Ohren, wann sie endlich hierher zu mir ziehen kann. Sie hat auch nicht viel für die Lichter der Großstadt übrig und ist nur froh, wenn wir zusammen sind. Mit ihr habe ich großes Glück gehabt.«

»Das würde ich auch sagen«, antwortete Robert, der sich plötzlich für Katie schämte. Ohnehin niedergeschlagen, weil er nicht verhindern konnte, dass sein Halbbruder mit seiner Dummheit Wangianna herunterwirtschaftete, begann er über seine eigene missliche Lage nachzugrübeln. Vielleicht sollte er besser aufhören, eine Ehe kitten zu wollen, die nicht mehr zu retten war, sich mit Stewarts Verlust abfinden und stattdessen versuchen, Alice zurückzugewinnen.

Doch während er sich mit einer störrischen Schraube abmühte, wusste er, dass es nie klappen würde. Das Glück seines über alles geliebten Sohnes zu gefährden, kam überhaupt nicht in Frage.

»So, jetzt funktioniert das Ding wieder«, stellte er fest, klopfte mit dem Schraubenschlüssel gegen den Stahl und lauschte zufrieden den Geräuschen der Pumpe. Dann sammelte Chris die Werkzeuge ein, und sie gingen gemeinsam zum Flugzeug.

In der ersten Dezemberwoche stoppte Katie erschöpft den Wagen vor dem Haus. Es war zweiundvierzig Grad heiß. Gerade hatte sie die Fahrt zur nächsten Stadt Meekatharra hinter sich gebracht, die hin und zurück vier Stunden dauerte, um wie jeden Monat Lebensmittel einzukaufen und die Post abzuholen. Beim Holpern über die unbefestigte Straße hatte sie nur die Wahl gehabt, bei geschlossenem Fenster gebraten zu werden oder bei heruntergekurbelter Scheibe in Staubwolken zu ersticken. Ihr dünnes Baumwollkleid war schweißnass, das blonde Haar hing ihr strähnig und strohig um den Kopf, und sie war durstig und hatte entsetzliche Kopfschmerzen. Katie hatte beschlossen, die Warnung ihres Arztes vor weiteren Fehlgeburten in den Wind zu schlagen und wieder schwanger zu werden. Doch leider hatte es auch diesen Monat nicht geklappt, und die Enttäuschung, zusammen mit ihrer Müdigkeit und den Menstruationsbeschwerden, machte sie wütend.

Als sie sich, beladen mit ihren Einkäufen, in die Küche schleppte, fand sie dort das Durcheinander vor, das sie am Morgen zurückgelassen hatte. Über den Resten des gestrigen Abendessens und des heutigen Frühstücks summte eine riesige Schmeißfliege. Das Spülbecken quoll über von schmutzigem Geschirr und Gläsern. Neben einem Stück Gartenschlauch, das sie eigentlich hatte flicken wollen, kümmerte das welke Gemüse vor sich hin, das eigentlich in den uralten Kühlschrank gehörte. Ein von Wein durchweichtes Päckchen Tee lag neben einem zerdrückten hart gewordenen Laib Brot, von dem sie sicher war, dass sie ihn weggeräumt hatte, bevor sie sich auf den Weg nach Meekatharra gemacht hatte. Brot-backen war das Einzige, was Katie an Kochkünsten besaß. Ein stetig wachsender Berg Flickwäsche türmte sich drohend in einer Ecke. Und sie brauchte nicht eigens hinzuschauen, um zu wissen, dass der Wäschekorb vor muffig riechender Schmutzwäsche platzte.

Beim Gedanken an die viele Arbeit, die ihr bevorstand – ganz zu schweigen vom Wegräumen der Einkäufe –, traten ihr vor Verzweiflung die Tränen in die Augen. Leider suchte sich Stewart genau diesen Moment aus, um, an einem großen Stück Brot kauend, zur Tür hereinzuspazieren.

»Hallo, Mum! Was gibt’s denn zum Tee?«, fragte er.

Katie sah erst Stewart, dann die Brotscheibe in seiner Hand und zu guter Letzt den verunstalteten Laib auf der Anrichte an, und zog sofort ihre Schlüsse daraus. Im nächsten Moment stolperte sie über einen Stapel Zeitschriften, die sie auf dem Boden liegen gelassen hatte, sodass der Eierkarton, den sie oben auf ihren Einkäufen balancierte, mit einem dumpfen Geräusch zu Boden stürzte. Als sich das Eigelb auf dem Fußboden verteilte, war für Katie das Maß endgültig voll, und ihr Hass auf die ganze Welt entlud sich gegen ihren Sohn.

»Es reicht!«, kreischte sie. »Du gehst jetzt sofort ins Bett! Du hast das Brot ruiniert, und jetzt kriegst du nichts mehr zu essen!«

In diesem Augenblick betrat Robert die Küche.

»Aber, Katie, findest du das nicht ein bisschen übertrieben«, meinte er, als er Stewarts schicksalsergebene Miene sah. »Es ist doch nur ein Laib Brot.«

Katie wirbelte zu ihrem Mann herum. »Das ist wieder mal typisch für dich. Immer ergreifst du Partie für ihn, und es ist dir völlig egal, wie ich mich dabei fühle. Niemanden interessiert es, dass meine Haare aussehen wie Stroh, dass ich Hände habe wie eine Waschfrau und dass ich mich vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten kann …« Das gellende Läuten des Telefons unterbrach ihre Tirade. Katie riss den Hörer von der Gabel, bevor sonst jemand Gelegenheit dazu hatte. »Hallo!«, schrie sie in die Sprechmuschel.

Doch schon im nächsten Augenblick veränderte sich ihr Verhalten schlagartig, während sie darauf wartete, dass die Telefonistin die Verbindung herstellte. Ihre Schultern lockerten sich, und ihre Miene wurde tückisch.

»Nein, Elizabeth, alles ist bestens. Du hast mich nur in einem schlechten Moment erwischt.« Ihre Stimme war allerdings ein wenig zu schrill. »Tja, es ist manchmal ein bisschen schwierig, aber wir schaffen das schon. Ich gebe dir Robbo. Einen Moment.« Sie reichte Robert das Telefon und ging, um sich Kopfschmerztabletten zu holen.

»Katie kommt gerade vom Einkaufen. Es ist schrecklich heiß, und sie fühlt sich nicht ganz wohl, Mum«, erklärte er. »Stewwy geht es prima.« Als er ihr von der toten Ratte erzählte, musste Stewart grinsen.

»Weißt du noch, dass ich in seinem Alter mit dir dasselbe gemacht habe? Katie war gar nicht erfreut darüber. Ich verstehe gar nicht, was Mütter immer gegen Ratten haben.« Er lauschte kurz und fragte dann: »Warum rufst du an, Mum? Ich weiß doch, dass du das nur tust, wenn dich etwas bedrückt.« Als Robert weiter zuhörte, verfinsterte sich seine Miene sichtlich. Nachdem er aufgelegt hatte, kratzte er sich am Kopf.

Katie kehrte zurück und stieg über die zerbrochenen Eier hinweg, um sich ein Glas Wasser einzuschenken. Sie schluckte die Tabletten, ließ sich auf einen Stuhl sinken, schlug die einen Monat alte Zeitung auf, die sie aus dem Poststapel genommen hatte, und schleuderte sie schon im nächsten Moment angewidert zu Boden.

»Blöde Kuh! Wenn Alice hier zuständig wäre, wäre alles natürlich in bester Ordnung. Du wärst glücklich, die Socken wären gestopft, und auf dem Herd würde eine Suppe köcheln.«

»Warum redest du so dummes Zeug?«, erkundigte sich Robert gereizt, während er das sich immer weiter ausbreitende Eigelb aufwischte. Dabei hatte er ein schlechtes Gewissen, denn er hatte vorhin genau dasselbe gedacht.

Er hob die Zeitung auf, die nur knapp neben der Eierpfütze gelandet war. Sein Herz machte einen Satz, als er in Alices fröhlich lächelndes Gesicht blickte. Sie war von ihrem neuesten preisgekrönten Widder, dem »Kaiser«, lachenden Schafhirten, zwei reizenden Kindern und Marigold umringt und sah aus wie das Ebenbild der erfolgreichen Schafzüchterin. MERRYMAID MACHT FORTSCHRITTE, lautete die Schlagzeile.

Katie schlug die Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus. »Ich halte das nicht mehr aus. Ich bin so unglücklich. Ich will nach Hause«, stieß sie, von Schluchzern geschüttelt, hervor.

Stewart, der immer noch in der Tür stand, pirschte sich herein und warf einen Blick auf das Foto. Er mochte seine Tante Alice. Währenddessen betrachtete Robert seine weinende Frau. Vielleicht war es zu viel verlangt gewesen, von ihr zu erwarten, dass sie monatelang auf dieser einsamen Farm ausharrte. Schließlich war er viel unterwegs, und sie hatte keine weibliche Gesellschaft, sodass sich ihre Kontakte auf die Schafhirten und hin und wieder ein Gespräch am Funk beschränkten. Aber etwas Besseres war ihm nicht eingefallen, um ihre Ehe zu retten, und er hoffte, wenigstens einen kleinen Erfolg erzielt zu haben.

»Mach deiner Mum eine Tasse Tee«, bat er Stewart. Dann nahm er Katies raue, schwielige Hand, strich mit den Fingern über die abgebrochenen Nägel, die noch vor acht Monaten so makellos gepflegt gewesen waren, und musterte das Durcheinander im Raum. »Nimm es dir nicht so zu Herzen, Katie. In ein paar Monaten ist es ausgestanden. Aber ich brauche dich hier. Wenn wir es schaffen, diesen Laden auf Vordermann zu bringen, können wir vielleicht auch Wangianna vor dem Ruin bewahren. Stewwy und ich helfen dir beim Aufräumen, und ich koche Tee.« Katie weinte weiter. »Mum hat vorgeschlagen, ihr könntet euch in Melbourne treffen und Weihnachtseinkäufe machen.«

Plötzlich war Katie wie ausgewechselt. Die Schluchzer verstummten, und sie richtete sich auf. »Aber deine Mutter kann Melbourne doch nicht ausstehen.«

»Die Stimmung zu Hause ist momentan sehr schlecht, und sie braucht ein bisschen Abstand.« Katies Leidensmiene wurde von Begeisterung abgelöst.

Robert, der ihren Stimmungsumschwung ausnutzen wollte, fuhr fort: »Ich habe es nicht an die große Glocke gehängt, weil ich dir keine falschen Hoffnungen machen wollte, doch offen gestanden glaube ich nach dem, was Mum mir eben erzählt hat, dass Andrew nicht mehr lange durchhalten wird. Wahrscheinlich wird er noch vor Neujahr aufgeben.«

»Kriegen wir Wangianna dann zurück?«, fragte Katie voller Hoffnung. Das Leben sah auf einmal viel rosiger aus.

»Tja, die Farm wird immer noch uns drei Brüdern gemeinsam gehören. Möchtest du sie zurückrufen, wenn du dich besser fühlst, und ihr sagen, dass du mit ihr einkaufen gehst?«

»Ich fühle mich schon wieder großartig!«, rief Katie aufgeregt aus und sprang auf, um Elizabeth anzurufen. Der bloße Gedanke, diesem Drecksloch zu entrinnen, war Balsam für ihre Seele. »Was ist mit dem Geld?«, fragte sie plötzlich argwöhnisch, als Robert den tropfenden Eierkarton in den Mülleimer warf.

»Für Weihnachten können wir schon ein paar Dollar lockermachen«, antwortete Robert, erleichtert, dass sie sich so rasch wieder gefasst hatte. Während er wieder das Chaos in Angriff nahm, räumte Stewart die Lebensmittel weg. »Warum grillen wir heute nicht draußen? Es ist doch viel zu heiß, um drinnen zu kochen.« Aber Katie hörte ihn nicht, denn sie sprach bereits mit der Telefonistin.

Nach dem Essen schenkte Robert sich das zweite Glas Bier ein und betrachtete die Bäume, deren Umrisse sich schwarz von dem leuchtend roten Sonnenuntergang abhoben. Katie war gleich nach dem Essen zu Bett gegangen. Robert dachte über das Gespräch mit seiner Mutter nach. Laut Elizabeth gab Andy Geld aus, das sie nicht besaßen, und zwar stets für die falschen Dinge. Ian und Jordie folgten seinem Beispiel. Er schaffte Fahrzeuge und Maschinen an, obwohl die alten noch gut und gerne fünf bis zehn Jahre ihren Dienst getan hätten, kaufte überflüssigen Technikschnickschnack und weigerte sich stur, auch nur einen Cent in die wirklich dringenden Notwendigkeiten wie Futtermittel und Bewässerung zu stecken.

Vor kurzem hatte er einige Weiden abgemäht und fast die gesamte Ausbeute an den Meistbietenden verkauft, anstatt auf Elizabeths Rat zu hören und das Gras für schlechte Zeiten einzulagern. Das hatte zwar zunächst ein ordentliches Sümmchen eingebracht, doch Robert wusste aus Erfahrung, dass der Preis für das Futter, das sie dringend brauchten, um ihre Schafe am Leben zu erhalten, in den nächsten Monaten dramatisch steigen würde – ebenso wie die Zinsen, sodass der Verkaufserlös im Nu aufgezehrt sein würde. Die Trockenzeit drohte, und zwar während der schlimmsten Dürre seit Jahren, und dennoch tat dieser Dummkopf alles, damit sich die missliche Lage auch noch zuspitzte.

Robert beobachtete, wie die Sonne langsam am Horizont unterging, lauschte den Geräuschen des Busches und versuchte, einmal nicht an seine Sorgen zu denken. Es war so schön um diese Tageszeit. Bei Dämmerung kamen die Kängurus vorsichtig aus dem Gebüsch, wo sie Schutz vor der sengenden Hitze gesucht hatten. Es wurden immer mehr und mehr, die da rasch in großen Sätzen dahinhüpften, bis sich etwa dreißig von ihnen versammelt hatten, um aus einer einsamen Pfütze neben einem undichten Wassertrog zu trinken. Nur das leise Schlürfen ihrer leckenden Zungen war in der abendlichen Stille zu hören.

Morgen würde er den Trog abdichten müssen. Eigentlich war es besser, sämtliche Tröge zu ersetzen. Außerdem blieb ihm nichts anderes übrig, als einige der Kängurus abzuschießen, denn die wunderschönen, majestätischen Tiere, die reglos dastanden und mit gespitzten Ohren auf mögliche Gefahren lauschten, waren der Fluch der Farmer. Wenn man ihre Anzahl nicht begrenzte, verdarben sie die Weiden und bedrohten das Überleben der Schafe. Morgen würde er mit Chris sprechen und auch seinen Nachbarn um Hilfe bitten.

Ein Schwarm kreischender Kakadus flog am sich verdunkelnden Himmel dahin, war im nächsten Moment verschwunden und ließ sich auf dem ausgedörrten Boden nieder, um nach Nahrung zu picken. Robert trank einen Schluck Bier. Am vierzehnten Dezember würde Katie abreisen. Und da Chris sich bereit erklärt hatte, schon einmal zur Probe als Verwalter zu fungieren, konnten Stewwy und er sich am zweiundzwanzigsten auf den Heimflug machen. Ein großer Leguan glitt auf der Suche nach Nahrung dahin, während Robert einnickte.

Als Robert in Wangianna eintraf, stellte er erschrocken fest, wie angestrengt seine Mutter wirkte, und er fragte sich, ob der Einkaufsbummel mit Katie tatsächlich eine gute Idee gewesen war. Doch Elizabeth versicherte ihm, der Ausflug habe ihr Spaß gemacht. Katie war zu Sophie und Natter gefahren, um mit ihren neuen Errungenschaften anzugeben. Fest entschlossen, sich bei allen beliebt zu machen, hatte sie Geschenke für Sophies Kinder und für die ganze Familie, ja, sogar welche für Vicky und Ben gekauft.

Später am Abend saßen Elizabeth und Robert zusammen und führten ein Gespräch unter vier Augen.

»Es fehlt mir, mit dir zusammen Wangianna zu führen, Robby. Ich fühle mich, als hätte man mir ein Teil von mir herausgeschnitten.« Trauer schwang in ihrem Tonfall mit. »Die Jungen und ich hatten eine kleine Auseinandersetzung wegen des Verkaufs des Luzernenheus, und seitdem bekomme ich keinen Einblick in die Bücher mehr«, berichtete sie weiter und griff sich an die Brust.

Ihre Stimme klang so tonlos, wie Robert es noch nie bei ihr erlebt hatte.

»Aber ich weiß genau, wie es weitergehen wird, Robby, und das macht mir Angst.« Sie runzelte die Stirn aus Angst, ihre Beherrschung zu verlieren. »Ich glaube, sie haben alle keine Ahnung von dem, was sie da treiben.«

Robert umarmte sie. Allmählich wurde er wütend auf seinen Vater.

Elizabeth nahm seine Hände und blickte ihm tief in die Augen, die ihren glichen wie ein Ei dem anderen. »Tu nichts Unüberlegtes, Robby. Aber eines sage ich dir: Wangianna braucht deine Führung.« Sie fasste sich wieder. »Sei ehrlich mit mir, wie sollen wir hier bloß weitermachen?«

»Genauso wie immer, Mum«, erwiderte Robert leise. »Wir züchten Wollschafe und erhalten die Qualität der Rasse. Obwohl wir, wie ich zugeben muss, zurzeit eine Flaute erleben, sehe ich überhaupt keinen Grund, etwas daran zu ändern.«

»Dann berufe einen Familienrat ein und versuche, die anderen zur Vernunft zu bringen«, flehte Elizabeth.

»Bei Andy, diesem Schwachkopf, da ist Hopfen und Malz verloren«, erwiderte Robert barsch. Elizabeths Aufregung wuchs.

»Du bist immer noch wütend auf deinen Vater, was?«

Robert sprang auf. »Wütend? Darauf kannst du Gift nehmen. Ich könnte vor Wut platzen. Wenn Dad sich nicht so albern aufgeführt hätte, wäre das alles nie passiert. Nur um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen, hat er sich nicht damit begnügt, dich zu blamieren, indem er dir den Sohn seiner Geliebten aufhalst. Nein, er musste auch noch den Helden spielen und für uns ebenfalls alles kaputtmachen. Warum hat der Idiot ihm nicht einfach ein bisschen Geld vermacht? Das hätte doch genügt.« Er ging im großen Wohnzimmer auf und ab. Elizabeth klopfte die Sofakissen zurecht. Robert eilte zu seiner Mutter hinüber. »Tut mir Leid, Mum, das war unverzeihlich von mir.«

»Ich verstehe dich, mein Schatz, ich verstehe dich«, antwortete Elizabeth und putzte sich die Nase. »Bringen wir Weihnachten hinter uns und versuchen wir, dieses Durcheinander in Ordnung zu bringen. Ich verlange nur, dass die Farm zusammengehalten wird.« Das war das Problem, das Elizabeth Tag und Nacht beschäftigte. »Ich möchte deinen Brüdern ja nicht in den Rücken fallen, aber Ian und Jordie sind Mitläufer und hören einfach nicht auf meinen Rat. Andrew ist derjenige, der mir am meisten Sorgen macht. Er kann uns in den Bankrott treiben, Robby.« Wieder fasste sie sich an die Brust.

»Fühlst du dich nicht wohl, Mum?«

»Es ist nichts. Nur Übermüdung.«

Aber Robert gefiel ihr deprimiertes und geradezu krankes Aussehen gar nicht. Am Weihnachtstag war es heiß und trocken. Die Temperaturen überstiegen die Vierzig-Grad-Marke, alle waren gereizt, und niemand hatte große Lust, das übliche warme Weihnachtsessen vorzubereiten, geschweige denn, es zu verspeisen. Elizabeth, die sehr an den Traditionen hing, wirkte erschöpft. Das einzig Angenehme war, dass Andrew das Weihnachtsfest bei der Familie seiner Mutter in Melbourne verbrachte. Doch da er befürchtete, Robert könnte während seiner Abwesenheit Einfluss auf seine Brüder nehmen, war er schon am zweiten Weihnachtstag wieder in Wangianna.

Trotz der andauernden Hitze rief Robert einen Familienrat zusammen und bestand darauf, dass Elizabeth und Katie auch dabei waren. Katie saß da, feilte sich die Nägel und wedelte mit ihrem Kleid unter dem Ventilator herum, um sich ein wenig abzukühlen. Da sie sich an Roberts Bemerkung über Andrews düstere Zukunftsaussichten erinnerte, beschloss sie, den Mund zu halten.

Als Erstes forderte Robert Andrew auf, ihnen allen ein Bild von der finanziellen Situation zu vermitteln und die wichtigsten Gewinne und Verluste aufzulisten. Nachdem Andrew, herablassend wie immer, zwanzig Minuten lang geredet hatte, legte er die Zahlen bis Ende Oktober vor. Für die Monate November und Dezember hatte er nichts vorzuweisen, und seine Schätzungen für das nächste halbe Jahr klangen Roberts Meinung nach ziemlich an den Haaren herbeigezogen und eher beunruhigend, wenn man sie realistisch betrachtete. Doch er schluckte seinen Ärger hinunter und erklärte stattdessen, wo die Schwierigkeiten seiner Ansicht nach lagen und wie sie sich beseitigen ließen. Aber Ian sprang sofort für Andrew in die Bresche.

»Es ist ja schön und gut, dass du hier reinspaziert kommst, um uns Vorschriften zu machen. Du arbeitest schon seit einem knappen Jahr nicht mehr auf dieser Farm, und ich lasse es mir nicht bieten, dass du Regeln aufstellst und an unserer Betriebsführung herummäkelst.« Er trank einen großen Schluck Bier.

»Ich mache niemandem Vorschriften«, entgegnete Robert bemüht ruhig. »Sondern versuche nur zu verstehen, warum unsere finanzielle Situation auf einmal nicht mehr so rosig aussieht.«

»Wir haben entschieden, die Farm auf Baumwolle und Lämmermast umzustellen. Darauf haben wir uns vor Weihnachten geeinigt, vorausgesetzt, dass Andrew den nötigen Kredit bekommt«, gab Ian zurück. »Ich habe bereits ein neues Bewässerungssystem und eine Baumwoll-Erntemaschine bestellt, und wir werden im Laufe der nächsten beiden Monate die Herde von Wollschafen um drei Viertel verkleinern.«

Nachdem er diese Bombe hatte platzen lassen, lehnte er sich zurück und weidete sich an Roberts Entsetzen.

»Stimmt das, Jordie? Andrew?« Robert musterte die Gesichter seiner Brüder und erbleichte. »Wusstest du das, Mum?« Elizabeth hatte die Lippen fest zusammengepresst. Verzweifelt schüttelte sie den Kopf. Robert schob trotzig den Kiefer vor. »Habe ich auch noch ein Wörtchen mitzureden, oder ist es beschlossene Sache?«

»Wir fanden, dass es nichts bringt, weiter abzuwarten«, fuhr Ian triumphierend fort. Zum ersten Mal im Leben konnte er seinem großen Bruder so richtig eins auswischen. »Da wir drei fünfundsiebzig Prozent von Wangianna besitzen, zählt deine Stimme nicht.«

Robert war wie vor den Kopf geschlagen. Er hatte zwar mit einer Auseinandersetzung gerechnet, hätte aber nie gedacht, dass er so wenig Einfluss besaß.

»Das ist doch Wahnsinn.« Wütend stand er auf. »Mum hat diese Farm bereits geführt, als wir noch gar nicht geboren waren. Wenn ihr mir schon nicht glaubt, hört wenigstens auf sie. Ich garantiere euch, dass die Wollpreise in drei bis fünf Jahren wieder steigen werden. Wenn wir jetzt keinen Fehler machen, werden wir über die Probleme von heute bald lachen.«

»Der Markt ändert sich, Bluey«, wandte Andrew ein. Robert hasste es, wenn er ihn Bluey nannte.

»Ach, tatsächlich, Andy? Wie viel hat die Bank dir denn geliehen?« Die beiden Männer sahen einander finster an. Schließlich räusperte sich Andrew.

»Das war der nächste Punkt, den ich ansprechen wollte.« Er errötete unter Roberts eisigem Blick und wandte sich an die anderen. »Am besten bringe ich es gleich hinter mich.« Andrew stand auf und entfernte sich ein paar Schritte vom Tisch.

Plötzlich waren alle Augen auf ihn gerichtet. »Ich weiß nicht, wie ich es euch sagen soll, aber der Filialleiter der Bank hat den Kreditantrag abgelehnt.«

»Was?«, riefen Ian und Jordie im Chor.

»Das darf doch nicht wahr sein!«, entsetzte sich Ian.

»Das ist ja lächerlich«, schimpfte Jordie.

»Er hat uns unterstützt, seit ihr klein wart. Hat er euch Gründe genannt?«, fragte Elizabeth mit bleichen Lippen. Ihre Stimme durchschnitt die Stille.

Andrew versuchte es auf die großspurige Art. »Offenbar werden einem die Kredite hier regelrecht nachgeworfen, wenn man sein ganzes Leben hier verbracht hat. Wer aber einen Hochschulabschluss vorweisen kann, der seine Fähigkeiten belegt, ist und bleibt der Grünschnabel und muss sich mit dem begnügen, was übrig bleibt.«

Ian, der seine Baumwoll-Pläne dahinschwinden sah, sprang auf. »Ich rufe ihn sofort an und fragte ihn, was zum Teufel er sich einbildet.«

»Das wird auch nichts nützen«, erwiderte Andrew. »Ich habe mich schon Anfang September an ihn gewandt, und er meinte, ich sei noch zu neu und unbekannt hier. Dann hat er mir drei Monate Zeit gegeben, um mich zu bewähren, also bis Anfang Dezember. Ich sah damals keinen Grund zur Besorgnis. Doch als meine so genannte Bewährungsfrist vorbei war, herrschte plötzlich starke Nachfrage nach dem Dollar, und die Zinsen stiegen, sodass wir einen Teil der Herde billig verkaufen mussten.«

Andrew klimperte mit den Münzen in seiner Tasche und wurde immer verlegener. »Anscheinend gefielen ihm einige meiner Entscheidungen nicht, und deshalb hat er den zweiten Antrag abgelehnt.« Ian und Jordie starrten ihn entgeistert an. Elizabeth saß mit unbewegter Miene da.

Andrew sah keine andere Möglichkeit, als die nächste Frage zu stellen: »Was also schlagt ihr vor, Leute?«

Robert, der den Schock, von der Entscheidung ausgeschlossen worden zu sein, noch immer nicht verkraftet hatte, ergriff als Erster das Wort. »Das Beste wäre, Andy, wenn du dich wieder in die Stadt verdrückst, bevor du noch alles kaputtmachst, wofür wir unser Leben lang gearbeitet haben.«

Andrew warf seinem Halbbruder einen wütenden Blick zu. »Wie du weißt, heiße ich Andrew, und ich habe nicht die Absicht, etwas dergleichen zu tun«, entgegnete er kühl und sah Ian und Jordie an. »Gemeinsam wird uns sicher etwas einfallen.«

Aber schon beim Sprechen bemerkte er, dass er das Vertrauen seiner beiden Halbbrüder verspielt hatte.

»Wir machen weiter wie geplant und stellen auf Baumwolle und Lämmermast um.« Doch Ian klang schon nicht mehr so siegessicher.

»Ohne den Kredit haben wir nicht das Geld für die ersten Investitionen, Ian!«, rief Jordie aus. »Wenn er unsere Chancen bei der Bank vermasselt hat, können wir es vergessen.«

»Jetzt krieg nicht gleich die Panik«, schimpfte Ian und schluckte seinen Stolz hinunter. »Robert, rede du doch mit ihm. Auf dich hört er immer.«

Robert lachte auf. »Das soll wohl ein Witz sein!« Niemand sagte ein Wort. Robert fing Elizabeths flehenden Blick auf.

»Nur, wenn Andy sich einverstanden erklärt, sich zurückzuhalten und das Finanzielle auf Wangianna wieder Mum und mir zu überlassen«, erwiderte er entschlossen.

Erwartungsvoll blickte Katie auf. Inzwischen sahen ihre Nägel schon viel besser aus. Vielleicht würden sie Wangianna ja jetzt zurückbekommen.

»Nur über meine Leiche!«, brüllte Andrew, der sich in die Enge getrieben fühlte und deshalb wahllos um sich schlug. »Mein Vater hat mir Wangianna hinterlassen, damit ich die Farm führe, und das werde ich auch weiterhin tun. Ich brauche nur ein wenig Unterstützung.«

»Da lachen ja die Hühner! Du hattest deine Chance, alter Junge, und du hast es in den Sand gesetzt«, höhnte Robert. »Wenn sich hier nicht etwas grundlegend verändert, wird diese Farm bald der Bank gehören.«

Ian und Jordie wirkten schlagartig ernüchtert. Robert wandte sich an seine Mutter.

»Ich weiß, du hörst das nur ungern, Mum, aber ich sehe nur die Lösung, dass wir die Farm aufteilen, solange unser Anteil noch etwas wert ist.«

So sehr ihm diese Vorstellung auch das Herz zerriss, konnte er so wenigstens seinen Teil von Wangianna und auch den seiner Mutter retten. »Ich verpflichte mich, die Schafe, die ihr loswerden wollt, zu übernehmen, und dann könnt ihr mit eurem Land machen, was ihr wollt. Wenn möglich, benutzen wir die Maschinen gemeinsam, und kaufen uns unsere eigenen, sobald wir es uns leisten können.«

Lange herrschte Schweigen. In Andrews Gesicht zeichnete sich Erstaunen und Erleichterung ab, während Ian ernsthaft über den Vorschlag nachdachte.

»Und da wäre noch etwas«, fuhr Robert fort. »Wenn du mir deinen Anteil an Karri Karri überschreibst, Ian, kriegt ihr von mir eure Erntemaschine.«

Ian war von dem Angebot begeistert. »Einverstanden.« Wie Katie verabscheute er Karri Karri. Die Farm, die unpassenderweise den Namen eines Eukalyptusbaums trug, war in seinen Augen eine staubige Einöde, die die Fliegen und die Kängurus gern für sich behalten konnten. Elizabeth war sehr still geworden. Als Katie aufstand, um etwas zu sagen, brachte Robert sie mit einem Blick zum Schweigen. Dann begannen alle wieder zu streiten.

»Was hältst du davon, Mum?«, fragte Ian plötzlich.

Elizabeth starrte ihre drei Söhne an; ihr war, als würde sie ersticken, und sie versuchte, dieses Gefühl zu unterdrücken. Es brach ihr das Herz, mit ansehen zu müssen, wie alle übereinander herfielen. Warum hatte George ihr das nur angetan? Sie erhob sich.

»Wie du uns bereits in aller Deutlichkeit mitgeteilt hast, Ian, habe ich gesetzlich betrachtet hier nichts mehr zu sagen«, stieß sie gepresst hervor und massierte mit den Fingern ihre Brust. »Tut das, was ihr für richtig haltet. Ich mache jetzt einen Spaziergang.« Ein Kakadu krächzte in der plötzlichen Stille.

Langsam und mit hoch erhobenem Kopf ging Elizabeth die Stufen der Veranda hinunter. Alle blickten der einsamen Gestalt nach, die über den verdorrten Boden dahinschritt. Am liebsten wäre Robert in Tränen ausgebrochen. Was für ein schreckliches Weihnachtsfest. Wie hatte es nur so weit mit ihnen kommen können?

»Lasst uns abstimmen«, schlug er vor.

Die Aufteilung von Wangianna war das Erste, worauf sich die vier Brüder jemals hatten einigen können.

Alice feierte Weihnachten bei Bea und Ray. In Billabrin war es genauso stickig wie in Wangianna. Gegen Nachmittag musste Ray los, um einem Freund beim Löschen einer brennenden Weide zu helfen, während Ben in der Hitze quengelig wurde und sich die ganze Zeit über an Alice klammerte. Allerdings konnte nichts ihre gute Laune trüben. Ihr Programm zur künstlichen Besamung lief gut an, und der »Kaiser« war seinen Preis eindeutig wert. Alice hatte ganz klein angefangen, doch inzwischen waren die Nachfahren des »Kaisers« auf der ganzen Welt verstreut, da sich sogar Käufer aus Übersee für die Tiere interessierten.

Außerdem hatte Alice viel Geld in ein neues Bewässerungssystem für ihr Land investiert. Die letzten beiden Futterlieferungen waren ohne Verzögerung eingetroffen, und sie hatte gerade zwei Scheunen mit Heuvorräten gefüllt. Die Kinder entwickelten sich großartig, auch wenn Ben ein wenig zum Muttersöhnchen geworden war. Alice vermisste Marigold, die über Weihnachten nach England geflogen war, aber sie kam auch allein bemerkenswert gut zurecht. Alle bis auf Katie und Billy, der sich noch im Ausland befand, verbrachten das Weihnachtsfest zu Hause. Paddy hatte endlich eine Freundin, und die beiden planten, in vier Monaten zu heiraten.

Zu Alices Glück trug auch die Weihnachtskarte von Rosie und John Dixson bei, die ihr zu ihrem Erfolg gratulierten. Auch Harry und Roody hatten geschrieben und auf dem Weg zu ihrem nächsten Einsatzort einen möglichen zweitägigen Zwischenstopp in Australien angekündigt. Da Alice sicher war, MerryMaid ein paar weitere Tage der Obhut des tüchtigen Jimmy anvertrauen zu können, beschloss sie, noch ein wenig bei ihrer Tante zu bleiben.

Als sie am siebenundzwanzigsten Dezember beim Mittagessen saßen, klopfte es an der Tür. Alice, die gerade den Nachtisch servierte, öffnete die Tür und stand vor einem unbekannten jungen Mann von Mitte dreißig.

»Hallo, Alice, lange nicht gesehen.« Der junge Mann hielt ihr die Hand hin.

»Kenne ich Sie?«, fragte Alice neugierig.

»Jo Perry, erinnerst du dich nicht an damals, als du bei Joker Flugstunden genommen hast? Ich bin der Typ mit dem öligen Lappen.« Alice starrte ihn eine Weile fragend an, bis bei ihr endlich der Groschen fiel.

»Jo!«, rief sie aus. »Was für eine Überraschung. Das ist aber schön. Was machst du denn in Billabrin?« Jo war dunkelhaarig, strahlte Selbstbewusstsein aus und hatte nichts mehr mit dem pickeligen Jüngling gemein, den Alice aus ihren Tagen an der Flugschule kannte.

»Ich arbeite als Pilot beim fliegenden Ärztenotdienst. Als Joker erfuhr, dass ich in dieser Gegend zu tun habe, musste ich ihm versprechen, dir dein Geschenk vorbeizubringen. Außerdem soll ich dir ausrichten, dass er zu Neujahr mit seiner letzten Errungenschaft aus Amerika zurückkommt. Du darfst sie als Erste ausprobieren. Also, hier bin ich.«

Jo war ebenso überrascht, denn Alice war noch schöner als früher. Anstatt wie sonst in Jeans, T-Shirt und mit breitkrempigem Hut, trug sie heute ein weich fallendes Kleid. Den wilden Haarschopf hatte sie mit einem breiten cremefarbenen Band zusammengefasst, um nicht so am Nacken zu schwitzen. Er hatte ganz vergessen, was für eine wundervolle Farbe ihre Augen hatten. Als Jo einen leisen Pfiff ausstieß, errötete Alice.

»Das soll ich dir geben. Fröhliche Weihnachten.« Er hielt ihr ein kleines eingewickeltes Päckchen hin, das Alice erfreut öffnete. Es war eine Flasche L’air du Temps.

»Der liebe Joker. Ein bisschen Duft kann mir hier nicht schaden. Danke.« Sie lächelte froh. »Wir sind gerade beim Mittagessen. Komm doch rein, vom Nachtisch ist noch etwas da.«

»So lange kann ich nicht bleiben. Ich muss einen Arzt abholen, der Weihnachten bei der Familie seiner Frau auf der Lochlans-Farm verbringt«, erwiderte Jo. »Eigentlich wollte ich dich fragen, ob du vielleicht Lust auf einen kleinen Ausflug hast.«

»Mit der neuen Maschine? Sehr gerne.« Alice strahlte vor Aufregung. Alle hatten von dem neuen Flugzeug des fliegenden Ärztenotdienstes gehört, das vor kurzem aus Amerika geliefert worden war.

»So neu ist sie nun auch nicht mehr. Seit ich sie mitgebracht habe, hat sie schon einiges vom Land gesehen.«

»Du hast sie selbst abgeholt? Du Glückspilz!«, rief Alice neiderfüllt aus. »Komm und lerne meine Familie kennen. Außerdem muss ich mir noch etwas Passenderes anziehen.«

Nachdem Alice alle einander vorgestellt hatte, meinte Bea: »Die Lochnans-Farm liegt hinter Wangianna. Könntest du vielleicht Stewarts Weihnachtsgeschenk abgeben, da sie ja nicht hergekommen sind?« In ihrem Lächeln schwang ein wenig Enttäuschung mit.

»Wird gemacht«, erwiderte Jo.

»Dann kann ich Robert auch seine neue Pumpe mitbringen«, meinte Alice. »Die liegt schon seit zwei Wochen bei mir im Auto herum.« Sie lief los, um sich umzuziehen. Zehn Minuten später fuhren sie und Jo zum Flugplatz.

»Eine schicke Kiste«, sprach Alice ins Bordmikrofon, als sie in der Luft waren. Sie rückte den Kopfhörer zurecht und schob das Mikrofon in die richtige Stellung. Die Maschine war mit den neuesten Instrumenten ausgestattet und verfügte auch über eine Notfallausrüstung für schwer verletzte Passagiere, sodass es im Inneren eher wie in einer Intensivstation aussah.

»Und sie fliegt wie ein Vögelchen«, antwortete Jo. »Versuch es mal.«

Alices Puls beschleunigte sich, als sie auf tausend Meter Höhe das Steuer übernahm. In der letzten Zeit hatte sie das Gefühl gehabt, am Boden festzukleben und nichts weiter zu tun als zu planen, zu kalkulieren, Zahlen zu addieren und bis spät in die Nacht über wissenschaftlichen Fragen zu brüten, von denen sie nicht sicher war, ob sie sie überhaupt jemals würde klären können.

Nun schienen alle Probleme meilenweit entfernt, als sie immer höher in den Himmel emporstieg. Es gab es also wirklich, dieses mit nichts anderem zu vergleichende Gefühl der Freiheit und des Glücks, das sie schon fast vergessen geglaubt hatte! Sie war erstaunt, wie leicht ihr das Fliegen immer noch fiel. Wenn sie diesen Moment nur mit einem Menschen hätte teilen können, den sie liebte, dachte sie wehmütig und warf einen raschen Seitenblick auf den Mann, der neben ihr saß. Seit ihrer Scheidung von Teddy waren inzwischen vier Jahre vergangen, und manchmal drohte die Einsamkeit sie zu überwältigen.

»Es hat mir Leid getan, von deiner Scheidung zu hören«, sagte Jo, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Außerdem begreife ich nicht, warum nicht irgendein Glückspilz dich längst weggeschnappt hat.« Alice lachte auf. »Ich war zu sehr mit dem Aufbau von MerryMaid beschäftigt, um an eine Ehe zu denken«, erwiderte sie rasch.

»Flieg ein bisschen weiter nach Westen.« Alice gehorchte. »Ich hab von deiner Farm gehört. Nicht schlecht für vier Jahre. Der Buschtelegraf funktioniert noch wie eh und je.«

»Ich bin auch ganz zufrieden damit«, antwortete Alice, der es einen Heidenspaß machte, die große Maschine zu steuern.

»Und es gibt wirklich noch keinen Anwärter?«

»Nein.«

»Kaum zu fassen. Glaubst du, ich könnte mir Chancen ausrechnen?«

»Wenn du mir versprichst, dass ich für den Rest meines Lebens jeden Tag diesen Vogel hier fliegen darf, bin ich zu jeder Schandtat bereit«, witzelte Alice.

Sie plauderten weiter, bis die Farm der Lochlans in Sicht kam und Jo ihre Landung per Funk ankündigte. Da sie nicht riskieren durften, in die Dunkelheit zu geraten, hielten sie sich nicht lange auf, sondern holten nur den Arzt ab und starteten, diesmal mit Jo am Steuer, sofort wieder in Richtung Wangianna. Als Alice eine halbe Stunde später Funkkontakt aufnahm, meldete sich die Köchin.

»Sie halten gerade einen Familienrat ab, Miss Alice, aber Mr. Holt hat den Flugplatz erst gestern benutzt. Also müsste alles in Ordnung sein.«

»Danke«, erwiderte Alice und zeigte Jo, wo er landen konnte.

»Alles fertig machen zur Landung«, verkündete Jo, setzte die Maschine sanft auf der fest gestampften Piste auf. Als er sie weiterrollen ließ, wirbelte er eine Staubwolke auf. »Ein Prachtstück«, meinte er kichernd, während er das Flugzeug zum Stehen brachte.

»Gute Landung, alter Junge«, sagte der Arzt, der in der Passagierkabine saß.

»Ihr braucht bei dieser Hitze nicht draußen herumzulaufen. Zum Haus ist es nicht weit. Ich gebe nur die Pumpe ab und komme gleich wieder«, sagte Alice, die wusste, dass die beiden Männer sofort aufbrechen wollten, und setzte ihren Hut auf.

Beim Aussteigen schlug ihr heiße Luft entgegen. Sie ließ Jo und den Arzt im verhältnismäßig kühlen Flugzeug zurück und eilte zum Haus hinüber. Ihr wurde flau, als sie die hoch gewachsene Gestalt bemerkte, die auf sie zukam. Diese stolze Haltung hätte sie überall wiedererkannt. Es war Elizabeth McIain. Nie hatte Alice die Herablassung vergessen, mit der Elizabeth sie vor so vielen Jahren behandelt hatte. Dennoch schritt Alice weiter aus und machte sich innerlich auf eine Auseinandersetzung gefasst. Gerade ging Elizabeth an einem großen Eukalyptusbaum auf der Weide hinter dem Haus vorbei, als sie plötzlich die Hand ausstreckte, um sich am Baumstamm festzuhalten. Doch sie griff ins Leere und sackte in sich zusammen. Noch ehe sie den Boden berührte, stürzte Alice auf sie zu und war sofort bei ihr. Sie legte die Pumpe und Stewarts Geschenk beiseite und rüttelte die Besinnungslose an den Schultern.

»Mrs. McIain, ich bin es, Alice. Alice Ferguson. Können Sie mich hören?«, rief sie. Sie fühlte sich seltsam, als sie ihren Mädchennamen aussprach.

Elizabeths Lider flatterten, und sie schlug mühsam die Augen auf. »Sie haben sie aufgeteilt«, stieß sie hervor. Dann schlossen sich ihre Augen wieder. Rasch überlegte Alice, ob sie zum Haus oder besser zurück zum Flugzeug laufen sollte, und entschied sich für Letzteres.

»Alles wird gut, Mrs. McIain«, versprach sie. »Ich hole Hilfe.« Elizabeth stöhnte. Nachdem sie Elizabeth ein Stückchen in den Schatten gezogen hatte, rannte Alice zum Flugzeug. Jo kam ihr auf halbem Wege entgegen.

»Es ist etwas mit Mrs. McIain. Sie ist ohnmächtig geworden«, keuchte Alice. Sie war hochrot im Gesicht und schwitzte. »Keine Ahnung, was ihr fehlt. Sie ist ganz blass. Hast du einen Schluck Wasser da?«

Jo reichte ihr einen Becher, den sie rasch austrank, während er bereits das Haus anfunkte. Der Arzt griff nach seiner Tasche, und dann eilten sie gemeinsam zurück zu Elizabeth. Als sie ankamen, hatte Elizabeth das Bewusstsein schon wiedererlangt, lag stöhnend da und hielt sich den Bauch. Ihr Atem ging stoßweise. Der Arzt untersuchte sie gerade, als Robert und Ian im Landrover angebraust kamen. Jo folgte ihnen kurz danach.

»Sie leidet an Hitzschlag und Austrocknung«, erklärte der Arzt. »Wir müssen sie sofort ins Haus bringen.«

Vorsichtig hoben Robert und Jo Elizabeth in den Landrover. Alice setzte sich neben sie und versuchte so gut wie möglich, sie vor Erschütterungen zu schützen, während Robert langsam zurück zum Haus fuhr. Im Luftzug des großen Ventilators im Wohnzimmer untersuchte der Arzt sie noch einmal gründlich und vergewisserte sich, das er nichts übersehen hatte. Dann verordnete er ihr kleine Schlucke Zuckerwasser. Alice tupfte ihr die schweißnasse Stirn und die Arme mit einem feuchten Schwamm ab, während die Köchin ein in ein Geschirrtuch gewickeltes Päckchen Gefriererbsen in eine provisorische Eispackung für ihren Bauch verwandelte. Die anderen warteten ängstlich vor der Tür.

Katie, die alles verabscheute, was mit Krankheiten zu tun hatte, holte kühle Getränke für alle, stellte Elizabeth einen großen Wasserkrug hin und floh dann rasch aus dem Zimmer. Als Elizabeths Körper langsam abkühlte und die Krämpfe nachließen, wich auch die geisterhafte Blässe aus ihrem Gesicht.

»Bald sind Sie wieder wie neu, Mrs. McIain«, meinte der Arzt schließlich. »Sie brauchen nur viel Ruhe und müssen unbedingt genug trinken.«

»Ich muss auch los«, sagte Alice entschuldigend.

Elizabeth schlug die Augen auf und griff nach Alices Hand. »Danke, mein Kind«, flüsterte sie. Alice lächelte und erwiderte den Händedruck. Dann folgte sie dem Arzt hinaus.

»Mrs. McIain leidet an akutem Stress, Erschöpfung und Austrocknung«, erklärte der Arzt der übrigen Familie, die sich schweigend um ihn scharte. »Hat sie in letzter Zeit etwas Schreckliches erlebt?« Robert erwiderte nur, es gebe momentan einige finanzielle Schwierigkeiten, sagte aber nicht mehr. Alle anderen wichen seinem Blick aus. »Wir dürfen nicht vergessen, dass sie vor kurzem ihren Mann verloren hat«, fuhr der Arzt fort. »Es könnte eine verzögerte Reaktion sein. Soweit ich weiß, kam sein Tod völlig unerwartet. Oft brauchen nahe Angehörige eine Weile, um sich damit abzufinden. Ich glaube nicht, dass ein Krankenhausaufenthalt nötig ist, aber sie muss absolute Ruhe und ausreichend Flüssigkeit bekommen und darf sich nicht überanstrengen.« Er gab Robert ein Rezept und ein kleines Fläschchen mit Tabletten. »Sie soll zwei Wochen lang zwei Mal täglich eine davon nehmen und dann ihren Hausarzt aufsuchen.«

»Komm, altes Mädchen, jetzt kriegst du noch was zu trinken.« Jo legte Alice, die zerzaust und verschwitzt aussah, lässig den Arm um die Taille.

»Sie wird die Tabletten niemals schlucken«, sagte Robert, als er Alice, Jo und den Arzt nach einer Runde kalter Getränke zurück zum Flugzeug fuhr.

»Stopp! Deine Pumpe und Stewarts Geschenk!«, rief Alice aus, als sie am Eukalyptusbaum vorbeikamen. Robert zuckte erschrocken zusammen und trat so ruckartig auf die Bremse, dass sie alle nach vorne geschleudert wurden. »Tut mir Leid!«, entschuldigte sich Alice. Schnell sprang sie aus dem Fahrzeug und lief zu den liegen gebliebenen Päckchen hinüber. Robert folgte ihr langsam.

»Was ist denn bei euch los?«, fragte Alice, während sie ihm die Pumpe gab. Die angespannte Stimmung in der Familie war nicht zu übersehen gewesen. »Elizabeth lässt sich doch sonst nicht so leicht aus der Ruhe bringen, und die Luft im Haus war zum Schneiden. Das lag nicht nur an deiner Mutter.« Obwohl Robert die Achseln zuckte, merkte Alice ihm an, wie unglücklich er war.

Als Jo bemerkte, dass die beiden ins Gespräch vertieft waren, rief er: »Wir gehen zu Fuß zum Flugzeug. Es ist ja nicht weit. Aber beeilt euch.«

»Wird gemacht«, erwiderte Alice, drehte sich erneut zu Robert um und schlug nach einer Fliege. »Also?« Er stand gebeugt da wie ein alter Mann.

»Du schaffst es immer, die Wahrheit aus mir herauszulocken. Und außerdem wirst du es ohnehin bald erfahren.« Es bereitete ihm sichtlich Mühe, die nächsten Worte auszusprechen. »Wir teilen Wangianna auf. Nächste Woche haben wir einen Termin beim Anwalt.« Er wirkte so verzweifelt, dass Alice den Anblick kaum ertragen konnte. Ohne nachzudenken, ließ sie die Pumpe fallen und umarmte ihn.

»Oh, Robert, es tut mir ja so Leid.« Ihre Lippen streiften seine Wange, und dann wirbelten ihre Gefühle wild durcheinander, als sie spürte, wie er die Arme um sie schlang und sie fest an sich zog. Er roch so wundervoll wie eine heiße Sommernacht.

»Alice«, stöhnte er.

In ihrem Kopf drehte sich alles, und ihr wurden die Beine weich, als er sie auf den Mund küsste. Ihr schwindelte, und sie wollte sich losmachen, aber er küsste sie immer weiter. Wellen der Verzückung stiegen in ihr auf, als sie das warme, weiche Gefühl von seinen Lippen auf ihren genoss und seinen Kuss erwiderte. Ihre Liebe erwachte von neuem, und Alice konnte es nicht länger leugnen. Während sie ihren Mund auf seinen presste, wurde ihr klar, dass sie es schon immer gewusst hatte. Von dem Moment an, als sie vor so vielen Jahren zum ersten Mal in seine wunderschönen samtig braunen Augen geblickt hatte, war sie ihm verfallen gewesen und hatte niemals aufgehört, ihn zu lieben. Verglichen mit dem Rausch des Verlangens, den die Liebe zu diesem Mann in ihr auslöste, waren ihre Gefühle für Teddy nur lauwarm gewesen. Es war eine Liebe, der sie nicht entrinnen konnte – und auch gar nicht entrinnen wollte. Sie ließ sich in seine Umarmung sinken.

Robert drückte Alice fester an sich, schnupperte den Duft ihrer Haut, an den er sich noch so gut erinnerte, und verspürte die zärtliche Sehnsucht, die er so mühsam zu vergessen versucht hatte. Seine Finger gruben sich in ihren wilden Haarschopf, er küsste ihre weichen, sinnlichen Lippen, und er konnte sich endlich eingestehen, wie viel Liebe er für sie empfand. Er hatte sich etwas vorgemacht, als er geglaubt hatte, seine Gefühle verdrängen zu können. Seit der ersten Begegnung mit Alice ließ diese Liebe ihn nicht mehr los, und sie würde ihn bis ins Grab und darüber hinaus verfolgen. Als er sie immer inniger küsste, vergaß er Zeit und Raum und wusste nicht mehr, wo sein Körper aufhörte und ihrer anfing. Es zählte nur, dass er sie liebte und sie in seinen Armen lag.

»Robbo!«, drang plötzlich Katies schrille Stimme an ihr Ohr.

Entsetzt über das, was sie gerade zugelassen hatte, wich Alice zurück.

Katie knallte die Autotür zu und näherte sich, zwei kleine Päckchen in der Hand und mit hasserfülltem Blick.

»Ich habe vergessen, dir die Geschenke für deine Kinder zu geben, aber offenbar hast du es auf mehr abgesehen«, zischte sie.

»Es war nicht so, wie du glaubst«, stammelte Alice benommen.

»Alice wollte mich nur trösten, weil Wangianna aufgeteilt wird«, erklärte Robert, der nach dem Kuss noch immer weiche Knie hatte. Selbst für ihn klang die Ausrede reichlich an den Haaren herbeigezogen.

»Guter Versuch, Alice, aber damit kannst du niemanden täuschen«, höhnte Katie. »Wir beide wissen, dass du es nie aufgegeben hast, seit du wieder hier bist. Ständig spionierst du uns nach und drückst dich hinter meinem Rücken herum. So, und jetzt sage ich es dir ins Gesicht: Lass meinen Mann in Ruhe, du dreckige kleine Schlampe. Ich dachte, deine Affäre mit Fraser, dem armen Trottel, hätte genügt, um deinen unersättlichen Appetit zu stillen, ganz zu schweigen von diesem Piloten, der offenbar die Finger nicht von dir lassen kann.«

Peinlich berührt und wütend auf ihre eigene Unüberlegtheit, wünschte Alice nur, sie hätte Roberts Kuss nicht so genossen. Stumm vor Traurigkeit, floh sie zum Flugzeug, wo Jo bereits den Motor angeworfen hatte.

»So sieht es also aus, wenn Andy aufgibt und wir gewinnen!«, kreischte Katie, außer sich vor Wut. Sie schleuderte die Geschenke für Vicky und Ben zu Boden und zertrat sie eines nach dem anderen.

Robert vernahm das Splittern des Puppenkopfes und des kleinen Plastikbusses wie aus großer Ferne.

Katie stieß die Scherben mit dem Fuß in seine Richtung. »Warum läufst du der Nutte nicht nach und gibst sie ihr?«, brüllte sie. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und stürmte zum Auto.

Robert wusste nicht, wo er hinschauen sollte. Er hätte es nie zulassen dürfen. Doch die Freude, die er in Alices Armen empfunden hatte, hatte seinen ganzen Körper zum Erbeben gebracht. Langsam bückte er sich und hob mit zitternden Händen die zerschmetterten Spielsachen auf. Wie hatte er nur so dumm sein können. Er hatte gewonnen und gleichzeitig verloren. Aber wie groß war dieser Verlust eigentlich? Erst ein Mal zuvor hatte er in Katies Augen einen solchen Hass gesehen. Hatte er die Frau, die er liebte, endlich zurückerobert, nur um dafür seinen Sohn und womöglich sogar sein Erbe zu verlieren?