Kapitel elf
Alice hatte Schmetterlinge im Bauch, als sie auf Jokers Anwesen zugaloppierte. Trotz des ungewöhnlich kühlen April-morgens schwitzte sie bereits, und sie umklammerte die Zügel fester als gewöhnlich. Die letzten Monate waren die längsten in ihrem Leben gewesen. Selbst als sie endlich wieder die Erlaubnis gehabt hatte zu fliegen, war immer wieder etwas dazwischengekommen. Doch heute sollte ihr erster Soloflug stattfinden.
Sie rutschte auf Sherrys Sattel zurecht und vergewisserte sich, dass das Logbuch wohlbehalten in ihrer Jeanstasche steckte. Dann klopfte sie zum wohl Tausendsten Mal auf ihre Brusttasche, wo der so oft gelesene Brief von Ben beruhigend knisterte. Ben war ein seltsamer Junge. In den letzten beiden Jahren waren sie einander wieder näher gekommen. Ben änderte sich von Minute zu Minute. Er konnte ausgelassen mit den Zwillingen herumtollen, und dann war er wieder ernst und nachdenklich und schrieb Gedichte. Sie konnte kaum fassen, dass er bald vierzehn werden würde. Lächelnd dachte sie daran, wie überrascht sie gewesen war, als sie ihm spontan von einem Traum erzählt hatte. Anstatt sie zu hänseln, hatte er sie bewundernd angesehen. Am nächsten Tag hatte sie auf ihrem Kopfkissen den Brief und ein winziges Sträußchen cremefarbener Strohblumen gefunden und Tränen gelacht, als sie seine unbeholfenen Versuche in der Dichtkunst las.
Werd nicht zu
schnell erwachsen
Werd nicht zu schnell groß
Dann bleiben wir zusammen
Und ziehen in ein Schloss
PS: Irgendwie ging das mit dem Reim nicht richtig auf. Tut mir Leid. Alles Liebe, Ben.
Dieses Gedicht war ihr Talisman geworden, und sie hoffte, dass es ihr heute wieder Glück bringen würde. Sie konnte sehen, wie die Cessna funkelnd in der Morgensonne auf Jokers Startbahn stand und darauf wartete, dass sie ihren ersten Soloflug absolvierte. Rasch setzten Pferd und Reiterin den Weg fort. Nachdem Alice von Sherrys seidenweichem Rücken geklettert war, sperrte sie sie in ihre übliche Koppel.
»Wünsch mir Glück«, flüsterte sie. Sherry schnaubte, als Alice in den Hangar zu ihrem Lehrer eilte. Unterwegs band sie ihr störrisches schwarzes Haar wieder zusammen, das sich aus dem Gummiband gelöst hatte. Über ihr schwebte eine einsame Krähe.
»Bereit für deinen ersten Soloflug?«, begrüßte sie Joker. Alice grinste ihn an.
Als die nötigen Überprüfungen durchgeführt waren und Alice die letzten Anweisungen erhalten hatte, stieg sie ins Flugzeug. Sie hatte damit gerechnet, nervös oder zumindest aufgeregt zu sein, doch die Routine beruhigte sie. Sie hatte keine Mühe, sich sämtliche Abläufe ins Gedächtnis zu rufen, inzwischen waren sie ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Ihr Start war nahezu perfekt. Als sie die Maschine über den Flugplatz rollen ließ, war es nicht anders als in einer ganz gewöhnlichen Flugstunde. Sie vermutete, dass es sich bei den winzigen Gestalten, die inzwischen vor dem Hangar standen, um Joker und die übrigen drei Fluglehrer handelte. Erst als sie nach der vorgeschriebenen Zeit wieder zur Landung ansetzte, wurde ihr klar, was sie tat. Kurz ließ ihre Konzentration nach, sodass die Spitze der rechten Tragfläche durch eine plötzliche Turbulenz hochgezogen wurde. Doch schon einen Sekundenbruchteil später war Alice wieder ganz bei der Sache, und sie hörte im Geiste die Anweisungen ihres Fluglehrers wie eine schon tausendmal abgespielte Schallplatte.
Die Landung war nicht unbedingt die sanfteste, und als sie auf den Hangar zurollte, zitterte sie wegen der plötzlich nachlassenden Anspannung am ganzen Leib. Nachdem sie knapp vor Jokers Füßen gebremst hatte, schnallte sie sich los, öffnete die Tür und sprang hinaus auf den Asphalt. Sie war ganze sechs Minuten in der Luft gewesen. Sofort stürzte sie zu Joker, fiel ihm um den Hals, drückte ihn, sodass er fast keine Luft mehr bekam, und küsste ihn auf beide Wangen.
»Ich habe es geschafft! Ich habe es geschafft! Ich kann es noch gar nicht fassen! Mein erstes Solo. Ich dachte, das würde ich nie hinkriegen!«, rief Alice aus. Ihre Augen leuchteten und sie strahlte übers ganze Gesicht. Joker packte sie an den Schultern und schüttelte sie.
»Ich habe dir schon von Anfang an gesagt, dass du für dein Alter die beste Pilotin bist, die mir je untergekommen ist. Wenn du die Landung nicht vermurkst hättest, wäre es ein ganz normaler Flug gewesen. Sie ist die Allergrößte, richtig, Jungs?« Er wandte sich an die drei Fluglehrer, die Alices Flug ebenfalls beobachtet hatten. »Aber werd nicht übermütig, du musst immer noch deinen Pilotenschein machen, und dein Onkel verlangt, dass du ihn selbst bezahlst.« Er zwinkerte ihr zu und tätschelte ihr väterlich den Kopf. »Und wo ist dein Logbuch?« Alice reichte Joker das Logbuch und umarmte dann die drei Fluglehrer. Sie konnte einfach nicht stillstehen, während er es ausfüllte und ihr zurückgab.
»Und jetzt lauf los in dein Krankenhaus. Wir wollen ja nicht, dass du deinen neuen Job gleich wieder verlierst.«
»Vielen, vielen Dank«, jubelte Alice voller Stolz und sah die vier Männer an. »Ich liebe euch alle.« Ihre Begeisterung war ansteckend. Nachdem sie Joker noch einmal umarmt hatte, warf sie ihr pechschwarzes Haar zurück, das wieder aus dem Gummiband gerutscht war. Sie pfiff nach Sherry, ritt davon und ließ die Männer allein zurück.
»Die nächsten drei Stunden gehen auf meine Rechnung«, rief Joker ihr noch nach, aber sie war bereits außer Hörweite. Dann grinste er den Männern verlegen zu. »Das wäre ein Mädchen zum Verlieben.« Der jüngste Fluglehrer errötete heftig.
»Ich bin solo geflogen, Sherry. Mein erster Soloflug. Ich kann es nicht erwarten, es Ben und Tante Bea zu erzählen«, jauchzte Alice.
Sie war immer noch aufgeregt, als sie auf Sherrys Rücken über die holperige Straße galoppierte. Ben würde sich freuen. Während sie immer mehr über das Land und die Viehzucht erfahren wollte, beobachtete sie zu ihrer Freude, wie fasziniert Ben von Motoren und von Technik war, was ihn auch Onkel Ray näher gebracht hatte. Doch nur er konnte verstehen, wie viel der heutige Erfolg für sie bedeutete. Ein Teil ihres Traums war in Erfüllung gegangen.
»Pass auf, Queensland, ich komme!«, rief sie glücklich aus.
Sherry scheute, als ein Schwarm rosafarbener Kakadus aufflog, und Alice wurde jäh in die Wirklichkeit zurückgeholt. Sie zügelte das Pferd und sah nervös auf die Uhr. Wenn sie noch rechtzeitig zu ihrer Schicht in der Küche des städtischen Krankenhaus kommen wollte, musste sie sich ganz schön sputen. Die Oberschwester war eine Pedantin, die keine Schlamperei duldete und Unpünktlichkeit und Unachtsamkeit verabscheute. Alice war bereits ein Mal verwarnt worden. Wenn sie zum zweiten Mal zu spät kam, würde sie sich nach einer anderen Stelle umsehen müssen. Im nächsten Jahr, wenn sie ihren Schulabschluss in der Tasche hatte, wollte sie sich in Dubbo für einen Lehrgang in Tierzucht anmelden. Doch bis dahin war sie trotz der strengen Oberschwester froh über ihre Arbeit als Küchenhelferin. Sie entschied sich, die Abkürzung durch das Gebüsch und über den Fluss zu nehmen. Beim letzten Mal hatte sich der Weg dadurch um eine Viertelstunde verkürzt. Da es in den vergangenen Monaten kaum geregnet hatte, führte der Fluss sicher nicht viel Wasser.
Bald stellte sich heraus, dass sie Recht gehabt hatte. Obwohl sie absteigen und die nervöse Sherry durch das Wasser locken musste, lag sie gut in der Zeit. Nass bis zur Taille, sprang sie wieder auf Sherrys Rücken und trieb sie zu einem schnellen Galopp an. In diesem Tempo würde sie es sicherlich rechtzeitig schaffen. Alice achtete nicht darauf, dass die nassen Jeans ihr die Schenkel wund scheuerten, und ließ ihren wundervollen Soloflug noch einmal Revue passieren. So sehr war sie in ihre Erinnerungen versunken, dass sie den herunterhängenden Ast zu spät bemerkte. Die Wucht des Aufpralls riss sie von Sherrys Rücken, während das Pferd weitergaloppierte. Um sich abzustützen, streckte sie den rechten Arm aus. Schmerz durchfuhr sie. Dann verlor sie die Besinnung.
Robert McIain, Erbe der berühmten Merinofarm Wangianna, ritt fröhlich pfeifend durch das Gebüsch in Richtung Fluss. In einer Hand hielt er die quer über dem Sattel liegende Büchse. Die letzten beiden Tage war er das gewaltige Gelände abgeritten, das sich viele Hundert Kilometer weit über die fruchtbaren schwarzen Ebenen von Neusüdwales erstreckte, um die Zäune zu kontrollieren und nach versprengten Schafen zu suchen.
Mit seinen zwanzig Jahren hatte sich Robert von dem mageren Bengel, der er bis in seine Teenager-Jahre gewesen war, zu einem kräftigen und gut aussehenden jungen Mann entwickelt. Eindringlich dreinblickende braune Augen leuchteten aus einem offenen und freundlichen Gesicht, das von der vielen Arbeit im Freien auf dem Anwesen der Familie sonnengebräunt war. Das flammend rote Haar, das ihm als Kind den Spitznamen Bluey eingebracht hatte, war zu einem leuchtenden Kastanienbraun verblasst und verschwand momentan unter einem breitkrempigen Hut. Die aufgekrempelten Ärmel seines blauen Arbeitshemdes gaben gebräunte, muskulöse Unterarme frei. Er trug es offen bis zur Brust und lässig in eine abgetragene Arbeitshose gesteckt. Die braunen Arbeitsstiefel steckten locker in den Steigbügeln. Robert kratzte sich an der Brust.
Es war schön, endlich einmal Pause zu haben. Baumstümpfe zu roden war Knochenarbeit. Zum Teufel mit dem Geländewagen! Er war fest entschlossen, die verdammte Schrottlaube in die Luft zu sprengen, wenn er noch einmal einen Blick unter die Motorhaube würde werfen müssen. Dennoch hatten sie in der vergangenen Woche viel geschafft, so dass er sich ein paar Tage Abstand gönnen konnte. Das Abreiten des Besitzes war zwar eine langwierige Angelegenheit, aber Robert empfand es als weniger anstrengend. Mein Gott, wie sehr er an Wangianna hing: dem großen, lang gestreckten Haus, in dem er geboren worden war. Ringsherum verlief eine breite Veranda, und das Gebäude war von einem sorgfältig gepflegten Garten umgeben. Hundertjährige Gummibäume schützten das Haus, die Wollschuppen und die Unterkünfte der Farmarbeiter vor der sengenden Sonne. Doch am allermeisten liebte Robert das Land, dessen scharfe Kontraste er als besonders schön empfand. Er hatte diese Liebe von seinem Großvater und seiner Mutter geerbt, und er war stolz darauf, in vierter Generation Erbe einer Familie zu sein, die mit leeren Taschen quer über den Erdball gezogen war, um hier im unberührten Busch eine Hütte zu bauen und sie zur berühmtesten Merinozucht Australiens zu machen.
Robert schob sich den Hut aus dem Gesicht und hielt Ausschau, ob sich im Busch etwas bewegte. In dieser Gegend wimmelte es von Wildschweinen, sodass er sicher eines erlegen würde, um es heute Abend über dem Lagerfeuer am Spieß zu braten. Seine Miene hellte sich auf, als er im dürren gelben Gras ein Riesen-Waldschwein, das größte Wildschwein überhaupt, entdeckte. Begeistert brachte er sein Pferd zum Stehen und legte an. Doch bevor er das Schwein ins Visier bekam, wurde es offenbar von etwas aufgeschreckt und flüchtete ins Gebüsch. Verärgert ließ er die Waffe sinken. Jedenfalls bedeutete die Gegenwart dieses Ungeheuers mit den bösartig glitzernden Augen, dass er auf der richtigen Spur war. Sicher gab es hier noch mehr dieser Tiere, die ziemlich gefährlich werden konnten, wenn sie einen mit ihren Hauern angriffen. Allerdings gaben die Schweine einen ausgezeichneten Braten ab. Er rückte seinen Hut zurecht, trieb sein Pferd an und folgte dem Pfad, auf dem das Schwein verschwunden war.
Alice hatte keine Ahnung, wie lange sie besinnungslos gewesen war, und wusste auch nicht, warum sie überhaupt auf dem Boden lag. Sie spürte nur einen heftigen pochenden Schmerz im Kopf und im Arm und bemerkte im nächsten Moment, dass Sherry verschwunden war. Voller Angst, der Stute könnte etwas zugestoßen sein, setzte sie sich zu rasch auf, sodass ihr schwindelig wurde und sie sich wieder hinlegen musste. Doch zu ihrer Erleichterung kam Sherry, die ganz in der Nähe gegrast hatte, auf sie zu, stupste sie mit ihren warmen Nüstern an und pustete ihr sanft ins Gesicht. Vorsichtig setzte sie sich wieder auf und versuchte, das Schwindelgefühl und den heftigen Schmerz in ihrem Arm zu ignorieren.
»Alles in Ordnung, Sherry, altes Mädchen. Ganz ruhig.« Sherry wartete geduldig und schien die missliche Lage ihrer Herrin zu erspüren. Übelkeit stieg in Alice hoch, und sie befürchtete schon, sie würde wieder in Ohnmacht fallen. Zehntausend Hämmer droschen auf ihren Schädel ein, und sie war ziemlich sicher, dass sie sich das Handgelenk gebrochen hatte. Wenn es ihr gelang, auf Sherrys Rücken zu klettern, war sie gerettet. Sherry würde sie beide nach Hause bringen. Sie biss sich auf die Unterlippe, um den Schmerz zu unterdrücken, und versuchte erneut aufzustehen. Den rechten Arm an den Körper gepresst, zog sie sich langsam auf die Knie und stützte sich gegen Sherrys kräftige Flanken. Die Stute knabberte an ihrem Ohr.
»Ganz ruhig, mein Mädchen, ganz ruhig«, keuchte Alice. Fast hatte sie es geschafft. Doch als sie ihren Fuß belastete, schrie sie wieder auf. Oh, nein, nicht auch noch der Knöchel!
Tränen traten ihr die Augen. Fest entschlossen hüpfte sie auf einem Bein weiter, lehnte sich schwer an Sherry und überlegte, wie sie sich trotz der Schmerzen in den Sattel hieven sollte. Da brach plötzlich schnaubend und grunzend ein Wildschwein aus dem Gebüsch hervor. Trotz ihrer Benommenheit bemerkte Alice, dass es genau auf sie zulief. Ihr Aufschrei übertönte den Schuss, und das Herz klopfte ihr bis zum Halse. Als Sherry vor Schreck durchging, stürzte Alice ins Leere.
»Was bilden Sie sich eigentlich ein, in einer Gegend, wo es von Wildschweinen wimmelt, vom Pferd zu fallen? Sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Wenn Sie nicht reiten können, sollten Sie es bleiben lassen.«
Der schreckliche Schmerz raubte Alice den Atem. Als sie sich umdrehte, blickte sie in eindringliche braune Augen, die ihr aus einem unverschämt attraktiven Gesicht entgegenleuchteten. Ihr Retter stand verärgert und die Büchse in der Hand vor ihr.
»Sherry! Was haben Sie mit Sherry gemacht?«, rief sie, als sie seine Waffe bemerkte. Mühsam versuchte sie sich aufzurappeln, doch es war vergeblich; ihr Magen zog sich zusammen. Der junge Mann kniete sich zu ihr, und im nächsten Moment war sein Ärger verraucht.
»Nur mit der Ruhe. Tut mir Leid, ich wollte Sie nicht anbrüllen. Ich war nur so erleichtert, dass Sie sich nichts getan haben.«
Als sie etwas erwidern wollte, musste sie sich übergeben. Verlegen griff sie nach dem angebotenen Taschentuch und spürte erleichtert die angenehm kühlen Finger ihres Retters an ihren pochenden Schläfen, als er ihr den Kopf hielt.
»Sherry? Ist das Ihr Pferd?«, fragte ihr Retter und legte ihr den Arm um die Schulter. Alice nickte, während sie sich, das Taschentuch immer noch vor den Mund haltend, verzweifelt umsah.
»Sie steht gleich da drüben. Festgebunden neben meinem.« Beruhigt ließ sich Alice in die Arme ihres Retters sinken, hielt ihren gebrochenen Arm und versuchte, nicht auf den dumpfen Schmerz zu achten. Da fiel ihr das Wildschwein ein. Als sie den Kopf hob, bemerkte sie zu ihrem Entsetzen, dass das tote Tier nur wenige Meter entfernt von ihr lag.
»Genau«, meinte Robert streng. »Diese Biester sehen zwar nicht sehr bedrohlich aus, aber sie können einen Menschen regelrecht aufschlitzen. Wundert es Sie da, dass ich Sie angeschrien habe?« Ihre Gesichtsfarbe gefiel ihm ebensowenig wie die dicke Beule auf ihrer Stirn. Obwohl sich Alice über seine Vorwürfe ärgerte, fühlte sie sich zu elend, um mit ihm herumzustreiten.
»Sie sehen ziemlich übel aus«, fuhr Robert fort, »und die Beule am Kopf ist auch kein hübscher Anblick. Sie könnten eine Gehirnerschütterung haben. Am besten bringen wir Sie nach Hause. Können Sie sich bewegen?« Als er Alice aufhelfen wollte, zuckte sie zusammen.
»Ich glaube, ich habe mir den Arm gebrochen«, flüsterte sie, und ihr war immer noch übel. »Und mein Knöchel tut scheußlich weh.« Das Sprechen fiel ihr so schwer, dass ihr schon wieder schwummerig wurde.
»Lassen Sie mich mal sehen.«
Mit schmerzverzerrtem Gesicht erlaubte ihm Alice, ihre Hand mit schwieligen Fingern zu betasten.
Auf Roberts Gesicht erschien ein leichtes Lächeln, bei dem er blendend weiße Zähne zeigte. »Eigentlich wollte ich dieses Schwein heute Abend am Spieß braten. Aber wenn ich mir Sie so anschaue, werde ich meine Pläne wohl ändern müssen.« Alice betrachtete gebannt sein spöttisches Lächeln und vergaß kurz ihre Schmerzen.
»Da kann man nur eines tun.« Sanft ließ er das kreidebleich gewordene Mädchen wieder zu Boden gleiten. »Ich werde Ihren Arm schienen und Sie dann auf meinem Pferd nach Hause bringen. Halten Sie noch einen Moment durch?«
Alice nickte. Die Welt schien in einem wirbelnden Nebel zu versinken.
Rasch ging Robert zu den grasenden Pferden hinüber, nahm ein Stück Stoff aus seiner Satteltasche und riss es in Streifen. Alice bemerkte kaum, was er tat, als er eine provisorische Schiene anfertigte und ihr den größten Stoffstreifen als Schlinge um den Hals hängte. Nachdem der junge Mann den beiden Pferden die Fußfesseln abgenommen hatte, band er Sherry an sein Pferd und führte die Tiere zu Alice.
»Halten Sie sich fest. Es könnte wehtun.« Alice biss die Zähne zusammen, während der Nebel um sie herum immer dichter wurde. Robert hob sie in seine Arme und setzte sie auf sein Pferd. Die unvermeidliche Erschütterung ließ ihr den Schmerz durch den Körper fahren. Als sie im Sattel saß, stützte er sie mit einem Arm und stieg dann hinter ihr auf.
»Tut mir Leid, das ließ sich nicht vermeiden. Geht es einigermaßen?« Es versetzte es ihm einen Stich ins Herz, als Alice in seinen Armen hin und her schwankte. Vor Schmerz traten ihr die Tränen in die Augen. Sie nickte nur und brachte keinen Ton heraus, und sie hatte Mühe, ihn anzusehen.
»Wie heißen Sie?« Die Frage klang wie aus weiter Ferne.
»Alice. Alice Ferguson«, stieß sie noch hervor, ehe sie erneut in Ohnmacht fiel.
»Alice Ferguson!«, rief Robert aus und hielt das schwankende Mädchen fest. »Doch nicht etwa die Alice von dem Rennen in Come-by-Chance? Kein Wunder, dass sie mir so bekannt vorkam. Sie ist ja noch viel hübscher als auf dem Foto.« Er betrachtete Alice und fühlte sich ein wenig albern, weil er mit sich selbst sprach. Die Verwandlung von dem mageren burschikosen Mädchen, das in der Lokalzeitung abgebildet gewesen war, zu der schönen jungen Frau in seinen Armen war wirklich erstaunlich. Dann riss er sich mit einem ärgerlichen Kopfschütteln aus seinen Tagträumen. Das Mädchen war verletzt, und er musste es nach Hause bringen. Hoffentlich würde Alice während des zweistündigen Heimritts nicht wieder zu Bewusstsein kommen, damit sie nicht so viel spürte. In raschem Schritttempo steuerte er auf Billabrin zu. Sherry, die auf keinen Fall von ihrer Herrin getrennt werden wollte, folgte, ohne Widerstand zu leisten.
Hin und wieder sah Robert nach Alice. Und jedes Mal erschreckten ihn die Gefühle, die das magere Kind, das eine Schönheit geworden war, in ihm auslöste. Sie sah so hilflos aus, wie sie da in seinen Armen lag. Der hässliche Bluterguss auf ihrer Stirn hob sich von der kreidebleichen Haut ab. Ihr pechschwarzes Haar kitzelte die Haut unter seinem offenen Hemd, und ihr weicher warmer Duft brachte seinen Puls zum Rasen. Als er vorsichtig ihre Lage veränderte, um ihren verletzten Arm zu entlasten, bewegte sie sich leicht. Mit besorgter Miene schlug er den schnellsten Weg nach Billabrin ein. Eine Gehirnerschütterung durfte man nicht auf die leichte Schulter nehmen.
Als die Pferde über die großen Weiden trabten, wachte Alice immer wieder auf. Ihr Kopf ruhte an der Schulter ihres Retters, und sein Arm umfasste sie wie ein Schraubstock, damit sie auch ja nicht hinunterfiel. Undeutlich nahm sie seinen männlichen Geruch und den Duft von frisch gewaschener Baumwolle wahr und fragte sich halb im Traum, wer ihr Retter wohl sein mochte. Als sie das Flussufer kurz vor Billabrin erreichten, musste sie sich wieder übergeben. Ihr Mund wurde mit weicher, feuchter Baumwolle abgewischt, und kühle, raue Finger drückten sich an ihre Schläfen, bevor sie wieder in ihrem Dämmerzustand versank. Als sie das nächste Mal erwachte, waren die Pferde stehen geblieben, und ihr Retter rüttelte sie sanft. Sie bewegte sich in seinen Armen und schlug die Augen auf. Sie befanden sich vor dem Haushaltswarenladen ihres Onkels.
»Wohnst du hier, Alice?« Alice nickte schwach. Aber sie konnte einfach nicht klar denken. Mit schmerzverzerrtem Gesicht wollte sie sich aufrichten und spürte, wie sein Arm sie zurückhielt.
»Du solltest stillhalten. Am besten bringen wir dich jetzt rein.« Alice entspannte sich. Obwohl ihr Arm wieder zu pochen begann, machte ihr Herz einen Satz, als sie die zärtliche Besorgnis in seinen dunklen Augen sah. Er stieg ab, hob sie vorsichtig vom Pferd, und Alice spürte, wie sie wieder die Besinnung verlor.
Katie, die Schulferien hatte, kam hinter dem Haus hervor und schlenderte auf sie zu.
»Robert McIain, was machst du da mit meiner Cousine?« Ihr Tonfall veränderte sich, als sie Alice bemerkte, und sie fing an zu rennen. »Alice, was ist geschehen?«
»Sie ist gestürzt, Katie, und hat sich den Arm gebrochen und eine schwere Gehirnerschütterung zugezogen. Ihr müsst sie zum Arzt bringen.«
»Ich hole Mum.«
Wenige Sekunden später kam Bea herbeigeeilt.
»Alice, mein armes Kind. Was ist denn passiert? Bring sie ins Schlafzimmer. Und du, Katie, rufst Dr. Ashton an.«
Vorsichtig legte Robert Alice aufs Bett, wo sie dankbar in die weichen Kissen sank. Bevor sie wieder das Bewusstsein verlor, sah sie noch, wie Robert den Hut abnahm und sich mit den Fingern durch das dichte kastanienbraune Haar fuhr, während er mit Tante Bea sprach.
Langsam ritt Robert nach Hause und versuchte, seine durcheinander wirbelnden Gefühle zu ordnen. Wie hatte er sich nur in Alice verlieben können? Das war doch absolut albern. Bis vor drei Stunden hatte er sie noch gar nicht gekannt, allerdings jede Menge Unschmeichelhaftes über das magere Mädchen gehört, das sich nicht an die Regeln halten wollte. Und nun musste er sich eingestehen, dass die Kleine ihm nicht nur das Hemd voll gekotzt, sondern auch sein Herz erobert hatte. Aber das war doch Unsinn. Nachdrücklich schob er sich den Hut aus der Stirn und zwang sich, nicht an Alice zu denken. Als er sich von den Downings verabschiedet hatte, hatte Katie ihn an Carolines Party erinnert. Vielleicht sollte er hingehen, um sich von diesen kindischen Träumereien abzulenken.
Aber als er auf der Suche nach einer passenden Stelle zum Campieren durch den Wald ritt, musste er ständig daran denken, wie Alice sich an ihn geschmiegt hatte. Wie konnte sich ein Mensch innerhalb eines Jahres so verändern? Ihr Blick war es, der es ihm vor allem angetan hatte. Noch nie hatte er so unbeschreiblich blaue Augen gesehen. Ein Mann konnte sich in ihnen für immer verlieren. Beim bloßen Gedanken daran schlug sein Herz schneller. Es war so schön gewesen, sie auf dem Ritt nach Billabrin in seinen Armen zu spüren. Selbst mit verfilztem Haar und verschwitztem bleichem Gesicht war sie noch wunderschön.
Ärgerlich schüttelte er den Kopf. Er musste verrückt sein, über ein Mädchen nachzugrübeln, das nicht einmal lange genug bei Besinnung gewesen war, um ihn nach seinem Namen zu fragen. Robert war zwar nicht eingebildet, doch seine Freunde zogen ihn ständig auf, weil die Mädchen ihm nachliefen. Sie hänselten ihn, er sei die Partie des Jahrhunderts, obwohl er nicht wusste, warum. Außerdem fragte er sich oft, ob es die Mädchen mehr auf ihn oder auf Wangianna abgesehen hatten. Hätte einer seiner Freunde geahnt, was jetzt in ihm vorging, der ganze Pub hätte gebrüllt vor Lachen. Und zudem hatte sich seine Mutter die Tochter eines wohlhabenden Schafzüchters als neue Herrin von Wangianna ausgeguckt.
Robert zuckte zusammen, als er sich die Reaktion seiner Mutter ausmalte, wenn er Alice mit nach Hause bringen würde. Er konnte ihre Worte schon hören. Absolut unpassend, das Mädchen ist absolut unpassend und darüber hinaus viel zu jung. Wenn du schon in so eine Familie hineinheiraten musst, wozu ich dich nicht ermutigen möchte, käme höchstens Katie in Frage. Wenigstens erhält sie eine richtige Schulbildung. Du darfst nicht vergessen, wer du bist, und musst dir deshalb eine Frau suchen, die nicht nur in der Lage ist Wangianna zu leiten, sondern auch ein Haus führen kann. Darum kannst du nicht einfach jedes dahergelaufene junge Ding heiraten, das an deine Ritterlichkeit appelliert. Welche Schulen hat sie denn besucht? Aus welcher Familie stammt sie? Seine Gedanken gefielen ihm gar nicht, und er schüttelte den Kopf, um sie zu verscheuchen wie eine lästige Fliege. Dann trieb er sein Pferd zur Eile an und steuerte auf eine Stelle am Fluss zu, wo er früher schon einmal campiert hatte.
Zehn Minuten später stieg er ab, legte dem Pferd Fußfesseln an und nahm seine Satteltasche. Wegen der abendlichen Kühle rieb er die Hände aneinander, als er rasch ein Feuer anzündete und in seinem Kessel ein wenig Eintopf erhitzte. Während die Sonne unterging und Dunkelheit sich über das Land senkte, saß Robert reglos da und blickte finster in die Flammen. Er wärmte sich die Hände an seiner Blechtasse, beobachtete die fliegenden Funken und lauschte auf den Busch. Schließlich stand er auf, legte ein weiteres Scheit auf die ersterbende Glut und kroch gähnend in seinen Schlafsack. Lange lag er auf dem Rücken und blickte, hin und her gerissen zwischen Herz und Verstand, in den dunklen samtigen Himmel hinein, wo diamantene Sterne funkelten.
»Vergiss sie, alter Junge«, sagte er sich schließlich, bevor er sich umdrehte und einschlief.
Drei Tage nach Alices Unfall kam Katie mit einem großen Blumenstrauß auf die Veranda. Obwohl die Gehirnerschütterung schwerer gewesen war als zunächst vermutet, schien es Alice bereits ein wenig besser zu gehen. Bea hatte sie vorher mit einem feuchten Schwamm abgetupft, und nun döste sie auf Kissen gestützt vor sich hin. Den Großteil des Tages hatte sie in einem halbwachen Zustand verbracht und immer wieder von Robert geträumt. Ein Kissen lag unter ihrem eingegipsten Arm, der inzwischen in einer sauberen weißen Schlinge hing.
»Ein Geschenk von deinem Verehrer«, säuselte Katie scherzhaft. Alice schlug schlaftrunken die Augen auf.
»Für mich?«, fragte sie erstaunt, und ihre Wangen röteten sich leicht. Mit ihrer gesunden Hand nahm sie den Strauß entgegen und schnupperte den betörenden Duft von Rosen in allen Farben und von herrlichen Orchideen.
»Er hat zwei Mal angerufen, während du bewusstlos warst. Mum hat mit ihm gesprochen«, meldete Katie und beobachtete Alices Freude wie eine Katze, die einen Vogel belauert.
»Wirklich?« Alice strich über die samtigen Blütenblätter einer Rose, und ihr Herz klopfte aufgeregt. »War er wirklich so unbeschreiblich gut aussehend, wie ich ihn in Erinnerung habe, oder habe ich das alles nur geträumt«, fuhr sie leichtfertig fort. »Ich kenne nicht einmal seinen Namen.«
»Ich glaube, das ist auch besser so«, gab Katie zurück.
»Was soll das heißen?«
»Dein Held ist Robert McIain.« Alice sah sie verständnislos an. »Du hast aber ein schlechtes Gedächtnis. Robert McIain ist Bluey, der Bengel, der damals deine Ziege erschossen hat.«
»Das kann nicht sein. Dazu war er viel zu nett«, protestierte Alice.
»Arme Alice, du bist ja so ein Unschuldslamm«, stichelte Katie und weidete sich am Leid ihrer Cousine. »Billy hat es mir erzählt. Bluey und sein Cousin haben sich halb totgelacht und fanden es furchtbar witzig, sie zu erschießen, so als wäre sie eine Trophäe, hinter der sie schon eine Ewigkeit her gewesen sind. Er musste dazwischengehen, als sie sich stritten, wer das Fell bekommt und wer sie zum Abendessen braten darf«, log Katie. »Was soll ich ihm sagen, wenn er wieder anruft?«, fügte sie lässig hinzu.
Alice fehlten die Worte. Das arme, liebe Dummerchen! Wie konnten sie nur? Tränen stiegen in ihr hoch. Sie schloss die Augen, sank zurück in die Kissen und sah wieder deutlich vor sich, wie Billy die tote Ziege auf den Armen getragen hatte. Und von allen Bewohnern des Erdballs musste ausgerechnet dieser Mensch sie retten! Als Katie zur Tür ging, schlug Alice die Augen auf. Tiefe Traurigkeit stand in ihrem Gesicht geschrieben.
»Sag ihm, dass ich ihn hasse und dass ich bis zu meinem Tode nie wieder etwas mit ihm zu tun haben will.« Alice ließ die Blumen zu Boden fallen und drehte sich, überwältigt von Trauer, Elend und Ekel, zur Wand. Zufrieden wandte sich Katie zum Gehen und stieß beinahe mit Tante Bea zusammen, die gerade einen Krug hausgemachter Limonade brachte.
»Wie fühlt sie sich, Katie?«, fragte Tante Bea leise.
»Gut, Mum. ich habe ihr gerade von den Anrufen erzählt«, erwiderte Katie triumphierend und stolzierte hinaus.
Bea stellte den Krug auf den Nachttisch und hob die Blumen auf. »Schau, sind die nicht wunderschön. Was für eine nette Geste. Er hat sich wirklich Sorgen um dich gemacht.« Alice rührte sich nicht. Tante Bea legte die Blumen auf einen Stuhl und fühlte Alice die Stirn. Offenbar hatte ihre Nichte kein Fieber mehr. Erleichtert zog sie die Decken zurecht und steckte sie unter Alices Füßen fest. »Robert McIain hat sich zu einem erstaunlich freundlichen und höflichen jungen Mann entwickelt. Am Telefon klang er richtig schüchtern und verlegen. Ich habe ihm gesagt, du wärst morgen vielleicht kräftig genug, um mit ihm zu sprechen.« Alices Augen blickten stumpf. »Oder lieber übermorgen. Und jetzt ruh dich aus. Du siehst schon wieder schrecklich müde aus, mein Kind.« Sie ging hinaus, um eine Blumenvase zu holen.