Kapitel sechs

Die Woche, in der Alice Billy und Paddy kennen lernte, würde ihr für immer im Gedächtnis bleiben. Es war in den Septemberferien. Das Scheren in Wangianna, der Schaffarm, wo die beiden Jungen arbeiteten, war abgeschlossen, und sie hatten ein paar Tage Urlaub bekommen, bevor sie die Zuchtwidder für die Auktionen im Oktober vorbereiten mussten.

Alice war ungewöhnlich guter Dinge. Gerade hatte sie erfahren, dass Grunz nach den Ferien nicht in die Schule zurückkehren, sondern eine Stelle auf einer Farm, vierhundert Kilometer entfernt von Billabrin, antreten würde. Außerdem würde ihr Dad in nur drei Monaten zurückkehren. Das Leben wurde immer schöner. Inzwischen durfte sie ihrem Onkel sogar ein wenig im Haushaltswarenladen helfen. Und dort war sie auch und überprüfte das Inventar, als Billy und Paddy aus dem Postlaster sprangen und in den Laden marschiert kamen. Billys fröhliches Lachen unterbrach Alice beim Zählen. Als sie aufblickte, sah sie zwei junge Männer, deren Schatten über die Schwelle fielen. Sie trugen breitkrempige Buschmannhüte. Der größere der beiden Jungen trat aus dem grellen Sonnenlicht.

»Du musst meine kleine Cousine Alice sein!«, rief er mit erstaunlich tiefer Stimme aus. Mit seinen fünfzehn Jahren war Billy schon ein richtiger junger Mann. Er war einen guten Kopf größer als sein Vater, attraktiv und hatte kräftige Muskeln, ein markantes Kinn und vom vielen Arbeiten im Freien eine sonnengebräunte Haut. Sein dichtes braunes Haar ringelte sich in Löckchen über seinen Ohren, und sein strahlendes Lächeln war ebenso warm wie das seiner Mutter. Billy strahlte eine Kraft und Energie aus, die Alice sofort gefielen. Der dreizehnjährige Paddy sah zwar auch gut aus, ähnelte aber sehr seinem Vater, was Alice ein wenig misstrauisch machte.

»Ich bin dein großer Cousin Billy, und das ist dein anderer großer Cousin Paddy«, verkündete Billy vergnügt, klopfte seinem Bruder auf die Schulter und kniff beim Lächeln die Augen zusammen. Als Paddy Alice zugrinste, fühlte sie sich schon viel wohler.

Plötzlich nahm Billy Alice in die Arme und wirbelte sie durch die Luft. Nachdem er dem atemlosen und kichernden Mädchen einen dicken Kuss auf beide Wangen gedrückt hatte, stellte er es wieder auf den Boden.

»Es stimmt wirklich, dass du eine Schönheit bist. Aber was ist denn mit deinen Haaren passiert?«, rief er erstaunt aus. Alice sah ihn aus großen blauen Augen an und wusste auf Anhieb, dass sie ihm vertrauen konnte. Also sprudelte sie die ganze Geschichte hervor.

»Ein Junge in der Schule hat sie mir abgeschnitten. Aber Tante Bea hat es wieder in Ordnung gebracht.« Sie zupfte an den kurzen Büscheln, die noch von ihren üppigen Locken übrig waren, und rümpfte die Nase. »Das wächst schon wieder«, meinte sie gelassen. Billy steckte eine Hand in die Tasche seiner ausgebeulten Shorts, schob seinen Buschmannhut in den Nacken und hörte ihr aufmerksam zu. Alice brauchte nur wenige Sekunden, um zu erkennen, dass sie ihren älteren Cousin vergötterte, und so berichtete sie ihm alles, was seit ihrer Ankunft in Billabrin geschehen war.

»Tja, solange Paddy und ich hier sind, brauchst du so etwas nicht mehr zu befürchten«, erwiderte Billy mit finsterer Miene, nachdem Alice ihm ihre Auseinandersetzung mit Grunz bis in die letzte schreckliche Einzelheit geschildert hatte. »Und jetzt gehen wir zu Mum«, meinte Billy, inzwischen etwas fröhlicher. Er überraschte Alice damit, dass er sie wieder packte, durch die Luft wirbelte und sich das vor Freude jauchzende und zappelnde Mädchen über die Schulter warf.

»Die wehrt sich aber ganz schön kräftig«, stellte Paddy fest. Und dann machten sich die drei lachend auf die Suche nach Tante Bea.

Tante Bea war außer sich vor Freude, denn sie hatte nicht damit gerechnet, dass die beiden Jungen nach Hause kommen würden. Auch die übrige Familie freute sich sehr, das hieß, alle bis auf Ray, der ungewöhnlich schweigsam war, und Katie, die sich nun noch mehr bemühte, sich in den Vordergrund zu drängen.

»Welche Laus ist Katie denn über die Leber gelaufen?«, erkundigte sich Billy laut.

»Psst! Jetzt fang doch nicht gleich wieder Streit an«, schimpfte Tante Bea mit einem vielsagenden Blick. »Sie ist nur ein bisschen mürrisch. Wahrscheinlich Wachstumsschmerzen.«

Trotz ihres Altersunterschieds stellte Alice den restlichen Tag über fest, dass man sich mit Billy sehr gut unterhalten konnte. Billy, der ihre Zuneigung erwiderte, hänselte sie unentwegt.

Als sie ihn mit Dummerchen bekannt machte, lachte er über den Namen der Ziege. Doch dann erzählte sie ihm, wie sehr sie das Tier liebte und dass sie sich von seiner Freundschaft getröstet gefühlt hatte, als ihr das Leben so traurig erschienen war, und er wurde sofort ernst. Als er verständnisvoll nickte, schloss sie ihn gleich noch mehr ins Herz.

Dennoch war Billy nicht der Mensch, der sich die Gelegenheit zu einem Scherz entgehen ließ. Und so wurde Dummerchen zur Zielscheibe freundschaftlicher Neckereien in der Familie; alle waren in bester Stimmung, weil die Jungen zu Hause waren. Alice freute sich so, einen netten und humorvollen Cousin zu haben, den sie anhimmeln konnte. Nach zwei Tagen im Haus hatte Billy allerdings kein Sitzfleisch mehr.

»Komm, wir besuchen ein paar meiner alten Kumpel und lassen es mal so richtig krachen«, meinte er mit einem spitzbübischen Grinsen bei Tisch zu Paddy und warf dabei seiner Mutter aus dem Augenwinkel einen Blick zu.

»Das wirst du schön bleiben lassen, Billy Downing. Und wehe, wenn du wieder die McIain-Jungs ärgerst. Sonst wird sich McIain bald nach ein paar neuen Arbeitern umsehen.«

»Würde ich je so etwas tun, Ma?«, gab Billy unschuldig zurück, während Alice neugierig die Ohren spitzte.

»Ich kenne dich, Billy, und deshalb traue ich dir alles zu. Lass sie einfach in Ruhe. Du weißt ja, wie sie sind. In einer Woche kehren sie sowieso zurück in ihre schicke Schule in der Stadt.«

»Ach, reg dich doch nicht auf, Ma. Was ist schon dabei, wenn man ein bisschen Spaß hat? Der alte George würde sowieso nichts davon mitkriegen. Der ist viel zu beschäftigt damit, Karten zu spielen und auf Pferde zu wetten. Ich hatte ganz vergessen, dass die beiden Burschen auch zu Hause sind. Außerdem sind es normalerweise sie, die anfangen.« Billy genoss das Vergnügen, seine Mutter zu necken.

»Elizabeth würde es sicher bemerken. Den Argusaugen ihrer Mutter entgeht nichts«, erwiderte Tante Bea streng. »Und ich wäre euch sehr dankbar, wenn ihr euch eurem Arbeitgeber gegenüber ein bisschen respektvoller verhalten könntet.« Bea brach ab und warf Alice einen Blick zu. »Bitte, Billy. Immer schaffst du es, dass ich Dinge sage, die ich hinterher bedauere. Wir hatten in dieser Familie schon genug Ärger, und du weißt, dass dein Vater dann nur böse wird.« Als Mutter und Sohn Blicke wechselten, spürte Alice, wie die Anspannung wuchs.

»Schon gut, Mum, ich bin ganz brav.« Billy legte den Arm um seine Mutter und drückte sie an sich, sodass sie sich sichtlich entspannte. Dann küsste er sie auf die Wange und verschwand im Hinterzimmer. Als er zurückkam, hatte er eine .22er Büchse unter dem Arm.

»Woher hast du die?«, fragte Tante Bea streng.

»Geschenkt bekommen«, antwortete Billy ausweichend. Er winkte seinen Bruder zu sich, und seine Augen begannen wieder zu funkeln. »Komm, Paddy, schauen wir mal, ob wir ein paar Schweine erwischen.«

»Bleibt bloß von den Wildschweinen weg. Die sind gefährlich!«, entsetzte sich Tante Bea, als Billy und Paddy zur Tür gingen.

Billy drehte sich kurz um. »Mach dir keine Sorgen, Ma«, sagte er. Dann waren die beiden Jungen verschwunden.

Billy und Paddy schlenderten über die große, mit Gebüsch bewachsene Ebene oberhalb der Stadt und suchten den Boden nach Kaninchenkot ab.

»Ich wünschte, wir hätten uns den Pickup ausgeliehen«, beschwerte sich Paddy und wedelte eine hartnäckige Fliege weg. Er zerrte an den beiden toten Kaninchen, die ihm über der Schulter hingen. »Bestimmt hätte Dad ihn uns geborgt, wenn du mich hättest fragen lassen.«

Stirnrunzelnd bohrte Billy die Schuhspitze in den Boden. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich keine Vergünstigungen mehr von ihm will. Und wann hat er dir schon mal zugehört, seit wir auf der Farm angefangen haben?«

Paddy seufzte. »Warum musst du immer mit ihm streiten? Wir hätten es wenigstens versuchen können.«

»Und damit den dritten Weltkrieg auslösen?«

Plötzlich rumpelte ein zerbeulter, brauner Wagen ohne Dach auf sie zu und wirbelte eine ockergelbe Staubwolke auf.

»Wo wollt ihr denn hin, Jungs?«, rief eine Stimme.

»Kev, alter Junge! Nick!«, erwiderte Billy mit einem breiten Grinsen, überrascht über den Anblick seiner alten Schulfreunde. Er lief auf den Wagen zu, der langsam zum Stehen kam. Zwei Jungen, etwa in Billys und Paddys Alter, lachten aus dem Fahrzeug zu ihnen herüber.

»Ihr seid wohl hier, um Ärger zu machen, was?«, brüllte Kev, der hinter dem Steuer saß.

»Immer noch dieselbe alte Schrottlaube!«, gab Billy zurück.

Kev zog eine Grimasse, während Nick die hintere Tür öffnete. Lachend und johlend sprangen Billy und Paddy in den Wagen. Kev trat das Gaspedal durch, und das Auto raste über die Ebene.

»Ihr hattet mehr Glück als wir«, stellte Nick fest und wies mit dem Kopf auf die Kaninchen.

»Eine kleine Spritztour macht doch viel mehr Spaß«, antwortete Billy. »Schön, dich zu sehen, Nick.« Er klopfte Nick auf die Schulter. »Seht mal, offenbar sind wir nicht die Einzigen, die heute einen draufmachen wollen.« Er zeigte auf einen kleinen schwarzen Punkt, der sich, gefolgt von einer Staubwolke, über die Weide bewegte.

Ken bog in die holperige Staubpiste ein, und in den nächsten zehn Minuten unterhielten sich die Jungen gut gelaunt, während Kev den Felsen auswich und den Wagen durch Schlaglöcher und Fahrrinnen lenkte.

Als er ein Kuhgitter unterschätzte und zu schnell darüber hinwegraste, gab es einen lauten Knall. Kev bremste den Wagen ruckartig ab.

»So ein Mist!«, schimpfte er und schlug mit der Faust aufs Lenkrad. Rasch stieg er aus und spähte unter das Auto. Als er sich aufrichtete, war seine Miene ernst. »Offenbar hat der Stein die Ölwanne erwischt. Ich weiß nicht, ob ich das hinkriege«, verkündete er und verschwand wieder unter dem Wagen.

»Moment, vielleicht können diese Jungs uns ja helfen«, meinte Billy, als aus einer Staubwolke ein zerbeulter Geländewagen auftauchte, der schwankend über die von hier aus nicht zu sehende Piste raste. Doch als der Wagen näher kam und Billy die Insassen erkannte, verzog er ärgerlich das Gesicht. Der Fahrer hatte leuchtend rotes Haar und war höchstens zwölf Jahre alt. Sein dunkelhaariger, etwa fünfzehnjähriger Begleiter beugte sich aus dem Führerhaus, schwenkte eine Flinte und brüllte etwas Unverständliches.

»Uns helfen? Das soll wohl ein Witz sein, Kumpel!«, rief Nick aus. »Das ist O’Seanessy, genannt Natter, mit seinem Cousin, dem Vorgartenzwerg Bluey McIain, die schulfrei haben und mal den dicken Maxe markieren wollen«, ver

kündete er in gespieltem Oberschicht-Akzent.

»Ich weiß«, erwiderte Billy mit finsterer Miene.

»Sieht ganz danach aus, als hätte Natter zu tief in Väterchens Schnapsflasche geschaut«, fügte Paddy hinzu.

»Durchaus möglich. Der hat sich schon ein paarmal fast den Hals gebrochen, als er so richtig breit war«, sagte Billy und rieb sich die kleine Narbe über seinem rechten Auge. Als Bluey den Geländewagen dicht vor ihnen zum Stehen brachte, sah er die leeren Bierflaschen auf dem Boden des Fahrzeugs.

»Hallo, Billy. Bist du auf Kaninchenjagd?«, wandte sich der rothaarige Junge mit einem verlegenen Grinsen an Billy. Als er bemerkte, dass der ältere Junge angesichts des Zustands, in dem sich sein Cousin befand, angewidert das Gesicht verzog, errötete er.

»Hast du etwa auch gesoffen, du kleiner Schwachkopf?«, fragte Billy.

Blueys Grinsen verschwand, und er errötete noch heftiger.

»Was geht dich das an«, entgegnete er. Er hatte ein paar Schlucke Whisky getrunken, um Natter eine Freude zu machen. Die nächste halbe Stunde hatte er dann damit verbracht, seinen Cousin zu überzeugen, ihn ans Steuer zu lassen, da der Wagen gefährlich hin und her schlingerte. Nachdem Natter den Wagen in ein riesiges Schlagloch gerammt hatte, ließ er sich endlich dazu überreden. Der Bluterguss auf der Wange, den Bluey dem Aufprall gegen die Wagentür verdankte, pochte immer noch. Allerdings hatte ihm eine Standpauke von Außenstehenden jetzt gerade noch gefehlt.

Billy zuckte die Achseln. »Geht mich ja nichts an, wenn ihr beide euch heute kaputtfahrt.«

Bluey runzelte die Stirn. Doch ehe er etwas erwidern konnte, taumelte Natter, eine Flasche in der einen und die Flinte in der anderen Hand, betrunken aus dem Wagen.

»Ach, hallo. Wenn das nicht Onkel Georges oberster Schafhirte ist, der uns hier Vorschriften machen will.« Natter lachte betrunken auf. »Hat euch wohl ein paar Tage freigegeben.« Mit der Waffe in der Hand, wankte er auf das Auto zu und sein Blick fiel auf die Kaninchen. »Ach, ihr habt wohl Kaninchen gejagt. Toller Sport. Ich bin nämlich auch ein recht guter Schütze.« Er sah den Lauf seiner Flinte entlang und ließ dann rasch den Arm sinken. »Aber zuerst muss ich pinkeln.«

»Wir sollten besser losfahren, Jungs«, schlug Billy vor. Er spürte, dass er gleich die Geduld verlieren würde. »Gibt es noch Hoffnung für das Auto, Kev?«

Natter richtete sich auf. »Ihr könnt noch nicht fahren. Zuerst müssen wir Kaninchen schießen«, lallte er. Nach einem letzten Schluck aus der Flasche warf er sie weg und rülpste.

»Du bist ja so blau, du würdest nicht mal einen Lastwagen treffen«, knurrte Billy angewidert.

»Komm, Natter, wir müssen los«, drängte Bluey, der noch im Wagen saß. Aber sein Cousin war zu sehr damit beschäftigt, Billy zu provozieren.

»Wollen wir wetten?«, schlug er mit schwerer Zunge vor, ohne auf Bluey zu achten, und hob schwankend das Gewehr an die Schulter. Sein Finger schwebte über dem Abzug, während das Visier der Flinte kleine Kreise in der Luft beschrieb.

»Verdammt! Sei doch kein Idiot, Natter!«, brüllte Bluey, sprang aus dem Wagen und rannte auf seinen Cousin zu, überzeugt, dass dieser betrunken genug war, um abzudrücken. Doch Natter wirbelte herum und schoss ins Gebüsch.

»Du bist ein Weichei, Bluey. An so einen Typen würde ich doch keine Kugel verschwenden.« Grinsend spähte er wieder den Lauf entlang. »Ich schieße den Ast da drüben weg, und dann gehe ich pinkeln.« Plötzlich kam eine Ziege aus dem Gebüsch gelaufen.

»Nicht schießen!«, schrie Billy, doch im selben Moment drückte Natter ab. Die Ziege fiel zu Boden. Billy eilte zu dem reglosen Tier hinüber und hoffte, dass er sich geirrt hätte. Aber er sah seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Das seltsame Knickohr, das Alice stets so liebevoll gestreichelt hatte, war unverkennbar. Tränen des Zorns traten ihm in die Augen.

»Mein Gott, Kumpel, wem gehört die Ziege denn?«, fragte eine schüchterne Stimme hinter ihm.

Blind vor Wut, weil er Alice diesen tragischen Verlust nicht hatte ersparen können, wirbelte Billy herum. »Du Dreckskerl!«, stieß er hervor und versetzte dem Rotschopf einen Kinnhaken. Der verdatterte Bluey taumelte zurück und stürzte zu Boden. Vor Schmerz traten ihm Tränen in die Augen. Erbost stand er auf und stürmte mit hoch erhobenen Fäusten auf Billy zu.

»Es war doch nur eine dämliche Ziege«, stammelte er, aber Billy hörte ihm gar nicht zu. Er drängte den um sich schlagenden Bluey beiseite und stürzte sich auf Natter.

»Das wirst du mir büßen!«, brüllte er und verabreichte Natter einen Hieb gegen die Schläfe. Als dieser zurückschlagen wollte, verfehlte er jedoch sein Ziel, stolperte über seine eigenen Füße und fiel hin.

Immer noch kampfbereit kam Bluey wieder auf ihn zu, doch das wilde Funkeln in Billys Augen veranlasste ihn, es sich sofort anders zu überlegen.

»Komm, lassen wir diese Verrückten«, drängte Bluey, zerrte seinen verdatterten Cousin rasch auf die Füße und schob ihn trotz seines Sträubens zum Wagen. Sein Kiefer pochte an der Stelle, wo Billys Faust ihn getroffen hatte.

»Du hast es Ma versprochen«, zischte Paddy Billy ins Ohr, als der Wagen ansprang und die beiden Jungen davonrasten. »Warum hast du das getan, zum Teufel? Jetzt kriegen wir richtig Ärger.«

»Glaubst du, das interessiert mich«, stieß Billy hervor. Da bemerkte er, dass die Ziege noch lebte. »Schnell. Wenn wir sie rasch zu Mum bringen, kann sie sie vielleicht noch retten.

Kev, du musst diese Schrottlaube wieder zum Laufen bringen, und zwar dalli!«

Alice saß an ihrem Lieblingsplatz auf der alten Windmühle aus verzinktem Stahl an dem Flussbett, das rings um Billabrin verlief, und ließ die schönen Ereignisse der letzten Zeit Revue passieren. Während sie über die kilometerlange ausgedörrte und mit Gebüsch bewachsene Ebene blickte, beschloss sie, mit sich selbst zu wetten, wen sie zuerst sehen würde: Billy und Paddy oder Dummerchen. Ein Schwarm Kakadus flatterte, leuchtend rosafarben und grau, über ihren Kopf hinweg. Die Schreie der Vögel hallten durch die Luft, und Alice fragte sich zum wohl hundertsten Mal, wo die Krähen waren und wann sie jemals beobachten würde, dass eine rückwärts flog. Wenn ja, würde sie es sofort Billy erzählen. Mit einem zufriedenen Seufzer tastete sie nach dem Apfelrest in ihrer Kleidtasche, den sie für Dummerchen aufgehoben hatte. Das Leben war so schön. Als ihr nach einer Weile der Fuß einschlief, wurde ihr klar, dass sie schon viel zu lange hier oben saß. Allmählich brach die Dämmerung herein, und sie begann, aufgeregt Ausschau zu halten. Im nächsten Moment bemerkte sie den herannahenden Wagen. Sie sah, wie er hinter einem Baum verschwand und nicht wieder zum Vorschein kam. Dann hörte sie leise Schreckensrufe und erkannte zwei Gestalten, die über die Weide auf sie zuhasteten.

»Billy!«, rief sie glücklich aus, kletterte die Stahlleiter hinunter und eilte ihren Cousins entgegen.

Billys Gesicht war gerötet, und seine Brust hob und senkte sich schwer atmend, da er Dummerchen trug. Paddy folgte ihm auf den Fersen.

»Habt ihr ein Schwein erwischt?«, fragte Alice neugierig und betrachtete aufgeregt das Bündel. Aber die Worte erstarben ihr auf den Lippen, als sie den schlaffen weißen Körper in Billys Armen erkannte.

»Nein, nein, ihr habt doch nicht etwa …«, stieß sie hervor und riss entsetzt die Augen auf. Wie erstarrt blieb sie stehen, sodass sie Billy den Weg versperrte.

»Es war ein Unfall«, keuchte er und versuchte, sich an ihr vorbeizudrängen, ohne sie umzuwerfen. »Wir müssen sie zu Ma bringen.«

Vorsichtig streckte Alice die Hand aus und berührte Dummerchens Knickohr. Kurz öffnete die Ziege die Augen, sodass Alice den treuen Blick auffing, der ihr so ans Herz ging. Dann hauchte Dummerchen mit einem Schauder ihr Leben aus. Alice schrie leise auf, und Billy sah den unbeschreiblichen Schmerz in ihren Augen. Ein Blick auf die Ziege sagte ihm, dass sie tot war.

»Sie hat uns verlassen, kleine Alice«, flüsterte er und konnte die Tränen nicht unterdrücken. Er nickte Paddy zu, der wortlos verschwand.

»Aber du hast es versprochen.« Alice glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Sie sank in die Knie. Schweigend legte Billy ihr die tote Ziege in die Arme. Alice starrte ungläubig auf Dummerchen, und Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. Sie schmiegte Dummerchens Kopf an ihre Wange, und nahm nichts um sich herum wahr, während ihre lauten Schluchzer in den Nachmittagshimmel aufstiegen. Billy wartete, bis sie sich ausgeweint hatte. Als Alices Schluchzer schließlich erstarben, nahm er ihr die Ziege sanft wieder ab.

»Ich helfe dir, sie zu begraben, kleine Alice«, meinte er, und auch seine Augen waren vom Weinen gerötet. »Wir beerdigen sie neben meinem alten Hund.« Wortlos machten sie sich auf den Heimweg.

»Ich habe sie geliebt und sie mich auch«, flüsterte Alice, als Billy die Schaufel holte. Er nickte verständnisvoll. Dann nahm er die leblose Ziege wie ein kostbares Geschenk in die Arme, trug sie den Hügel hinunter und begrub sie. Alice strich mit den Händen über den frischen Erdhügel, und benetzte die schwarze Erde mit ihren Tränen, während Billy geduldig daneben stand. Als sie nicht mehr weinen konnte, legte sie einen kleinen Zweig von einem Eukalyptusbaum oben auf das Grab und stand auf. Inzwischen waren ihre Augen trocken, doch aus ihren Tiefen schimmerte eine neue Trauer hervor. Billy umfasste fest Alices Hände und wünschte, den Schmerz von ihr nehmen zu können.

»Das werde ich diesen Schweinekerlen nie verzeihen. Niemals«, flüsterte er, und Alice wusste, dass er es ernst meinte.