Lalalalalalalalalalalalalalalalalalalalalalalalaladida.
Es gibt nur einen Grund, warum ich trotz der Ahnungslosen so entspannt bleibe. Warum es mir egal ist, dass sie mich demonstrativ ignorieren oder sogar – wie Sara – eine E-Mail-Kampagne starten, damit der ganze Rest des Jahrgangs mich genauso hasst wie sie. Warum meine Krankengymnastik anscheinend weniger schmerzhaft ist als früher. Warum es mich nicht stört, dass Dad plötzlich wieder Interesse an meinem Leben zeigt, wo es so aussieht, als wäre ich noch rechtzeitig für ein paar Hallenrennen wieder fit. Warum ich mir trotz des endlosen Geplappers meiner Mutter über Bethanys Besuch zu Thanksgiving noch nicht mit einer Stricknadel die Trommelfelle durchbohrt habe.
Und dieser Grund ist Marcus Flutie.
Wir sprechen uns später, hatte er gesagt. Und er hatte es wirklich so gemeint.
Am Montagmorgen sah alles noch hoffnungslos aus. Vor der ersten Stunde sprach er nicht mit mir, weil er mit seiner dämlichen Freundin Mia rumknutschen musste. In der ersten sprach er auch nicht mit mir. Nach der ersten sprach er immer noch nicht mit mir, weil er schon wieder mit Mia rumknutschen musste.
Als er sich dann in der nächsten Unterrichtsstunde hinter mich setzte, nahm ich an, wir wären jetzt wieder auf der Schiene »Verschwiegene Komplizen«. Aber dann tippte er mir auf die Schulter und sagte was total aus der Luft Gegriffenes. Ich dachte echt schon, er sei wieder auf Drogen.
»Wusstest du, dass durchschnittliche Amerikaner sechs Monate ihres Lebens vor roten Ampeln verbringen?«
»Was?«
»Sechs Monate, vergeudet damit, auf die Erlaubnis zum Weiterfahren zu warten«, sagte er.
»Aha.«
»Überleg doch mal, was man mit so viel Zeit anfangen könnte.«
Ich war total verwirrt. »Im Auto?«
»Im Leben«, sagte er.
»Ach so.«
Dann fing Bee Gee an, über Präsident Roosevelts »New Deal« zu reden, und das war’s.
So ging das die ganze Woche. Vor dem Geschichtsunterricht tippte Marcus mir auf die Schulter und stellte mir eine Frage, die oberflächlich betrachtet ohne jeden Bezug war. Aber dann entstand daraus ein viel gehaltvolleres Gespräch, als ich nach so einer Eröffnung erwartet hatte. Schwer zu erklären – es war so eine Art verbaler Rorschachtest.
Am Freitag überraschte es mich schon gar nicht mehr, dass die Frage nach meinem Lieblingsschauspieler nicht auf die Entscheidung zwischen John Cusack und diesem Typen hinauslief, der in Sixteen Candles Jake Ryan gespielt hat, sondern darauf, dass jeder Zeitschriftenartikel und Fernsehbericht, der angeblich irgendeinen Star seinen Fans »näherbringen« soll, in Wirklichkeit bloß weiter an dem riesigen Altar baut, vor dem wir der Berühmtheit huldigen.
Oder so ähnlich.
Diese Gespräche wirken wie ein Glas Likör mit einem Schuss Tabasco hinterher. Kurz, süß und seltsam, und gleichzeitig wird mir davon heiß, schwindlig und wirr im Kopf.
Was eine Woche so ausmachen kann. Vor gerade mal 168 Stunden haben wir noch nicht miteinander gesprochen. Jetzt tun wir’s. Die Kehrseite ist natürlich, dass nächsten Freitag alles schon wieder vorbei sein kann.
Das kann ich nicht zulassen. Es gibt noch so viele Themen zu besprechen, ehe wir diese … Beziehung oder was auch immer weiterentwickeln können: Die Joghurt-Verschwörung. Den Origami-Mund. Middlebury. Mia. Drei Kisten Donuts. Heaths Tod. Hope.
Weil ich ja weiß, dass er nachts Unterhaltung braucht, habe ich beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen und Marcus am Montag eine direktere Frage zu stellen. Ich kann nachts nicht schlafen. Und du?
Mal sehen, wie sich das entwickelt.
NEUNTER
Er hat angerufen!
Ruferkennung ist die allerbeste Erfindung aller Zeiten. Als ich nämlich Marcus’ Namen und Nummer auf der Anzeige sah, konnte ich vor dem Sprechen noch mal lang und tief Luft holen, um nicht zu hyperventilieren.
»Hallo?«, sagte ich mit so hoher Stimme, als ob ich gerade einen Zug Helium genommen hätte.
»Heute stelle ich dir keine Frage, um ins Gespräch zu kommen«, sagte Marcus, ohne ein Hey oder Hi oder Wie geht’s?
»Nein?«
»Nee«, sagte er. »Diese Fragen waren doch bloß Konversationskonstrukte.«
»Bloß so Appetithäppchen, die ich dir hingeworfen habe, damit es losgeht.«
»Ach so.«
»Aber so was brauchen wir nicht mehr.«
»Nein?«
»Nein. Wir können uns genauso gut ohne unterhalten.«
Und dann bewiesen wir eine Stunde und siebenundvierzig Minuten lang, dass er Recht hatte.
Hier eine unvollständige Liste der nächtlichen Gesprächsthemen: halb gelochte Wahlkarten aus Florida, die Olsen-Zwillinge, Aids in Afrika, falsche Tattoos, Ge-he-le-fe-heim-heim-le-feim-spra-ha-le-fa-chen-hen-le-fen, die unsichtbaren Dimensionen unseres Universums, Klonen, abgehalfterte Gitarrengötter in zu engen Lederhosen, verkürzte Sommerferien, Schönheits-OPs und ihre Opfer, Napster.
Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt so ein Gespräch geführt habe. Ich merkte, dass ich Meinungen zu Dingen habe, von denen ich bisher gar nichts wusste. Und anders als bei Computergenie Cal, dessen Small-Talk-Tricks im Vergleich dazu so … so programmiert wirkten, ist eine Unterhaltung mit Marcus Spontaneitätstraining. Er springt von einem Thema zum anderen, und ohne den Gedankengang ganz zu Ende geführt zu haben, biegt er meist schon zum nächsten ab, und von da zum nächsten und übernächsten. Ein einziges Gespräch mit ihm enthält also eine Milliarde schizophrene Diskussionen. Total ADS. Vielleicht kommt es auch von den Drogen. Wer weiß? Ich weiß bloß, dass er gesagt hat, ich kann ihn immer um Mitternacht anrufen, wenn mir danach ist, weil ihm um die Zeit nämlich immer nach Reden ist.
Die Unterhaltung mit Marcus bestätigte meinen Verdacht: Ich habe einen totalen Scheuklappenblick, meine Weltanschauung beschränkt sich auf die Pineville High. Ich bin schon fast nicht mehr in der Lage, über was anderes als mich selbst zu reden. Nicht mal mit Hope. Mit der quatsche ich meist bloß über alltägliche Begebenheiten – jedenfalls soweit ich sie ihr erzählen kann. Das war natürlich anders, als sie noch hier war. Aber selbst da haben wir nie solche Gespräche geführt wie Marcus und ich heute Nacht. Keine schlechteren, bloß andere.
Ich versuche mich zu überzeugen, dass das nichts Schlimmes ist. Ich meine: Alles, was mir hilft zu schlafen, muss doch gut sein, oder? Weil ich nämlich, kaum dass Marcus und ich aufgelegt hatten, in tiefes Koma gefallen bin und so selig und süß geschlafen habe, dass ich heute Morgen mit großen Augen und sehr lebendig aufgewacht bin und mich im Stande fühlte, jeden Scheiß an der PHS leicht wegzustecken.
Ich hatte gedacht, sobald ich Marcus mal ganz allein am Telefon habe, würde ich ihn mit einer Milliarde Fragen über seinen Teil unserer gemeinsamen Geschichte bombardieren. Aber nach dem Gespräch letzte Nacht hoffe ich eher, dass Marcus und ich die heiklen Themen weiterhin aussparen, weil ich nämlich im Moment das Gefühl habe, wenn wir laut aussprechen, wer er ist, wer ich bin und wieso wir eigentlich nicht miteinander reden dürften – dann reden wir auch nicht mehr miteinander. Und das darf nicht passieren.
DREIZEHNTER
Dank meines Lauschangriffs weiß ich genug über Marcus, um Themen anzuschneiden, die ihn interessieren könnten. Er dagegen kennt meine Biografie nicht halb so gut wie ich seine. Und genau darum bin ich nach fünf Nachtgesprächen hintereinander total verblüfft, dass er ständig von Sachen anfängt, über die ich reden will.
»Heute Abend habe ich mir The Real World angeguckt …«
»Du guckst The Real World?«, fragte ich ganz aufgeregt. »Ich liiiiebe die Sendung. Auch wenn es inzwischen jede Menge Doku-Soaps gibt, das ist immer noch die beste. Eines der wenigen auf unsere Generation zugeschnittenen Unterhaltungsformate, auf das ich tatsächlich total stehe.«
»Ach ja, ist das so?«
»Ich gucke mir lieber echte Jugendliche an, die sich total zum Affen machen, als mir Kevin Williamsons Highschool-Serien reinzuziehen, wo alle immer so ungeheuer perfekt und tiefsinnig sind.«
»Das finde ich echt traurig.«
»Wieso das denn? Die machen das doch freiwillig. Die hauen sich doch selbst in die Pfanne.«
»Die hauen dich in die Pfanne.«
»Wieso?«
»Ist dir noch nie aufgefallen, dass der Begriff ›Doku-Soap‹ ein Widerspruch in sich ist? Sobald die Leute sich filmen lassen, ist doch vollkommen klar, dass es mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun hat.«
Marcus ist weit und breit der einzige Mensch, der auch nur ansatzweise was besser weiß als ich. Und ehrlich gesagt komme ich damit nicht so gut klar. »Die heisenbergsche Unschärferelation kenne ich auch, du Genie«, antwortete ich ein bisschen gereizt. »Und was ist gegen schlichte eskapistische Unterhaltung zu sagen?«
»Nichts«, sagte er. »Wenn man kein Problem damit hat, jeden Abend einer Horde Leute, die man nicht kennt, beim Leben zuzugucken, anstatt rauszugehen und selbst zu leben.«
Da hatte er nicht ganz Unrecht. Mein Real World-Fanatismus war erst nach Hopes Umzug außer Kontrolle geraten.
»Und wie soll man in Pineville leben? Noch dazu mitten in der Nacht?«
Ich hörte das Klicken eines Feuerzeugs. Pause. Dann Ausatmen.
»Also, ich habe immer Puff Daddy angeheizt.«
»Puff Daddy«, wiederholte ich völlig ratlos.
»Ja, Puff Daddy. Meine Bong.«
»Du hast deiner Wasserpfeife einen Namen gegeben?«
»Klar. Ich habe mit niemandem sonst so viel Zeit verbracht wie mit Puffy, da lag das doch nahe.«
Wieder eine Pause. Wieder ein Lungenzug Nikotin, Teer, Tabak. Der vorpubertäre Junge von der Promenade fiel mir wieder ein. Total auf Tabak.
»Außerdem habe ich mir Mädchen gesucht, mit denen ich Sex haben konnte.«
Das sagte er so nebenbei. Mädchen gesucht, mit denen ich Sex haben konnte. Keine große Sache. War es aber, denn über so was Persönliches hatten wir bisher noch nicht gesprochen. Er nahm wieder einen langen Zug, bestimmt, damit ich mir in allen erregenden Einzelheiten vorstellen konnte, wie er Sex hatte. Ich musste den Eindruck erwecken, dass mich sein Gerede nicht verrückt machte.
»Sex und Drogen sind also eine Art zu leben?«
»Genau«, sagte er. »Geht es nicht genau darum, wenn man jung ist? Die Jugend ist doch die wichtigste Zeit zum Experimentieren und Ausprobieren. Und ich habe beschlossen, bis zum Exzess zu experimentieren und zu probieren.«
»Das ist so … jackass-ig«, sagte ich.
»Klar ist das jackass-ig. Aber deshalb hat es ja auch solchen Spaß gemacht.«
Solche Sprüche machten mich echt sauer. Wie konnte er so gleichgültig und selbstzerstörerisch daherquatschen? Und das, wo einer seiner besten Freunde daran gestorben war. Ganz zu schweigen von den Folgen: dass mir nämlich meine beste Freundin genommen worden war. Aber ich wollte ihn nicht direkt mit Heaths Tod konfrontieren. Wenn er was zu beichten hatte, dann sollte er das von allein tun.
»Wenn das solchen Spaß macht, wieso machst du’s dann nicht mehr? Wieso zeigst du den Leuten in Middlebury nicht einfach den Finger und machst weiter wie vorher?«
»Weil ich damit durch bin«, antwortete er. »So ziemlich das Einzige, was ich noch nicht probiert habe, ist total diszipliniert zu sein.«
Na klar. Nach seinen Experimenten mit Teenie-Band-T-Shirts letztes Jahr muss ihm klar geworden sein, dass die Verwandlung in einen vorbildlichen Spitzenschüler der beste Weg war, alle total durcheinanderzubringen.
»Und außerdem habe ich andere Beschäftigungen gefunden«, schob er nach.
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel auf der Gitarre Nirvana-Songs zu spielen, Tagebuch zu schreiben, mit den alten Knackern zu quatschen. Außerdem helfe ich Len mit meiner Erfahrung, bei Mädchen zu landen. Und ich habe meine allererste absolut sexfreie Beziehung zu einem weiblichen Wesen.«
»Moment mal«, sagte ich, wieder völlig verwirrt. »Heißt das, du hast mit Mia keinen Sex?«
Marcus lachte lauter, als ich je irgendwen lachen gehört habe. In Stereo und Dolby Surround. So ein Lachen, bei dem einem die ganze Luft aus dem Bauch gedrückt wird und man nach Sauerstoff japst. So ein Lachen, von dem man einen dauerhaften Hirnschaden kriegen kann – den ich schon haben musste, sonst hätte ich diese dämliche Frage nicht gestellt.
»Du bist so witzig«, sagte er. »Gute Nacht, Cuz.«
Marcus findet mich absolut sexfrei. Keinerlei Spannungen, die unser Verhältnis irgendwie komplizieren könnten. Da müsste ich eigentlich erleichtert sein. Oder?
FÜNFZEHNTER
Heute ist mein zweiter Leitartikel erschienen: »Homecoming King und Homecoming Queen: Demokratie für Dummköpfe«. Die Reaktionen waren wie erwartet: Die Leute, die mich vorher schon gehasst haben, hassen mich immer noch. Und die mich nicht gehasst haben, tun es immer noch nicht, sondern dankten mir für meine hellsichtigen Beobachtungen.
»Den Schülern ist die Homecoming-Kür wichtiger als der Präsidentschaftswahlkampf«, sagte ich. »Man sollte dieses ganze Homecoming-Hofzeremoniell abschaffen, weil beliebte Menschen dadurch Macht und Prestige gewinnen, die ihnen total zu Kopf steigen.«
»Ich nehme also an, dass du den Homecoming-Ball boykottieren wirst«, sagte er.
»Natürlich boykottiere ich ihn.« Mein moralischer Kreuzzug half mir, die Tatsache zu ignorieren, dass mich niemand gefragt hatte.
»Schade.«
»Wieso schade?«
»Wrmhttum zfuhmt nghnknnun«, nuschelte er mit der Hand vorm Mund.
»Ich glaube, mein Ohr ist verstopft«, sagte ich. »Könntest du das wiederholen?«
»Wir hätten zu viert hingehen können«, sagte er.
»Du gehst zum Homecoming-Ball?«
»Ja«, antwortete er.
»Du gehst zum Homecoming-Ball.«
»Ja.«
»Du, Marcus Flutie, gehst zum Homecoming-Ball.«
»Ich glaube, diese Tatsache haben wir jetzt angemessen gewürdigt.«
»Willst du zum Homecoming-Ball?«
»Ich könnte auch ohne leben«, sagte er, »aber Mia will unbedingt hin.«
Man kann sehr leicht vergessen, dass Marcus eine Freundin hat, so selten erwähnt er sie. Nur in Momenten wie diesem oder wenn ich sie beim Rummachen im Schulflur sehe, fällt es mir wieder ein: Ich bin seine erste sexfreie weibliche Bekannte.
»Was für eine Heuchelei!«, rief ich. »Wie kann man sich so verbiegen? Du wirst ja genau so ein braver, guter Schüler, wie die Schulleitung ihn sich gewünscht hat, mit Homecoming und allem!«
Marcus gluckste belustigt.
»Verbiegen? Ich habe den Leitartikel nicht geschrieben.«
»Aber du stimmst ihm doch zu.«
»Ich war noch nie beim Homecoming-Ball, also weiß ich nicht, ob ich ihm zustimmen soll.«
Diese Hy-mäßige Ausrede machte mich rasend.
»Man muss doch da nicht hingehen, um zu wissen, dass sich alles nur darum dreht, die Sahneschicht und die Möchtegerns anzubeten!«
»Anders als du bilde ich mir meine Urteile gern nach eigener Anschauung.«
Ich wurde jede Millisekunde wütender.
»Dass du sehr schnell über Dinge urteilst, von denen du überhaupt nichts weißt.«
Ich legte auf.
Dreißig Sekunden später rief ich wieder an.
»Tut mir leid, dass ich einfach aufgelegt habe«, sagte ich. »Das war armselig.«
»War immerhin eine ehrliche Reaktion«, sagte er. »Du warst wütend.«
»Ich bin immer noch wütend.«
»Gut.«
»Gut.«
Schweigen.
»Wollen wir morgen weiterreden?«
»Ja. Wiederhören.«
Erst als ich zum zweiten Mal aufgelegt hatte, fiel mir auf, was für ein Durchbruch das gewesen war. Ich war wütend über etwas, das Marcus gesagt hatte. Seine Worte stiegen mir nicht mehr zu Kopf wie Alkohol, bloß weil er sie ausgesprochen hatte.
Marcus ist entzaubert.
Trotzdem kann ich es kaum erwarten, morgen wieder mit ihm zu sprechen.
ZWANZIGSTER
Mom stand tränenüberströmt vorm Badezimmerspiegel, als ich heute von der Schule kam.
»Ist es so schwer mit mir auszuhalten?«, fragte sie.
»Was?«
»Es muss doch einen Grund geben, warum meine Töchter mich beide hassen«, sagte sie und riss ein durchweichtes Papiertaschentuch in Stücke.
Entweder hatte meine Mutter irgendwelche Wechseljahrbeschwerden oder es war was ganz Schlimmes vorgefallen.
»Ist was passiert?«
»Bethie kommt zu Thanksgiving nicht nach Hause«, wimmerte sie und wischte sich die Tränen weg. »Sie und Grant gehen stattdessen zu einer geschäftlichen Dinnerparty von irgendwelchen Dotcom-Bengeln.«
Mom schmeißt gern mit Begriffen wie Dotcom und Risikokapital um sich, weil sie sich dann so ungeheuer 21. Jahrhundert vorkommt. Ziemlich tragisch, wo doch der Technologie-Hype eindeutig wieder abnimmt. Bethany und G-Money wollen das allerdings auch noch nicht glauben.
»Wahrscheinlich ist Geldverdienen wichtiger als Familie. Das Essen kommt bestimmt vom Catering-Service. Würde mich wundern, wenn Bethie da ihren geliebten Süßkartoffelbrei kriegt.«
Es war echt nicht zu glauben, dass Bethany so eine Monsterzicke sein konnte. Ich hatte mich bestimmt nicht drauf gefreut, sie zu sehen, aber jetzt hatte sie Mom schon zum dritten Mal hängenlassen, seit sie nach Kalifornien gezogen war.
»Als wär’s nicht schon schlimm genug, dass ich siebenundvierzig werde«, sagte sie und zog mit den Fingern ihre Augenpartie straff. »Ich werde alt und meine Töchter hassen mich.«
Ach du meine Güte. Am Vierundzwanzigsten hat Mom Geburtstag. Am Freitag nach Thanksgiving. Hatte ich total vergessen.
»Mom, wir … ich hasse dich überhaupt nicht«, sagte ich.
»Du redest nicht mit mir«, sagte sie. »Also habe ich das Gefühl, du hasst mich, und das kommt aufs Gleiche-« Sie unterbrach sich mitten im Satz, drehte den Wasserhahn auf und spritzte sich Wasser ins Gesicht.
Ich schaute meine Mutter an: Das Wasser tropfte ihr von der Nase, verklumpte Grundierung hing pfirsichfleckig an ihren Wangen, blonde Strähnen klebten ihr auf der Stirn. Zum ersten Mal überhaupt sah ich Mom nicht als Mom, sondern als richtigen Menschen. Eine Frau aus Fleisch und Blut, der Ablehnung genau so wehtat wie allen anderen.
Wie mir.
Plötzlich hatte ich ein sehr schlechtes Gewissen wegen aller Gemeinheiten, die ich ihr je an den Kopf geworfen oder angetan hatte. Ich war nicht so wie Bethany. Ich war ein besserer Mensch.
»Hey, Mom«, sagte ich. »Wollen wir an deinem Geburtstag nicht zusammen was unternehmen?«
Sie sah mich verstört an. »Ist Freitagabend nicht der Homecoming-Ball?«
War ja klar, dass meine Mutter Pinevilles Homecoming auf ihrem inneren Terminkalender rot angestrichen hatte.
»Ja.«
»Du gehst also wirklich nicht zum Homecoming-Ball?«
Warum machte sie es mir so schwer, nett zu ihr zu sein?
»Ich glaube, wir haben die Tatsache angemessen gewürdigt, dass ich wirklich nicht zum Homecoming-Ball gehe.« Ich zitierte Marcus’ Formulierung in der Stimmlage meiner Mutter. Sehr bizarre Kombi.
»Und wieso nicht?«, fragte sie. »Du solltest lieber zum Homecoming-Ball gehen, als mit deiner alten Mutter herumzuhängen.«
»Mom! Eben hast du dich noch beschwert, dass wir nicht genug Zeit miteinander verbringen!«
»Aber ich will dich doch nicht um deine unersetzlichen Highschool-Erinnerungen bringen.«
Solche Bemerkungen wecken bei mir echte Zweifel, ob ich wirklich aus ihrem Bauch gekrochen bin.
»Mom! Ich wollte sowieso nicht hin.«
»Wieso denn nicht?«
»Ich habe zum Beispiel gar keine Begleitung«, sagte ich.
»Du kriegst keinen Jungen ab?«
Ich knurrte, schnappte mir ein Handtuch und biss hinein.
»Moooooooommmmmmm«, heulte ich mit zusammengebissenen Zähnen.
»Ich kann mir einfach nur schwer vorstellen, dass kein Junge mit dir zum Homecoming-Ball gehen will, das ist alles«, sagte sie und brachte ihre Wellen mit den Fingerspitzen in Form.
»Können wir dieses Thema bitte beenden?«
»Ist ja gut«, sagte sie. »Tut mir leid.«
Ich zwang meine Zähne auseinander und machte meiner Mutter ein Angebot, das sie nicht ablehnen konnte.
»Wollen wir uns nicht mit dem Rest der Stadt in der Mall herumschieben und hinterher essen gehen?«
»Nur wir beide?«, fragte sie und ihre Miene hellte sich auf.
»Nur wir beide.«
»Das fände ich toll«, sagte sie. »Mit dir shoppen gehen.«
»Na also«, sagte ich. »Dann kaufen wir mir ein Anti-Homecoming-Kleid.«
Und Mom lachte.
Ich kam gerade von einem flotten Trainingsspaziergang durchs Viertel nach Hause, als mich eine Stimme von der anderen Straßenseite rief.
»Hey, Jess!«
Bridget stand in ihrer Einfahrt und winkte mich heran. Ich hatte keinen Schimmer, was sie von mir wollte. Wir hatten den ganzen Monat noch nicht miteinander gesprochen. Soweit ich wusste, machte sie mich immer noch persönlich für ihre Trennung von Burke verantwortlich, obwohl nicht ich ihren Typen verführt hatte.
»Jess! Komm mal her. Ich möchte mit dir reden.«
Sie schien unbewaffnet zu sein, also ging ich langsam über die Straße.
»Hey«, sagte sie.
»Hey.«
Sie griff nach ihrem Pferdeschwanz und strich daran herum – sie war nervös.
»Hast du grad irgendwie was vor?«
»Hm, eigentlich nicht.«
»Kannst du reinkommen, können wir uns unterhalten?«
»Klar«, sagte ich, »okay.«
Ich war schon sehr lange nicht mehr in ihrem Haus gewesen. Es stand noch mehr Schnickschnack und Nippes herum als früher. Aber es roch genauso wie immer, eine Mischung aus Kiefernduftspray und Jahrzehnten von Zigarettenqualm.
»Möchtest du was trinken?«
»Klar«, sagte ich. »Habt ihr immer noch nichts außer Cola light und Würzsoßen im Kühlschrank?«
Sie lachte und machte die Kühlschranktür auf. Drinnen standen zwei Paletten Cola light, halb leere Gläser Ketchup, Senf und Mayonnaise und ein paar in Alufolie gewickelte Reste.
»Manches ändert sich nie«, sagte sie.
»Ist deine Mutter da?«, fragte ich.
»Ist meine Mutter überhaupt mal da?«
Ich schloss daraus, dass Mrs Milhokovich wie immer weg war. Bridgets Eltern sind geschieden. Ihr Vater zahlte zwar anständigen Unterhalt, aber Mrs Milhokovich musste trotzdem ziemlich viel in der Oceanfront Tavern kellnern, um über die Runden zu kommen. Die Tavern war so ein typisches Restaurant für Jerseys Küste: mit Surf and Turf-Teller für $12,99, marineblau gestrichenen Treibholzschildern an den Toiletten und Positionsleuchten an den Wänden. Als wir noch klein waren, kam Bridget fast immer zu mir zum Spielen.
»Manches ändert sich nie«, sagte ich.
Wir gingen schweigend die Treppe rauf. Über jeder Stufe hing ein anderes gerahmtes Foto von Bridget an der Wand – je höher wir kamen, desto jünger wurde sie. Ganz oben erwartete uns ein grinsendes Vorschulmädchen mit Zöpfen in rosa-weiß karierter Latzhose von OshKosh B’Gosh. An die Bridget kann ich mich am besten erinnern.
Ihr Zimmer erkannte ich dagegen kaum wieder. Alle Erinnerungen an B. und B. waren verschwunden und durch Poster alter Filmstars ersetzt: Marilyn Monroe, Audrey Hepburn, James Dean.
Sie setzte sich auf die Bettkante. Ganz geschäftlich. Ich lümmelte mich auf einen Sitzsack, weil ich so cool und entspannt wie möglich wirken wollte.
»Du fragst dich bestimmt irgendwie, wieso ich dich reingeholt habe«, sagte sie.
»Weißt du noch, dein erster Leitartikel? ›Miss Hyacinth Anastasia Wallace: eine Falschspielerin wie wir alle‹?«
»Hey – wie könnte ich den Artikel vergessen, der den berüchtigten Cheerleader-Zickenkampf ausgelöst hat?«
Sie kicherte nervös. »Ach ja.«
Dann stand sie auf und schaltete das Radio an. Die jüngste (und lausigste) Casting-Boygroup aus Florida jaulte irgendwas von einem tollen Mädchen, »2 Good 2 B 4 Me«. Ich nippte an meiner Cola light. Schmeckte furchtbar, mussten mindestens noch drei Päckchen Zucker rein.
»Ich habe schon beim ersten Lesen absolut verstanden, was du sagen wolltest«, sagte sie. »Ich hab’s dir nur nicht sagen können, weil plötzlich alles in die Luft ging.«
»Ah so.«
»Ich hab die Zeitung jedenfalls heute beim Aufräumen gefunden und wollte sie schon wegschmeißen, aber dann habe ich den Artikel noch mal gelesen.«
»Aha.«
»Und dabei ist mir klar geworden: Mann! Wie bescheuert ist das eigentlich, dass ich auf dich sauer bin?«
»Echt?«
»Ich habe dich doch nie gefragt, was eigentlich bei Burke so gelaufen ist«, sagte sie. »Ich habe irgendwie total das Gegenteil gemacht. Ich habe alles getan, damit du es mir nicht erzählst. Ich wollte die Wahrheit gar nicht hören, weil es nämlich genau so ist, wie du schreibst – es ist viel einfacher, Lügen zu erzählen, die die anderen hören wollen. Bloß dass ich mich in diesem Fall irgendwie selbst belogen habe. Verstehst du?«
Konnte ich eigentlich nicht behaupten.
»Na ja, ich drücke mich vielleicht nicht so klar aus«, sagte sie. Sie hielt sich den Pferdeschwanz unter die Nase wie einen Schnauzbart. Dann packte sie aus.
»Weißt du den wahren Grund, wieso ich im Sommer nach L. A. gegangen bin?«
»Äh … um Schauspielerin zu werden?«
»Irgendwie schon«, sagte sie. »Aber du hast es ja vorher selbst gesagt: Ich bin keine Schauspielerin«, hier holte sie aus und zeigte auf die Ikonen an den Wänden, »jedenfalls noch nicht.« Sie streckte ihrem Spiegelbild die Zunge raus.
»Ach.« Ich hatte keine Ahnung, wo das hinführen sollte.
»Das war irgendwie bloß ein Vorwand. Sonst hätte Mom niemals Ja gesagt.«
»Aha.« Ich kapierte immer noch nichts.
»Der eigentlich Grund war: Ich dachte, wenn Burke mich vermisste, würde er mich mehr zu schätzen wissen, wenn ich wiederkomme«, sagte sie. »Oh Mann, was für ein Blödsinn.«
»Das heißt, zwischen dir und Burke lief es vorher schon nicht gut?«
Bridget schüttelte den Kopf.
»Was war denn los?«
»Das will ich jetzt echt nicht vertiefen«, sagte sie. »Es war nichts Schlimmes. Es war bloß irgendwie langweilig. Wir waren drei Jahre zusammen, und alles war ein bisschen lahm geworden.«
Ich weiß gar nicht, wieso mich das überraschte. Burke war echt langweilig. Ich hatte bloß immer angenommen, Bridget auch, und deshalb war es ihr egal. So ähnlich wie bei Bethany und G-Money.
»Ich hätte einfach mit ihm Schluss machen sollen.«
»Und warum hast du nicht?«
Sie holte tief Luft und hielt sie ein paar Sekunden an, bevor sie antwortete.
»Weil ich Angst vorm Alleinsein hatte.«
Die Worte hallten in mir nach wie ein Lieblingssong. Weil ich Angst vorm Alleinsein hatte.
»Aber du hattest doch Manda und Sara …«
Sie seufzte. »Ich weiß, du warst sehr damit beschäftigt, Hope hinterherzutrauern, deshalb hast du auch gar nicht gemerkt, dass ich außerhalb der Schule ungefähr genauso viel mit ihnen gemacht habe wie du.«
»Was?« Wie konnte das sein?
»Ehrlich«, sagte sie. »Die haben mich genauso oft außen vor gelassen wie dich.«
Dann zählte sie mir ein paar Beispiele auf, die ich verdrängt oder nicht bemerkt hatte: Bridget war in den Frühjahrsferien nicht als Sextouristin mit nach Mexiko geflogen. Bridget war nicht mit auf Shoppingtour in New York City. Bridget war nicht bei der Party nach der Prom Night gewesen. Während der heißen Hy-Phase war Bridget zur unbeteiligten Zuschauerin geworden. Aber weil sie nicht Hope war, hatte ich sie einfach mit Manda und Sara in einen Topf geworfen.
»Und je mehr sie zusammengluckten, desto verzweifelter habe ich mich an Burke geklammert.«
Mir fiel ein, dass ich kurz davor gewesen war, wieder mit Scotty zu gehen, bloß um was mit meiner freien Zeit anzufangen. Ich konnte Bridget echt keinen Vorwurf machen. Kein bisschen.
»Aber ich verstehe einfach nicht, wieso wir beide nicht mehr miteinander reden sollten«, sagte sie. »Das ist doch – oh Mann! Vor allem, weil du doch irgendwie der einzige Mensch bist, der nachvollziehen kann, was ich durchmache. Wir waren beide die ganze Zeit immer nur mit einem Menschen zusammen. Und der oder die ist jetzt weg.«
Oh Mann. Nicht ein einziges Mal war mir bisher aufgefallen, wie vergleichbar ihre und meine Lage war. Immerhin war Hope zumindest emotional immer noch für mich da. Aber für Bridget war Burke ausradiert. Für immer.
Ich hätte getippt, dass Bridget eher eine Methode zur Kernfusion entwickelt, als mich positiv zu überraschen. Aber ich kann offen zugeben, wenn ich mich geirrt habe. Und bei Bridget habe ich mich geirrt. Sie ist sicher kein Genie, aber auch nicht so hirnlos, wie ich gedacht habe.
So. Da steht es.
Aber diese Unterhaltung ändert trotzdem nichts Grundlegendes. Bridget und ich werden nicht wieder beste Freundinnen. Aber immerhin gibt es einen Menschen weniger auf der Welt, der mich hasst. Kann ja nur gut sein.
DREIUNDZWANZIGSTER
An Thanksgiving passiert alles früher.
Du stehst um acht Uhr auf (volle vier Stunden früher als normal), um dir die Rockettes anzugucken, die sich in albernen Uniformen bei der albernen Parade nass regnen lassen müssen. Schon um neun hast du deinen Vater verärgert, weil du ihm an den Kopf geworfen hast, dir lieber noch mal das Bein brechen zu wollen, als mit rot-weiß geschminktem Gesicht zu Pinevilles Homecoming-Footballspiel zu gehen. Um elf weist du deine Mutter darauf hin, dass sie viel zu viel Essen für vier Leute kocht, was sie zum ersten von vielen Gläsern Chardonnay greifen lässt. Um zwölf Uhr mittags hat dich Großmutter Gladdie schon eine Milliarde Mal gefragt, ob du einen Freund hast, es dann wieder vergessen, noch eine Milliarde Mal gefragt und so weiter bis zum Aufbruch. Um ein Uhr stellst du für heute den Fernseher aus, weil dir klar wird, dass es überall nur Football und nichts als Football geben wird. Um halb vier kommt der Truthahn auf den Tisch. Um vier der Nachtisch. Dann fängt das Tryptophan an zu wirken und du schläfst noch vor den Fünf-Uhr-Nachrichten ein.
So war es jedenfalls dieses Jahr bei uns.
Um acht Uhr abends erwachte ich aus meinem Essenskoma. Nichts zu tun. Zu früh, Marcus anzurufen. Den rief ich immer um Mitternacht an. So war unser Deal. Aber ich dachte mir, vielleicht war auch bei ihm heute alles früher. Also griff ich zum Hörer und wählte seine Nummer.
Es klingelte einmal. Zweimal. Dreimal.
Dann ein ungewohntes Klicken und eine Ansage. »Hier ist Marcus, aber nicht wirklich …«
Ich bekam Panik und legte auf, bevor er zu Ende gesprochen hatte. Eine Nachricht zu hinterlassen, das brachte ich nicht. Das war irgendwie so … verzweifelt.
Um Mitternacht rief ich wie üblich wieder an.
Wieder keiner da.
Es war das erste Mal, dass Marcus nicht ranging, wenn ich anrief, und es brachte mich echt durcheinander. Ich musste mir beinahe die Hände zusammenkleben, damit ich nicht alle fünf Minuten wieder wählte, bis er endlich abhob. Und ich habe es nur deshalb gelassen, weil ich nicht weiß, ob er Ruferkennung hat. Er soll ja nicht sehen, dass ich es eine Milliarde Mal versucht habe. Das wäre total psycho.
Irgendwie war ich auch ganz froh: So kam ich endlich zur Vernunft. Ich werde ihn nicht mehr anrufen. Ich habe dieser Beziehung oder was es sonst sein soll, viel zu viel Platz eingeräumt. Klar, er hilft mir, nachts zu schlafen. Klar, dank Marcus fühle ich mich beim Aufwachen besser. Aber wenn ich ihn weiter als Schlaftablette missbrauche, werde ich noch abhängig. Und dafür gibt es kein Zwölf-Schritte-Entwöhnungsprogramm.
Und außerdem bin ich ja auch nicht seine Freundin. Das wäre was anderes; dann könnte ich mich aufregen, dass er nicht da ist. Bin ich aber nicht. Ich muss mich also zusammenreißen. Oder vielmehr entspannen. Und deshalb werde ich ganz bewusst nicht an ihn und Mia beim Homecoming-Ball morgen Abend denken.
Aber irgendwie glaube ich selbst nicht dran. Es ist viel schwerer, als ich dachte.
VIERUNDZWANZIGSTER
Schwarzer Freitag.
Wie passend, dachte ich, als ich nach ruheloser, Marcus-freier Nacht erwachte. Wie bin ich bloß drauf gekommen, Mom ihren Geburtstag zu verschönern? Wie kann ich mir einbilden, ich könnte irgendwem bessere Laune machen?
Als ich zum Frühstück runterkam, war sie schon fertig angezogen und ausgehbereit.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Mom.«
»Ich dachte schon, du würdest nie aufstehen!«, sagte sie. »Ich wollte dich schon wecken, aber du weißt ja selbst, was du dann für eine Laune kriegst!«
Sie hat Geburtstag, sagte ich mir. Sei nicht zickig.
»Schon halb elf!«, rief sie und zeigte auf ihre Uhr. »Wir müssen los, wenn wir noch irgendwas finden wollen! Die Läden sind bestimmt schon alle völlig geplündert!«
Sie hat Geburtstag. Sie hat Geburtstag. Sie hat Geburtstag. Sei nicht zickig. Sei nicht zickig. Sei nicht zickig.
Ich schob mir eine trockene Handvoll Cap’n Crunch in den Mund und rannte wieder nach oben, um mich anzuziehen. Fünf Minuten stand ich in Unterwäsche vor dem Kleiderschrank und überlegte, welches Outfit wohl am wenigsten Anstoß erregen würde. Ich entschied mich für eine hellbraune Cordhose und ein sandfarbenes Hoodie. Neutrale Farben. Neutralität. Frieden.
Ich putzte mir die Zähne, wusch mir das Gesicht, steckte mir eine Spange ins Haar, schmierte mir Labello auf die Lippen. Nach sieben Minuten war ich wieder unten in der Küche.
»Na los.«
Meine Mutter fuhr überrascht aus dem Sitz hoch. »Schon?«
»Besser wird’s nicht, Mom.«
»Weißt du was«, sagte sie und griff nach ihrem Kamelhaarmantel, »das ist der Vorteil, wenn ich statt mit Bethany mit dir losgehe. Auf dich muss ich nicht stundenlang warten.«
Na, da war ich aber froh, dass es immerhin einen Vorteil gab. Einer mehr, als ich gedacht hatte.
In der Shoppingmall wird die Weihnachts-Deko noch vor Thanksgiving aufgehängt. Die grün-rote Jingle-Bells-Atmosphäre hätte mich also in Festtagslaune versetzen können, wenn ich gewusst hätte, für welchen Festtag.
»Ist das nicht ein großer Spaß?«, sagte Mom, und ihr begeisterter Griff nach meinem Arm schnürte mir den Blutkreislauf ab.
Ich lächelte und zeigte alle Zähne.
Mom wollte, dass wir uns erst mal eine Stunde trennen, damit wir Weihnachtsgeschenke kaufen konnten, ohne die Überraschung zu verderben. War mir recht. Ich hatte schon Geschenke für alle. Das Thema dieses Jahr war Zeitschriften, und ich hatte für die ganze Familie Abos bestellt. (Für Mom Martha und House Beautiful. Für Dad PC World und Cycling. Für Bethany Cosmopolitan und People. Für G-Money irgendwelche stinklangweiligen Wirtschaftsmagazine.) Und für Hope hatte ich ein gefälschtes Teenie-Magazin-Cover gebastelt. Ich wollte auch mal was machen, das sie sich an die Wand hängen konnte. Dazu brauchte es kein künstlerisches Talent, bloß einen Computer. Ich hatte ein Foto von ihr eingescannt und Titelzeilen darübergeschrieben:
HOPE WEAVER PACKT AUS: »AUCH ALS TEEN QUEEN HAT MAN’S NICHT LEICHT«
WIE MAN AUF DER MÄDCHENSCHULE AN TYPEN KOMMT (OBWOHL KEINE DA SIND UND MAN SCHON DEN HAUSMEISTER KNACKIG FINDET)
KOMPLETT KARIERT: 101 TOLLE TIPPS FÜR DIE SCHICKE SCHULUNIFORM
SIND JERSEY GIRLS DIE TOLLSTEN DER WELT? UNSER QUIZ VERRÄT’S!!!
Ich finde es jedenfalls todkomisch.
Mom verriet ich natürlich nicht, dass ich schon alles geregelt hatte. Das hätte ihr das schon angeknackste Herz gebrochen. Also saß ich eine Stunde im Innenhof und tankte mit Zimtbrötchen und Cola auf, weil ich ja wusste, gleich würde unsere Suche nach dem Anti-Homecoming-Kleid losgehen, und dafür brauchte ich enorme Zuckerreserven.
Ich weiß natürlich, als echt amerikanisches Mädchen müsste ich total happy sein, weil meine Mutter findet, ein Kleid für mich zu kaufen ist ein schöneres Geschenk als der Mini-Flakon Chanel No. 5, den Dad und ich ihr besorgt hatten. Aber es war trotzdem eine Quälerei.
»Ooooooh«, gurrte sie, stellte ihre Einkaufstaschen ab und nahm ein Stück dunkelroten Samt zwischen die Finger. »Darin würdest du wunderhübsch aussehen.«
»Mom, du hast wohl nicht ganz verstanden«, sagte ich. »Es soll ein Anti-Homecoming-Kleid werden. Das heißt eins, das ich niemals zum Homecoming-Ball anziehen würde.«
»Ach so«, sagte sie, ihre Stimme so flach wie meine Brust. »Also was für eins?«
»Jedenfalls bestimmt keins aus der Abteilung Junge Mitternachtsträume bei Macy’s.«
Ich schleifte sie zu Delia’s, wo die Sachen zwar manchmal ein bisschen zu trendy sind, finde ich, aber wo ich meist irgendwas für meinen jämmerlichen spindeldürren Leib finde. Nachdem ich ungefähr ein Dutzend sehr mädchenhafte Vorschläge meiner Mutter abgelehnt hatte, zog sie schließlich einen Bügel vom Ständer, den ich akzeptieren konnte: ein Hemdkleid aus blaugrauem Cord mit Reißverschluss vorn. Süß, aber nicht zu süß. Ich zog es in der Umkleide an und war echt ziemlich angetan von meinem Spiegelbild. So sehr, dass ich rausging, um es Mom zu zeigen. Schwerer Fehler.
»In dem Kleid machst du deinem Namen alle Ehre«, sagte sie voll mütterlichen Stolzes. »Ein richtiger Darling.«
Ein Darling. Ich sah wie ein Darling aus, also kein bisschen wie ich selbst. Und da ging es mir endlich auf: Ich machte Mom an ihrem Geburtstag glücklich, weil ich mich wie Bethany aufführte. Auf einmal kam mir die ganze Unternehmung so dämlich vor. Ich brauchte dieses Kleid nicht. Ich musste für nichts und niemanden wie ein Darling aussehen. Ich zog den Reißverschluss runter, knautschte es wieder über den Bügel, machte die Tür auf und sagte Mom, wir müssten jetzt gehen.
»Du willst es nicht haben?« Sie war total niedergeschlagen.
»Nein.«
»Wieso nicht?«
»Weil ich es nicht brauche, Mom.«
»So ein Quatsch«, sagte sie und zog es wieder vom Bügel. »Ich kaufe es dir.«
»Mooooom«, sagte ich und wollte es ihr wieder wegnehmen. »Ich kann das niemals tragen.«
»Du wirst noch Gelegenheit dazu haben, versprochen.«
Wenn sie unbedingt grundlos ihre Kreditkarte belasten wollte, warum sollte ich sie dran hindern?
Vier große Kaufhäuser und einhundertsiebzig kleine Boutiquen später waren wir endlich fertig.
»War überhaupt nicht voll heute in der Mall«, bemerkte Mom beim Salat im TGI Friday’s.
Ich schob mir eine Handvoll Pommes in den Mund, um nicht wie Linda Blair in Der Exorzist Gift und Galle zu spucken.
»Ich wette, jetzt sitzen alle zu Hause und machen sich für den Homecoming-Ball fertig«, fuhr sie fort und spießte eine Kirschtomate auf.
Tödliche Blitze. Aus meinen Augen. Mitten in ihr Herz.
»Was denn?«, fragte sie.
»Kannst du nicht mal zwei Sekunden lang aufhören, mich an den Scheiß-Homecoming-Ball zu erinnern?«
»Pass auf, was du sagst, Schatz«, antwortete sie mit gepresster Stimme. »Ich kann eben nicht glauben, dass du das einzige Mädchen deines Jahrgangs bist, das keinen Jungen für den Ball abgekriegt hat.«
»Bridget geht auch nicht hin.«
»Bridget?« Sie setzte sich kerzengerade hin. »Bridget hat niemanden gefunden? Und was ist mit Burke?«
»Die beiden haben Schluss gemacht.«
»Schluss gemacht? Wann? Warum? Wie?«
Bei so was lebt meine Mom auf. Und weil sie Geburtstag hatte, gönnte ich ihr einen saftigen Leckerbissen. Außerdem fand ich, sie durfte ruhig mitkriegen, wie widerlich meine früheren falschen Freundinnen wirklich waren. Dann würde sie vielleicht nicht mehr so viel nörgeln, dass ich nichts mehr mit ihnen unternahm.
»Alles fing damit an, dass Manda mit Burke geschlafen hat, als Bridget in L. A. war …«
Und dann erzählte ich ihr die ganze Schmuddel-Story. Als ich fertig war, blieb ihr die Spucke weg.
»Ich glaube das einfach nicht.«
»Ist aber wahr.«
»Die Ärmste«, sagte Mom. »So ein hübsches Mädchen muss beim Homecoming-Ball ganz allein zu Hause sitzen.«
Schon wieder Homecoming. Oh Mann! Ich konnte kaum noch an mich halten.
»Sie sitzt nicht allein zu Hause«, sagte ich mit zugeschnürter Kehle. »Sie ist übers Thanksgiving-Wochenende zu ihrem Vater geflogen, weil ihre Mutter arbeiten muss.«
»Wir hätten sie zu uns einladen sollen«, sagte sie. »Das wäre doch lustig geworden! Ganz wie früher …«
Das war’s. Jetzt war Schluss.
»Ganz genau«, rief ich und warf angewidert die Serviette auf den Tisch. »Wie konnte ich bloß so blöd sein. Ich hätte dir Bridget zum Geburtstag mieten sollen! Als Leasing-Tochter. Dann hättest du dich nicht den ganzen Tag mit mir rumquälen müssen.«
»Ein bisschen leiser bitte!«
»Ich gehe!«, kreischte ich.
Für einen dramatischen Abgang ist es ganz hilfreich, wenn man ein bisschen weiter kommt als bis zum Parkplatz. Ich hatte nicht dran gedacht, mir die Autoschlüssel meiner Mutter zu schnappen, oder auch nur meinen Rucksack, um mir ein Taxi zu nehmen. Also saß ich fest. Ich musste vor dem Eingang der Mall auf einer Bank warten, dass Mom rauskam.
Ich hörte ihre Absätze schon, bevor ich sie sah. Sie ging schnurstracks an mir vorbei zum Auto. Ich hinterher. Sie schloss die Beifahrertür auf, damit ich einsteigen konnte – sie wollte also nicht ohne mich los.
»Möchtest du mir erzählen, was das gerade sollte?«
Zum Teil ja. Zum Teil nein.
»Ich fahre erst los, wenn du mir eine Erklärung lieferst.«
Ich war nicht sicher, wie ernst sie das meinte, aber ich hatte das Gefühl, jede Sekunde in diesem Auto raubte mir ein Jahr Lebenszeit.
»Ich …«
Als ich den Mund aufmachte, wollte ich ihr eigentlich nur so viel erzählen, dass sie den Zündschlüssel drehte und nach Hause fuhr. Aber nachdem ich einmal angefangen hatte, gab es kein Halten mehr.
»Ich … ich habe das Gefühl, du wärst nur dann gern mit mir zusammen, wenn ich jemand anders wäre, eine Schönheit wie Bethany oder Bridget. Und Dad kann bloß was mit mir anfangen, wenn ich die sportlichen Höchstleistungen bringe, die er eigentlich von seinem Sohn erwartet hatte. Aber wenn ich irgendwie versuche, ich selbst zu sein, dann seid ihr damit nicht zufrieden. Ständig versucht ihr mir meine Gefühle auszureden oder ein schlechtes Gewissen zu machen, weil ich nicht so denke wie ihr. Tut mir leid, dass ich nicht so beliebt bin, und nicht zum Shoppen geboren, und dass ich nicht jede Menge Freunde anschleppe, so wie Bethany. Tut mir leid, dass Matthew gestorben ist und Dad ihn nicht trainieren konnte! Aber das ist doch nicht meine Schuld! Ich habe echt die Nase voll, dass ihr beide das an mir auslasst!«
Als ich fertig war, liefen uns beiden die Tränen übers Gesicht. Ich wusste nicht, ob Mom mir eine runterhauen oder mich umarmen würde.
»Jessie«, sagte sie. »Ich … hatte … keine Ahnung … dass du …« Dann nahm sie mich in den Arm und strich mir übers Haar. Ihr Körper fühlte sich weich und warm an, wie damals, als ich noch klein war.
Sie ließ mich wieder los und legte mir die Hände an die Wangen. »Ich möchte nicht, dass du Bethany bist. Und dein Vater will auch nicht, dass du …« Sie brachte seinen Namen nicht über die Lippen. »Dass du irgendwer anders bist als du selbst. Das will keiner von uns beiden.«
»So fühlt es sich aber an«, sagte ich.
»Ich verstehe Bethany besser als dich. Es war mit ihr auch nicht immer ein Zuckerschlecken, aber sie war jedenfalls …« Sie legte den Kopf schräg und suchte nach dem richtigen Ausdruck. »Weniger kompliziert als du. Und als Mutter denke ich manchmal unwillkürlich, dass alles einfacher wäre, wenn meine Kinder beide so wären wie sie. Aber dann wärst du nicht du.«
»Was für eine Freude für alle, dass ich es doch bin.«
»Du darfst nicht immer solche Sachen sagen«, fuhr sie fort. »Ich weiß, im Moment ist alles ziemlich schwer für dich. Und ich werde bestimmt nie ganz begreifen, wieso. Aber ich glaube, diese Probleme werden am Ende einen besseren Menschen aus dir machen.«
»Aber wieso schweben manche Leute, zum Beispiel Bethany, so locker und leicht durch die Schule, durchs College, durchs Leben?«
»Ich liebe Bethany, das weißt du. Aber sie ist so daran gewöhnt, ihren Willen zu bekommen, dass sie sehr verwöhnt und egoistisch geworden ist. Und daran trage ich auch Mitschuld. Aber früher oder später wird sie damit Schwierigkeiten kriegen.«
Das klang alles sehr vertraut, wie ein Dialog zwischen unverstandenem Teenager und einfühlsamem Elternteil aus einem meiner Lieblingsfilme. Normalerweise würde ich mich bei einer solchen Enthüllung totlachen. Oder vor Peinlichkeit krümmen. Oder heulen. Wieso? Weil sie zeigt, dass ich ein ganz typischer Fall bin und nicht der komplexe, rebellische Charakter, für den ich mich (tief drinnen) halte. Aber in dem Augenblick war es mir total egal, dass Mom sich so klischeehaft anhörte und ich mich deswegen auch. Ich fühlte mich einfach besser.
Als wir zu Hause waren, beschloss ich, Mom meine Leitartikel zu zeigen. Wenn sie wirklich wissen wollte, was im Kopf ihrer zweiten Tochter vorging, bitte.
»Du schreibst für die Schulzeitung?«
»Na ja«, sagte ich. »Ist keine große Sache.«
»Warum hast du mir das nicht erzählt?«
»Wie gesagt, keine große Sache.«
Sie nahm ihre Lesebrille und schlug The Seagull’s Voice auf. Ich musste rausgehen, weil ich es nicht ertragen konnte, ihre Reaktion zu sehen.
Ungefähr zehn Minuten später klopfte sie an meine Zimmertür.
»Junge, Junge«, sagte sie. »Du bist wirklich wie dein Vater.«
Das war nun nicht gerade die Reaktion, die ich erwartet hatte.
»Ich wie Dad? Auf keinen Fall.«
Sie seufzte und setzte sich zu mir aufs Bett. »Ihr seid beide Perfektionisten. Beide Dickköpfe. Kommt beide nicht so gut mit Menschen klar. Kriegt beide Depressionen, wenn was nicht so läuft, wie ihr wollt. Ihr denkt beide viel zu viel nach. Und lasst beide eure Gefühle nicht raus, bis ihr dann im unpassendsten Moment in die Luft geht«, sagte sie und fuhr mit dem Finger die Dreiecke auf meinem Quilt nach.
»Wenn wir uns so ähnlich sind, wieso können wir dann über nichts als Laufen sprechen? Ansonsten reden wir kein Wort miteinander.«
»Er hat das Gefühl, das ist euer gemeinsames Ding«, sagte sie. »Auf diese Weise versucht er mit dir Kontakt aufzunehmen.«
»Aber er setzt mich immer so unter Druck! So sehr, dass ich anfange, ihn und den Sport zu hassen, und gar nicht mehr laufen will.«
»Ich weiß«, sagte sie. »Versuch einfach mal dran zu denken: Wenn er mit dir übers Laufen redet, dann weil er dich liebt, nicht weil er dich quälen will.«
Ganz tief im Inneren war mir das schon klar. Aber manche Dinge sind leichter gesagt als getan.
»Danke, dass du mir deine Artikel gezeigt hast«, sagte Mom und stand auf. »Das war das tollste Geburtstagsgeschenk, das ich je gekriegt habe.«
SECHSUNDZWANZIGSTER
Heute Abend rief Hope an, heulend, schluchzend, halb erstickt.
Heath wäre heute zwanzig geworden.
Was sie am meisten fertigmachte: Ihr neues Privatschulleben beschäftigte sie so, dass sie den Geburtstag ihres Bruder schlicht vergessen hatte, bis ihre Eltern anriefen und fragten, wie es ihr denn an diesem traurigen Tag ging.
»Wie konnte ich mein Leben einfach so weiterlaufen lassen?«, fragte sie mich. »Wie konnte ich nur?«
Ich stellte mir stumm die gleiche Frage. Wie konnte ich nur?
Ja. Wie kann ich nur mit Marcus sprechen, der doch indirekt für den Tod des Bruders meiner besten Freundin mitverantwortlich ist und dem das alles so egal ist, dass er das Thema noch nicht einmal angeschnitten hat? Sich nie entschuldigt, nie Trauer oder Reue oder sonst was gezeigt hat?
Und beinahe wäre ich gestern Nacht schwach geworden und hätte ihn angerufen.
Wie konnte ich nur?
DREISSIGSTER
»Jetzt habe ich seit einer Woche nichts von dir gehört. Was ist los?«
Marcus hatte mir vor dem Geschichtsunterricht auf die Schulter getippt. Am Hals, direkt über dem Hemdkragen, prangte eine schwache, aber frische Spur Lippenstift von Mia. So ein matter Ton, der auf seiner immer noch gebräunten Haut nicht besonders auffiel, aber trotzdem deutlich sichtbar war.
»Nichts ist los. Ich habe einfach nicht angerufen, das ist alles.«
In Wahrheit hatte ich mein Marcus-Moratorium schon aufheben wollen, bevor es richtig angefangen hatte. Aber das schlechte Gewissen wegen unserer mitternächtlichen Telefonate siegte schließlich über das Schlafbedürfnis. Außerdem wollte ich einfach keine Details über den Homecoming-Ball hören. Ich fühlte mich schon wie eine Hälfte seiner vollkommenen Frau: Mia war der Körper, ich war der Geist. Wenn ich ihn zusammen mit Mia sah, erinnerten mich die beiden an die Twin Towers. Und ich war irgendein unbedeutender Bürgersteig.
»Aha«, sagte er. »Heißt das, du willst, dass ich dich anrufe?«
Wollte ich, dass er mich anruft? Wollte ich, dass er mich anruft?
Ja. Nein. Ja?
»Brauchst nicht zu antworten«, sagte er. »Ich weiß jedenfalls, dass ich dich anrufen will. Also werde ich anrufen. Und wenn du mit mir reden willst, dann reden wir. Wenn nicht, kannst du auflegen.«
Er streckte die Hand aus. »Abgemacht?«
Ich zögerte. Er griff nach meiner. Wir schüttelten einander die Hände – Hautkontakt. Ja.
Und dann fuhr mir ein Blitzstrahl direkt zwischen die Beine. Ka-WUUUMM!