In meinem Psychobuch steht, dass längerer Schlafmangel einen tatsächlich wahnsinnig machen kann. Ich bin der lebende Beweis. Was sonst hätte mich dazu treiben können, meinen Ruf zu riskieren? Mein Leben?
Aber von vorn:
Heute hatten wir in Französisch eine Vertretung, was bedeutete, dass die Doppelstunde mit einem untertitelten Gérard-Depardieu-Film vergeudet wurde. Auf keinen Fall wollte ich mir die Gelegenheit entgehen lassen, ein bisschen Schlaf zu kriegen, also täuschte ich Unterleibskrämpfe vor und durfte ins Krankenzimmer.
Schulschwester Payne wollte meine Eierstöcke mit elektrischen Heizkissen besänftigen, aber ich bestand darauf, dass ich bloß ruhig liegen müsse, bis mein Schmerzmittel gegen PMS-Beschwerden Wirkung zeige. Sie insistierte nicht lange, weil irgendwo ein Streit zwischen Prolls und Wiggaz ausgebrochen war und sie ein paar kleinere Schrammen und Beulen behandeln musste.
Also schickte sie mich rasch in den Erholungsraum, den ich nur für mich allein hatte! Eine Dreiviertelstunde lang! Zwei Sekunden nachdem ich auf die Liege gefallen war, schlief ich schon.
Als Nächstes spürte ich ein sanftes Kitzeln an der Wange. Jemand flüsterte, »Wach auf, Schlafmütze …«
Dann knipste dieser Jemand die Lampe an und blendete mich. Während meine Augen sich an das Neonlicht gewöhnten, sah ich eine dunkle Gestalt … eine männliche Gestalt … eine männliche Gestalt in einem Dawson’s Creek-T-Shirt … Marcus Flutie.
Marcus Flutie!
Vom Tiefschlaf in den Alarmzustand in einer Millisekunde.
»Was machst du denn hier?«
»Hey, Cuz«, sagte er. »Du musst mir einen Gefallen tun.«
Ich sollte ihm einen Gefallen tun. Ich sollte Marcus Flutie einen Gefallen tun. Wieso?
»Einen Gefallen? Wieso das denn?«
Er beugte sich vor, als ob er sich den Schuh binden wollte. Stattdessen krempelte er seine zwei Handbreit umgeschlagenen Jeans herunter und zog einen Joghurtbecher aus Plastik hervor. Vanille.
»Verstaust du da immer dein Mittagessen?«, kicherte ich. Verdammt. Ich kaute an meiner Unterlippe. Noch mal verdammt.
Er nahm den Deckel vom Joghurtbecher: Er war leer. Und dann richtete Marcus die bizarrste Bitte an mich, die ich je gehört hatte.
»Du musst für mich da reinpinkeln.«
»Was?!«
Er wiederholte den Satz. »Du musst für mich da reinpinkeln.«
Ich wiederholte mich ebenfalls. »Was?!«
Er setzte sich neben mich, viel dichter als nötig.
»Mein Bewährungshelfer ist plötzlich aufgetaucht und will einen überraschenden Urintest haben«, sagte er. »Ich weiß, du hältst mich für Ausschuss, wertlosen Abschaum, der es verdient hat, verknackt zu werden. Aber außer ein paar Joints und ein paar Es habe ich …«
»Du willst, dass ich deinen Drogentest fälsche? Bist du wahnsinnig? Ich kenne dich nicht einmal!«
»Ich kenne dich besser, als du glaubst.«
Ich schnaubte. »Woher willst du mich kennen?«
Als Antwort legte er mir die Hand aufs Knie.
Ich drehte beinahe durch. Ich war überzeugt, wenn die Schulschwester jetzt reinkam und Marcus und mich nebeneinander auf der Liege sitzen sah, seine Hand auf meinem Knie, würden wir schon deshalb beide nach Hause geschickt oder von der Schule verwiesen werden, oder Schlimmeres.
»Moment mal. Ist das mit dem Urintest keine Verletzung deiner Grundrechte?«
»Als Minderjähriger und mehrfacher Gesetzesbrecher habe ich keine Rechte«, antwortete er amüsiert glucksend. »Du kannst ja die Bürgerrechtsunion anrufen.«
Ich sah den Joghurtbecher an, dann die Wanduhr. Tick-tack. Tick-tack.
»Payne kommt jeden Augenblick wieder rein. Wenn du es nicht tust, werde ich endgültig von der Schule geschmissen.«
Konnte er seine Argumente nicht ohne Hand auf meinem Knie vortragen?
»Du würdest mich vor einem Leben auf der Straße bewahren.«
Sollte ich sie nicht besser abschütteln?
»Du würdest mir das Leben retten. Dann schulde ich dir auch einen Gefallen, und ich breche meine Versprechen nie.«
Würde man nicht merken, dass da ein Mädchen in den Becher gepinkelt hatte?
»Ich kann nicht«, sagte ich und schaute zur Seite.
Marcus stand auf und ging zur Tür. Bevor er hinausging, drehte er sich um und sagte einen Satz, der mich unglaublich ärgerte.
»Ich wusste, du tust es nicht.«
Ich kann gar nicht beschreiben, was für eine rasende Wut mich überkam.
Ich hatte so die Schnauze voll davon, dass alle Welt mir erzählte, was ich tun würde und könnte und sollte und was nicht. Meine Eltern. Der Club der Ahnungslosen. Hy. Und jetzt auch noch Marcus. Ein Zorn, der schon seit Monaten, Jahren, mein ganzes Leben lang in mir brodelte, kochte über, und Marcus bekam alles ab.
»Woher willst du wissen, was ich tue?«
Ich riss ihm den Joghurtbecher aus der Hand und rannte in die Toilette, um hineinzupinkeln. Dann kam ich wieder raus und drückte ihm den warmen Becher in die Hand. Diese unerwartete Wendung hatte ihm die Sprache verschlagen, er stand bloß da und wusste nicht, was er tun sollte. Schließlich sagte er: »Ich werde dich nicht verpfeifen.«
Dann ging er ohne weiteres Wort hinaus. Ich blieb zwanzig Minuten auf der Liege sitzen und hyperventilierte, bis es zur Stunde klingelte. Als ich ins Sprechzimmer der Schulschwester trat, war Marcus nicht mehr zu sehen.
Den Rest des Tages lief ich wie durch Nebel und machte mir Gedanken, was wohl mit ihm – und mit mir – passieren würde. Wie lange man wohl auf die Resultate eines Drogentests wartet? Vielleicht pinkelte man auf so ein Stäbchen und es wurde bei Hasch sofort lila, wie ein Schwangerschaftstest?
Ich wartete, dass Streifenwagen mit heulenden Sirenen auf den Parkplatz einbogen. Dass Marcus, schreiend und um sich schlagend, in Handschellen auf den Rücksitz gedrängt wurde, um in die Middlebury Clinic verfrachtet zu werden, eine der besten Entziehungskliniken des Staates. Dass die ganze Schule ihn rufen hörte: »Keine Sorge, Cuz! Ich werde dich nicht verpfeifen!« Wochenlang würden sich alle fragen, wer wohl mit »Cuz« gemeint war.
Aber nichts geschah.
Ich spüre immer noch die Hitze seiner Hand auf dem Knie.
FÜNFTER
Hätte ich nicht diesen Traum gehabt, könnte ich schwören, das ganze Wochenende hellwach gewesen zu sein.
Ich schlafe auf der Liege im Erholungsraum der Schulschwester. Diesmal habe ich aber das Licht angelassen. Als die Tür aufgeht, sehe ich also sofort, dass Paul Parlipiano reinkommt.
Er setzt sich neben mich und sagt, »Ich brauche deine Hilfe.«
Ich frage: »Meine Hilfe? Wofür brauchst du meine Hilfe?«
Er zieht einen Joghurtbecher aus seinen umgeschlagenen Khakihosen.
Er: »Du musst hier reinpinkeln.«
Ich: »Kein Problem. Ich mach’s.«
Er weiter: »Wenn du das tust, verspreche ich, mit dir zu schlafen.«
Ich also: »Kein Problem. Ich mach’s.«
Und er: »Und ich breche meine Versprechen nie.«
Und ich: »Kein Problem. Ich mach’s.«
Ich sehe zwar nicht, wie ich es tue, aber ich glaube, ich tu’s.
Dann sagt Paul Parlipiano, »Danke. Jetzt werde ich mit dir schlafen«, und knipst das Licht aus.
Dann haben wir wohl Sex, schätze ich, aber auch das kann ich nicht sehen.
Einen Augenblick später höre ich ein Mädchen kichern. Die Tür öffnet sich und das Licht leuchtet auf.
Es ist die lachende Kelsey, die Scotty an der Hand ins Zimmer zerrt. Sie sagen es zwar nicht, aber ich weiß einfach, dass sie sich hier reingeschlichen haben, um es zu tun.
Scotty sieht mich beim Sex und schreit: »Wie kannst du nur mit Marcus Flutie poppen?«
Ich kreische zurück: »Aber das ist doch Paul!«
Und ich sehe Paul Parlipiano ins Gesicht, aber er ist es gar nicht. Scotty hat Recht: Es ist Marcus Flutie.
Das nenne ich mal einen Hirnfick.
Versteht sich von selbst, dass ich heute bei Schulbeginn eine wandelnde Panikattacke war. Ich hatte das ganze Wochenende Zeit, mir über die Sache mit Marcus Gedanken zu machen, und jetzt stand ich am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Ich hoffte inständig, Marcus würde zur ersten Stunde erscheinen, weil das bedeutete, dass alles geklappt hatte und ich nicht auffliegen würde. Dann könnte ich endlich meine Paranoia begraben.
Mein erleichterter Seufzer, als Marcus vor der ersten Stunde an meinem Tisch vorbeischlenderte, hätte einer ganzen Armada die Segel gebläht.
Während des Fahneneids, der Anwesenheitsprüfung, der offiziellen Mitteilungen schaute ich die ganze Zeit zu ihm rüber und hoffte, er würde meinen Blick erwidern. Aber er hielt den Kopf über sein Heft gebeugt, bis es klingelte. Marcus war clever. Er wusste genau, jedes ungewöhnliche Verhalten von einem von uns würde Verdacht erregen.
Als ich hinaus in den Flur ging, wurde ich von hinten sanft geschubst. Ich drehte mich um und war zum ersten Mal nicht überrascht, Marcus zu sehen. Er entschuldigte sich mit seinem typischen Grinsen, legte mir eine Hand fast auf den Po und die andere an meine Hüfte, um sich »abzustützen«. Bevor ich auch nur fragen konnte, was das sollte (hätte ich allerdings auch gar nicht), war er schon vorbei, seine Augen blitzten kurz auf, und sein angenehm holziger Duft blieb in der Luft hängen.
»Ohmeingott! Der ist so fertig, der kann nicht mal mehr geradeaus laufen«, blökte Sara.
Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie gern ich ihr gesagt hätte, dass sie – Ohmeingott! – bitte einmal die Schnauze halten soll.
Nach ein paar Schritten bemerkte ich eine Beule in meiner hinteren Hosentasche. Glücklicherweise hatte Sara gerade die Ahnungslosen am Ende des Flurs entdeckt und rannte hinter ihnen her. Ich war ein paar Millisekunden allein, griff rasch in die Tasche, und tatsächlich: Da steckte eine Heftseite, kunstvoll zu einer quadratischen Origami-Figur gefaltet, die sich wie eine Blume öffnete und schloss. Oder wie ein Mund.
Von Marcus! Ich wollte sie unbedingt auffalten.
Doch im gleichen Augenblick kam der Club der Ahnungslosen auf mich zu. Verdammt! Schnell stopfte ich Marcus’ Geschenk wieder in die Hosentasche. Was er mir auch sagen wollte, ich musste es allein und in Ruhe lesen.
Jetzt kommt die ironische Wendung: Obwohl ich mir immer so einsam und alleingelassen vorkomme, hatte ich den ganzen Tag nicht eine Sekunde für mich. Jedes Mal, wenn ich mich davonstehlen wollte – zu meinem Spind, auf die Toilette, vor dem Sport in die Dusche –, musste mir irgendwer unbedingt ein Gespräch aufzwingen. Der gefaltete Brief brannte mir fast sechs Stunden lang ein Loch in die Tasche. Die Spannung wurde so schmerzhaft, dass ich mich nach der letzten Stunde – Sport – nicht mal umzog, sondern sofort nach Hause und rauf in mein Zimmer rannte.
»Jessie, ich möchte mit dir reden«, sagte Mom, als ich die Treppe hochraste.
»Sofort!«, rief ich und schloss hinter mir ab.
Ich holte meine Jeans aus dem Rucksack, steckte die Hand in die hintere Tasche und zog – nur Fussel raus.
»Jessie?«, rief Mom aus der Küche.
Schnell schüttelte ich auch die anderen Taschen aus, obwohl ich genau wusste, ich hatte Marcus’ Botschaft nicht hineingesteckt. Dann ging ich den Rucksack durch und schüttete schließlich alles auf dem Boden aus.
»Jessica!«, schrie meine Mutter.
Jetzt geriet ich in Panik. Meine Ohren brannten, ich fing an zu schwitzen. Wo konnte der Zettel sein? In wessen Hände war er geraten? Ich kniete mich hin und hob jeden einzelnen Gegenstand vom Boden auf: Jeans; gestreiftes Tanktop mit V-Ausschnitt; BH; Chucks; Der Fänger im Roggen; zwei College-Blöcke; Chemiebuch; Sitzungsfahrplan der Schülervertretung; drei Schokoriegel-Verpackungen; Taschenrechner; Textmarker; Deoroller; Carmex-Lippenbalsam; Bürste; verschiedene Stifte.
Kein Origami-Mund von Marcus.
»Jessica Lynn Darling! Komm jetzt sofort hier runter!«
Ich ging runter und hielt mir den Bauch – diesmal war es echt. Eine dicke Sorgenkugel hüpfte in mir auf und ab, aber ich log Mom vor, es sei meine Regel. Das erleichterte sie so, dass sie mich sofort ziehen ließ, als ich auf mein Zimmer wollte. Und hier habe ich in den letzten zehn Stunden die eben aufgezählten Gegenstände ungefähr eine Milliarde Mal hin und her gedreht.
Wie kann ich bloß das Wichtigste verlieren, was mir je irgendwer gegeben hat? Die einzig logische Erklärung ist: Es gab nie einen Origami-Mund von Marcus. Ich habe mir das alles bloß ausgedacht, um mich selbst in den Wahnsinn zu treiben. Ich habe mir überhaupt die ganze Sache ausgedacht. Ich habe gar nicht in den Becher gepinkelt. Auf gar keinen Fall. Ich doch nicht. Warum sollte ich so was Verrücktes tun?
Wenn ich mir das nur lange genug einrede, glaube ich es vielleicht sogar.
SECHSTER
Heute bin ich mit einem festen Vorhaben zur Schule gegangen: die Botschaft des Origami-Mundes zu ergründen. Mir war schon klar, dass ich ihn nicht wiederfinden würde, also gab es nur eine Möglichkeit, so erschreckend wie erregend:
Ich würde Marcus fragen, was drinstand.
Das war natürlich aus den offensichtlichen Gründen eine Riesensache (ich bin ich, er ist Marcus Flutie … ich könnte damit ungewollt eine Spur zu meiner Straftat legen), aber es gab noch einen weiteren. Es wäre nämlich eine dramatische Veränderung unseres bisherigen Kommunikationsmusters. Bisher waren alle Kontakte von ihm ausgegangen. Heute würde ich entscheiden, dass es Zeit für ein Gespräch war. Ich würde aus der Position der Stärkeren handeln.
Das heißt, wenn ich ihm nicht gleich vor Aufregung auf die Schuhe kotzte.
Ich lungerte also vor der ersten Stunde an der Tür herum, um ihn abzufangen. Die Fünf-Minuten-Klingel, die Letzter-Aufruf-Klingel, die Stundenklingel ertönten, und ich wartete umsonst. Ich setzte mich und redete mir ein, es sei ja nichts Neues, wenn er ein oder zwei Minuten zu spät hereinschlurfte. Aber als wir beim Fahneneid waren, hatte ich jede Hoffnung aufgegeben.
Marcus kam nicht zur ersten Stunde. Vielleicht hätte ich das schon gewusst, wenn ich den Origami-Mund nicht verloren hätte.
Natürlich wusste Sara es als Erste.
»Ohmeingott! Habt ihr schon von Krispy Kreme gehört? Er hat letzte Woche irgendein Mädel dazu gebracht, seinen Drogentest zu fälschen!«
Beinahe hätte ich meinen Cap’n Crunch durch die Gegend gespuckt.
Die Ärzte können natürlich tatsächlich feststellen, ob eine Urinprobe von einem Mädchen oder einem Jungen ist – reine Hormonsache. Hat sie bloß ein paar Tage gekostet. Marcus muss ins Büro bestellt worden sein, gleich nachdem er mir den Origami-Mund zugesteckt hat. Dort haben ihn sein Bewährungshelfer, Schuldirektor Masters und die gute alte Brandi mit der gefälschten Probe konfrontiert. Sie wussten zwar, dass sie nicht von ihm stammte, aber ohne dass er es ihnen sagte, konnten sie nicht herausfinden, von wem sie wirklich war.
»Bisher hat Marcus ihnen nicht verraten, wo er sie herhatte«, sagte Sara, die von so saftigem Klatsch total aus dem Häuschen war. »Angeblich haben sie ihm stundenlang gedroht, aber er ist nicht eingeknickt.«
»Und woher weißt du das alles?«
»Mein Vater ist mit Direktor Masters golfen gewesen.«
»Ach so.«
»Und er hat mich gefragt, ob ich vielleicht eine Ahnung hätte, wer es sein könnte, weil ich doch immer ziemlich gut informiert bin.«
»Ich habe ein paar von seinen Freundinnen angegeben – die, an die mich erinnern konnte«, fuhr Sara fort. »Aber von denen ist es wahrscheinlich keine.«
»Wieso nicht?«
»Weil die falsche Probe sauber war. Drogenfrei.«
»Echt?«
»Und das heißt, seine Komplizin war irgendjemand wie du …« – sie legte eine ungefähr halbstündige Pause ein – »… und ich.«
In dem Moment wusste ich, dass ich erwischt werden würde. Dass mein Leben zerstört war. Und wofür? Um allen zu beweisen, dass sie mich falsch einschätzten? Großartig. Aber noch war ich nicht so weit, alles zu gestehen. Noch nicht.
Ich nahm meine ganze Kraft zusammen, um mich normal zu verhalten und den Gesprächen zu dem Thema wie eine unbeteiligte Beobachterin zu folgen.
»Was für ein Huhn würde ihm denn dabei helfen, durch seinen Drogentest zu kommen?«, fragte Hy.
»Ein unsicheres Huhn, würde ich sagen«, sagte ich.
»Er muss ja richtig gut im Bett sein«, sagte Manda.
»Ich glaube kaum, dass er ihr Sex versprochen hat«, sagte ich.
»Burke sagt, er hat Marcus mal in der Umkleide gesehen, und er hat einen ziemlichen Monsterkolben«, sagte Bridget.
»Was?«, fragten wir vier im Chor.
»Er hat einen Riesenpenis.«
»Aha«, sagte Hy.
»Aha!«, sagte Manda.
»Aha?«, fragte Sara.
»Oho«, sagte ich.
Es war unglaublich anstrengend.
Und nicht nur der Club der Ahnungslosen quatscht darüber. Jeder hat eine Theorie, was Marcus der heimlichen Spenderin wohl versprochen haben könnte – Drogen, ein Date, was weiß ich. Ich widersprach natürlich nicht. Ich sagte niemandem, so platt würde er sich nicht benehmen. Und dass er einfach gefragt hat, auf diese Art, die nur Marcus draufhat. Mit der Hand auf ihrem Knie. Und dass er versprochen hat, sich zu revanchieren. Und gegrinst.
NEUNTER
Heute habe ich die nervenaufreibendsten fünf Minuten meines Lebens überstanden.
Ich hatte mich längst dran gewöhnt, gegenüber den Ahnungslosen und allen anderen unschuldig zu tun. Fiel mir so leicht wie das Atmen.
Dann wurde ich aus dem Unterricht gerufen.
»Könnten Sie Jess Darling wohl sofort ins Büro des Direktors schicken?«, bat die rauschende, körperlose Stimme von Mrs Newman aus dem Lautsprecher.
Die ganze Klasse sah mich verwundert an. Ich zuckte demonstrativ die Achseln und setzte eine Was soll das denn?-Miene auf.
Auf dem Weg zum Büro hatte ich die ganze Zeit Marcus’ Stimme im Ohr: Ich werde dich nicht verpfeifen. Ich werde dich nicht verpfeifen. Ich werde dich nicht verpfeifen.
Direktor Masters erwartete mich bereits im Büro. Er begrüßte mich lächelnd mit den Worten »Tut mir sehr leid, dich aus dem Unterricht holen zu müssen«. Aber ich kannte genug Verhörszenen aus dem Fernsehen, um zu wissen, dass seine freundliche Miene auch ein raffinierter Schachzug sein konnte.
»Du hast sicherlich von dem Vorfall mit Marcus Flutie gehört, stimmt’s?«, fragte der Direktor, als ich mich gesetzt hatte.
»Ja.«
So ist es richtig. Die Antworten einfach halten. Keine weitschweifigen Erklärungen.
»Schwester Payne hat angegeben, dass du am betreffenden Nachmittag im Erholungsraum warst.«
»Ja.«
Gut. Einfach. Gut.
»Was hast du da gemacht?«
»Ach, ich hatte … äh … Frauenprobleme …«
»Ah!«, rief er peinlich berührt. »Tut mir leid.«
Er rutschte auf seinem quietschenden Ledersessel hin und her und strich sich über den buschigen grauen Vollbart. Sein ausladender Bauch dehnte den billigen braunen Kunstfaser-Anzug.
Mein Leben wird gleich von einem dicken Mann in einem billigen braunen Kunstfaser-Anzug zerstört.
»Ich habe dich aus folgendem Grund hergebeten: Du warst zu dem Zeitpunkt, als Marcus zu dem Test aufgefordert wurde, der einzige Mensch im Krankenzimmer …«
Jetzt kommt’s. Gleich setzt er zum tödlichen Stoß an. Ich bin geliefert. Erledigt. Totes Fleisch.
»Hast du ihn mit irgendjemandem gesehen? Du kannst es mir ruhig erzählen, du hast nichts zu befürchten.«
Was?
»Ich weiß, dass diese Störenfriede dich vielleicht unter Druck gesetzt haben …«
Will er damit andeuten –
»Vielleicht haben sie dich sogar körperlich bedroht …«
Halleluja! Er hatte mich überhaupt nie in Verdacht. Nachdem ich den Sinn unserer Zusammenkunft nun also begriffen hatte – ich sollte den »Störenfried« ausliefern, der die Tat begangen hatte –, konnte ich freier sprechen. Ich sagte ihm, dass mich niemand bedroht hatte, denn ich hatte die ganze Zeit geschlafen. Ich hatte weder Marcus noch sonst irgendjemanden gesehen.
»Wenn ich doch nur wen gesehen hätte, dann könnte ich Ihnen helfen«, sagte ich.
»Ja, das wäre schön«, sagte er.
Mein niedlicher Nachname und meine Spitzennoten haben mich mal wieder gerettet.
DREIZEHNTER
Mein Gespräch mit Direktor Masters hatte mich erst mal beruhigt. Aber ich wusste auch, solange sie keine Schuldige fanden, war ich nicht ganz außer Gefahr.
Und heute haben sie eine gefunden. Niemand war verblüffter als ich.
»Sie haben rausgefunden, wer in den Becher gepinkelt hat!«, rief Sara vor der ersten Stunde.
»Ehrlich?«
»Ehrlich. Eine absolute Null namens Taryn Baker.«
Taryn Baker war eine graue Maus aus dem ersten Jahrgang, die so verzweifelt ins Rampenlicht wollte, dass sie ohne Not ein Vergehen gestand, das sie nicht begangen hatte. Gestern bei der Probe des Schulorchesters hatte sie vor den anderen Klarinettisten so lange geprahlt, dass sie in den Becher gepinkelt habe, bis die anderen von ihrem Egotrip die Nase voll hatten und sie ans Messer lieferten. Bläserneid.
Die Schulleitung ist natürlich begeistert, eine Schuldige gefunden zu haben, und hat ihre Version nicht mal nachgeprüft. Marcus hat sie weder dementiert noch bestätigt. Natürlich konnte die arme kleine, unsichere Taryn gar nicht anders, als alles zu tun, was ihr der abgebrühte Manipulierer Marcus einflüsterte, weshalb sie ziemlich ungeschoren davonkommt: Schulverbot für den kurzen Rest des Schuljahres. Klar bin ich ihr dankbar, dass sie freiwillig den Sündenbock spielt, aber irgendwie tut sie mir auch leid. Kennt sie das Kurzzeitgedächtnis von Pineville so schlecht? Weiß sie nicht, dass der Ruhm, den sie heute erworben hat, nach den Ferien schon vergessen sein wird?
Bösewicht Marcus hingegen wird nach Middlebury geschickt. Es heißt, er wird nicht wiederkommen. Seine Eltern wollen ihn auf eine Militärschule schicken. Ich weiß, dass ich nichts von ihm hören werde. Er ist schlau genug zu wissen, dass kein Kontaktmedium wirklich vertraulich sein kann.
Ich rede mir die ganze Zeit ein, dass die Sache genauso geendet wäre, wenn ich gar nichts damit zu tun gehabt hätte. Er wäre trotzdem in der Entziehungsklinik gelandet. Ich wünschte, ich könnte mir sagen, dass es so das Beste für ihn ist. Ich muss die ganze Zeit daran denken, was Heath passiert ist. Dem hatte es auch nicht geholfen, von der Schule zu fliegen. Diese spezielle Schule für »gefährdete« Jugendliche hat ihn nicht zur Vernunft gebracht oder von schlechter Gesellschaft ferngehalten. Oder auch nur sein Leben gerettet.
Meine Telefonsperre ist aufgehoben. Aber Hope kann ich trotzdem nichts von dieser Sache erzählen. Wie soll ich erklären, dass ich einem der Menschen geholfen habe, die sie mehr als alle anderen auf der Welt hasst, und dann auch noch dabei, mit etwas durchzukommen, was sie mehr als alles andere auf der Welt verabscheut? Ich kann unsere Freundschaft nicht wegen so einer Riesendummheit aufs Spiel setzen.
Also kann ich es nur hier rauslassen.
Und für wen schreibe ich das hier eigentlich? Wer bist du? Wer hat dieses Notizbuch gefunden und interessiert sich so dafür, dass er oder sie es auch liest? Du hast wohl sonst nichts zu tun. Oder Moment mal. Bist du ich in fünfundzwanzig Jahren? Das ist zu abgedreht. Hör auf zu grübeln, Jessica. Denk nicht immer so weit voraus. Hör einfach auf.
SECHZEHNTER
Nachts um ein Uhr zweiundvierzig hörte ich ein Prasseln am Fenster. Ich war wach, konnte also schnell reagieren. Ich machte das Fenster auf und beugte mich hinaus.
»Du bist ja wach!«
Es war Scotty mit einer Handvoll Kies.
»Ich bin immer wach. Was willst du?«
»Ich muss mit dir reden. Kannst du runterkommen?«
Ich wusste gleich, es musste was ganz Wichtiges sein. Seit Scotty mit Kelsey zusammen war, hatten wir nichts außer Hallo zueinander gesagt. Aber die Sache mit Marcus hatte mich so beschäftigt, dass es mir egal war.
»Psssst … ich bin gleich unten.«
Ich hatte mich schon für einen nächtlichen Lauf angezogen, war also in nicht mal einer Minute bei ihm auf dem Rasen. Ich strich mir mit dem Finger über die Kehle – sei still! –, damit er nicht losplapperte und meine Eltern weckte.
»Machst du so was öfter?«, fragte Scotty.
»Rausschleichen.«
»Wieso?«
»Kommt mir vor, als ob du auf mich gewartet hättest.«
»Ach so. Nein.« Ich erklärte ihm, dass ich nachts manchmal laufen gehe.
»Das wusste ich gar nicht«, sagte er.
»Woher auch, wenn ich es dir nicht erzählt habe?«
Wir gingen zum Spielplatz und ich steuerte direkt auf die Schaukel zu. Die war immer mein Lieblingsplatz. Seit ich denken kann, spiele ich auf dieser Schaukel ein heimliches Spiel: Ich schaukele immer höher und höher und versuche, mit den Füßen Blätter der Eiche zu streifen. Das ist unmöglich – sie hängen in ungefähr acht Meter Höhe. Aber selbst jetzt, wenn ich nachts hingehe, versuche ich es noch. Allerdings nicht heute mit Scotty. Da saß ich bloß auf der Schaukel und schwang ein bisschen vor und zurück.
»Also, was ist los?«
Scotty seufzte. »Ich habe mit Kelsey Schluss gemacht.«
Ich versuchte, überrascht zu wirken.
»Und, bist du am Boden?«
»Eigentlich nicht.«
»Wieso dann der nächtliche Notruf?«
»Sie ist total sauer auf dich, und das wollte ich dir noch vor der Schule morgen sagen.«
»Wieso ist sie sauer auf mich? Ich habe doch kaum mit dir geredet.«
»Stimmt«, sagte er und malte mit einem Stock im Staub. »Irgendwie habe ich das Reden mit dir vermisst, und das gab Probleme.« Er verwischte die Linien wieder mit dem Schuh. »Ich fand, sie musste die Wahrheit wissen. Dass meine Freundschaft zu dir wichtiger ist als sie.«
Früher hätte ich gedacht: So was Süßes hat mir noch nie jemand gesagt. Aber jetzt klang es bloß noch leinwandsüß. Wie aus einem Film mit Molly Ringwald. Und so gern ich mir diese Filme ansehe, so wenig will ich darin leben.
»Ich weiß, das klingt total schwuchtelig, aber es stimmt«, sagte er.
Scotty ließ nichts unversucht, es mit mir wieder einzurenken. Wie viele sechzehnjährige Typen würden wohl wegen einer Freundschaft auf Sex verzichten? Na gut, die Wahrheit war nicht ganz so asketisch, denn letztendlich hofft Scotty ja, diese Strategie lässt ihn in meinem Bett landen. Trotzdem beeindruckend, auch wenn die Frage eigentlich lauten muss: Wie viele sechzehnjährige Typen würden wohl für vage sexuelle Aussichten auf die sichere Nummer verzichten?
Aber irgendwie war es nicht genug.
»Ich fühle mich richtig schlecht, weil ich dich mit der Hochzeit deiner Schwester sitzengelassen habe und so.«
»Mm-hm.«
»Ich könnte immer noch mit dir hingehen.«
»Mm-hm.«
»Wenn du noch willst.«
Schon komisch. Eigentlich wollte ich überhaupt nie mit ihm hingehen. Bloß alle anderen wollten das. Und jetzt würde ich ihnen auf gar keinen Fall zum zweiten Mal die Befriedigung verschaffen.
»Weißt du was, Scotty? Jetzt ist es zu spät.«
»Ach.«
Es war natürlich überhaupt nicht zu spät. Meine Schwester hätte ihn ohne Problem noch untergebracht. Aber es war eben zu spät für mich.
»Tut mir leid, dass du ganz umsonst hergekommen
bist.«
»Hey«, sagte Scotty. »Kein Problem.«
Heute war der letzte Schultag. Endlich Junior werden.
Und wie üblich gab es heute die jährliche Preisverleihung der PHS. Ich glaube, das soll ein Anreiz sein, überhaupt zur Schule zu kommen. Der offensichtliche Denkfehler ist allerdings, dass die Prolls, die Wiggaz, der Ausschuss, der ganze Bodensatz der Pineville High, der eher zum Fernbleiben neigt, bestimmt nicht vom Glanz der sowieso unerreichbaren gravierten Plaketten hergelockt wird. Und diejenigen, die Preise kriegen, würden auch so kommen.
Normalerweise kriege ich die Plaketten im Dutzend. Letztes Jahr wurden zum Beispiel alle Preise für einzelne Fächer gleichmäßig zwischen Len Levy und mir aufgeteilt – jeder vier. Dieses Jahr bekam ich allerdings bloß den Englisch-Preis und den für Französisch Wahlfach – und das war höchst ungerecht, weil ich ein Jahr älter bin als alle anderen Kursteilnehmer. Pepe wurde um seinen verdienten Lohn betrogen.
Eigentlich geht mir das alles am Arsch vorbei, aber ich war doch geschockt, sonst keinen einzigen Preis zu kriegen. Von schwächeren Hirnen abgehängt. Und zum allerersten Mal hat mich Len Levy im Gesamtnotenschnitt mit 99,02 Prozent vom ersten Platz verdrängt. Meine nicht ganz so glänzende Vorstellung bei den Abschlusstests (die alle während der Marcus-Nummer stattfanden) hat meinen Schnitt auf 97,98 Prozent sinken lassen. Zwei Prozentpunkte runter in weniger als einem Halbjahr. Klingt zwar nicht so viel, ist es aber.
Ich lasse nach.
Hy ist noch nicht lange genug da, um irgendwelche Preise zu kriegen. Aber sie kam auf mich zu und gratulierte mir, als ich meine abholte. Ich bedankte mich und überlegte, ob sie mich wohl immer noch für so klug hielt wie die Mädels an ihrer Privatschule.
Dann machte sie den Mund auf, als ob sie was sagen wollte, überlegte es sich aber anders. Komisch, sonst sagt sie doch immer, was sie denkt.
»Was?«, fragte ich nach.
»Schwester«, sagte sie, »nimm nichts von dem persönlich, was ich tue.«
Was für ein abgedrehter Satz, so aus dem Nichts. Eigentlich wollte ich irgendwas Schlagfertiges antworten, um Hy runterzumachen und ein bisschen von meiner unterdrückten Abneigung rauszulassen. Aber die ganze Sache mit Marcus hatte mich so mitgenommen, dass es mir im Grunde völlig egal war.
»Kein Thema, Hy«, sagte ich – verwendete ihren eigenen Ausdruck gegen sie. »Kein Thema.«
Als ich nach Hause kam, schmiss ich meine wenig beeindruckenden Preise in die Ecke zu den anderen. Sie sind inzwischen so selbstverständlich, dass meine Eltern sie nicht mal mehr sehen wollen, geschweige denn großes Theater darum machen.
Dann schlief ich fünf Minuten. Lange genug, um von einem Origami-Mund zu träumen, der mich verschlucken wollte.
FÜNFUNDZWANZIGSTER
DER GROSSE TAG.
Bethany heißt nicht mehr Miss Bethany Shannon Darling. Sondern Mrs Grant Doczylkowski – einen schlimmeren neuen Namen kann man sich ja wohl kaum vorstellen.
Meine erste Pflicht am Großen Tag war es, Bethanys Schleppe in anständige Falten zu legen und ihren Schleier hochzuhalten, der so lang war wie die ganze Kirche. Meine zweite Pflicht bestand darin, ihr zu sagen, wie wunderschön sie aussah. Sah sie natürlich auch. Aber es nervte ziemlich, ihr das ständig bestätigen zu müssen.
»Wie sieht mein Make-up aus? Nicht zu dick, oder? Ich will ja Grant nicht verschrecken, wenn ich durch die Kirche laufe.«
»Sieht wunderschön aus.«
»Und wie sieht mein Kleid aus? Doch nicht zu eng? Ich will ja nicht wie ein Walross aussehen, wenn ich durch die Kirche laufe.«
»Sieht wunderschön aus.«
»Und wie sieht meine Frisur aus? Zu aufgeplustert? Ich will ja nicht so nach New Jersey aussehen, wenn ich durch die Kirche laufe.«
»Der Pony sieht wirklich ein bisschen prollig aus.«
»WAS?!«
»Ich mach bloß Witze. Ehrlich. Sieht wunderschön aus.«
Bis zum Erbrechen.
Das gesamte Universum wird bei Hochzeiten so komplett gaga, dass ich schon damit rechnete, selbst von Sentimentalität überwältigt zu werden und womöglich loszuheulen. Aber nichts passierte. Bethanys und G-Moneys Ehebund ließ mich gänzlich unberührt.
Hier meine Erinnerungen an die Zeremonie: Ich hatte die ganze Zeit die Arme fest über der Brust verschränkt, um mich in der von leistungsstarken Klimaanlagen eisgekühlten Kirche warm zu halten. Der Sonnenuntergang hinter den bunten Fenstern verwandelte das Gelb (»Mais!«) meines Kleides in eine Art Batikmuster. Mein schulterfreier BH drückte mir den Kreislauf ab, und ich konnte den Gedanken nicht abschütteln, dass er bestimmt das Wachstum meiner Brüste beeinträchtigte.
Aber so richtig in Fahrt kam die Sache erst bei der Feier.
Als Trauzeugin der Braut und zweifelhafte Brautjungfer wurde ich automatisch für den ganzen Tag dem Trauzeugen des Bräutigams zugeordnet. Wir schritten zusammen durch den Mittelgang der Kirche. Wir standen bei den Fotos nebeneinander. Wir gingen zusammen zur Feier.
Die schlechte Nachricht: G-Moneys Trauzeuge Tad ist dreißig und sieht aus wie eine aufgedunsene Seekuh.
Die bessere Nachricht: Tad stellte mich seinem neunzehnjährigen Bruder Cal vor. Cal sieht ganz lecker aus, auf so eine saubere, entspannt sportliche Art.
Die beste Nachricht: Cal ist ein Computergenie, der seine Eltern ziemlich geärgert hat, als er sein Studium am MIT abgebrochen hat, um Berater für eine aufstrebende Software-Firma zu werden.
Die Super-Duper-Mega-Nachricht: Als Cal mir die Hand schüttelte, sagte er: »Ich hab meinem Bruder gleich gesagt, ich muss das Mädchen kennenlernen, an dem dieses sauhässliche Kleid so verdammt gut aussieht.«
Wer war noch mal Paul Parlipiano?
»Wollen wir unsern Kennenlern-Small-Talk ein bisschen anspruchsvoller gestalten?«, fragte er.
»Okay.«
»Wir reden nur über Dinge, die man vor allem als Abkürzungen kennt.«
Cal war schräg. Aber mir gefiel das. Ich wollte ein Beispiel hören.
»TRL«, sagte er. »Bestes Beispiel für MTV-Demokratie? Oder traurige Plattform für Boygroup-Duelle?«
»NASCAR«, hielt ich dagegen. »Harmloser Unterschichten-Spaß? Oder absoluter Tiefpunkt der amerikanischen Kultur?«
Und so diskutierten wir über: MP3, ADS, IWF und YMCA.
»Alles, was Männern Spaß macht? Oder Treffpunkt für einsame Jung-«
Cal unterbrach mich, weil der Gitarrist die ersten Akkorde des Klassikers »Celebration« von Kool and the Gang spielte. »We’re gonna have a good time tonight«, rezitierte Cal den Text mit todernstem Gesicht.
»Let’s celebrate«, antwortete ich in ebenso ernstem Ton und versuchte, nicht zu grinsen.
»It’s all right«, fuhr er fort, nahm mich an der Hand und zerrte mich auf die Tanzfläche.
Und in diesem Moment hatte ich tatsächlich das Gefühl, dass alles gut werden würde.
Cal war zwar kein Weltklassetänzer, aber er besaß immerhin zwei Dinge, die den meisten Typen beim Tanzen abgehen: a) Rhythmusgefühl und b) Begeisterung. Also tanzten wir uns den Arsch ab. »I Will Survive«. »Twist and Shout«. »Everlasting Love«. Das Beste an Cal war meiner Ansicht nach, dass er offensichtlich einen ungeheuren IQ hatte, mir sein Genie aber nicht die ganze Zeit um die Ohren schlug. Er wusste, wie man das Hirn abschaltet und sich amüsiert. Ich wusste gar nicht, was ich lieber wollte: mit ihm zusammen sein oder er sein.
Kaum hatten wir die Tanzfläche wieder verlassen, humpelte die neunundachtzigjährige Mutter meines Vaters, Gladdie, auf uns zu, und zwar ziemlich flott für jemanden mit zwei künstlichen Hüftgelenken. Sie hatte ihren Rollator dem Anlass entsprechend mit Seidenblumen und weißen Bändern dekoriert. Ich konnte Cal nicht mal mehr warnen, dass sie total durchgeknallt ist.
»Jessie, du siehst wun-der-schön aus«, röhrte Gladdie.
Wun-der-schön – da war ich mir nicht so sicher, aber immerhin besser als üblich. Trotz des schlimmen Schnittes und der grauenhaften Farbe stand mir das Kleid gar nicht so übel, nachdem die Schneiderin es obenherum ein bisschen ausgepolstert hatte. Und dank des professionellen Make-ups (Hochzeits-Nazi Bethany wollte um jeden Preis perfekte Fotos) wirkte meine Haut so strahlend rein wie noch nie seit Beginn der Pubertät. Meiner Schwester gegenüber hätte ich das niemals zugegeben, aber mir gefiel sogar der künstliche Dutt, den man mir ans Haar geklammert hatte, weil er mich älter und kultivierter machte.
Gladdie wandte sich Cal zu und pfiff lang und anerkennend durch die Zähne. »Was für ein herrliches Mannsbild!«, dröhnte sie. »Und wann tut ihr beide euch zusammen?«
Cal spuckte ihr beinahe seinen Drink ins Gesicht. Meine Wangen brannten.
»Gladdie, ich bin gerade sechzehn …«
»Ich war gerade siebzehn, als ich deinen Großvater geheiratet habe, Gott hab ihn selig.«
»Und wir haben uns gerade erst kennengelernt«, erklärte ich weiter.
»Na ja, irgendwann muss man seinen Mann ja mal kennenlernen. Warum nicht heute Abend?«
Inzwischen war ich schon so begeistert von Cal, dass mein Herz Gladdie nur zu gern Recht geben wollte. Zwischen Cal und mir gab es definitiv eine Verbindung. Und die wäre nie zu Stande gekommen, wenn ich mit Scotty hergekommen wäre, wie es alle gewollt hatten.
»Jungejunge! Wirklich ein Prachtkerl!«, rief Gladdie. »Der haut mich echt vom Sockel.« Dann humpelte sie von dannen, nicht ohne Cal noch an den Hintern zu fassen und ordentlich zuzudrücken.
Als Cal und ich ungefähr zehn Minuten später aufgehört hatten zu lachen, sagte er, »Und ich dachte schon, heute Abend komme ich bestimmt nicht zum Zug«, worauf wir noch mehr lachen mussten.
Cal und ich amüsierten uns weiterhin auf alberne, überdrehte, Macarena-mäßige Art. So sehr, dass ich was Dummes tat, aber nicht ohne guten Grund. Cal brachte mir dauernd neue Champagnergläser, die ich immer auf irgendeinem Tisch abstellte, ins Waschbecken oder in die Blumen-Deko goss, anstatt sie zu trinken. Er allerdings dachte, ich hätte sie alle getrunken. In Wirklichkeit waren es nur zwei Gläser. Die hatten mich vielleicht ein bisschen albern und schwindelig gemacht, aber ich tat so, als sei ich viiiel betrunkener, damit ich ausprobieren konnte, wie er küsste. Wenn die Vereinigung unserer Lippen eher von der Spinnenbeinsorte war, so wie mit Scotty in der Achten, dann konnte ich einfach so tun, als würde ich mich an nichts erinnern, falls er den ganzen Sommer über dauernd anrief.
Als der Hochzeitskuchen angeschnitten wurde und erwartungsgemäß aller Augen auf dem schönen Hochzeitspaar ruhten, sagte ich zu Cal, ich würde gern auf dem Golfplatz ein bisschen Luft schnappen. Cal, der tatsächlich so betrunken war, wie er sich benahm, hob die Daumen und sagte, »Bin dabei.«
Wir gingen nach draußen. Am Himmel leuchteten unzählige Sterne, in der feuchten Luft hing Rosenduft. Cal hatte hier ein paarmal für seinen Vater den Caddy gemacht, erzählte er. Und dass er ein tolles Plätzchen wüsste. Er fing an zu laufen und rief, »Folge mir!« Aber in meiner Bananenschale und auf hohen Absätzen konnte ich weder weit noch schnell laufen, also bat ich ihn zu warten. Er kehrte um, nahm mich hoch und warf mich über die Schulter. »Leicht wie eine Feder«, sagte er. Ich quiekte wie eine blöde Tussi, ich konnte einfach nicht anders.
Cal trug mich ungefähr hundertfünfzig Meter weit bis zu einem Wasserloch, das wie ein natürlicher See gestaltet war. Verschwommene Sterne kräuselten sich im Wasser. Er zog sein Jackett aus und legte es auf den Rasen, damit ich mich draufsetzen konnte. Sitzen war aber in meinem Kleid nicht so einfach, also musste ich mich platt auf den Rücken legen. Cal ließ sich neben mich fallen und stützte sich auf den Ellbogen, sein Gesicht nur ein paar Zentimeter von meinem entfernt. Ich schaute weiter in den Himmel. Auch von hier hörte ich noch den Bass der Band, der wie unregelmäßiger Herzschlag wummerte und pochte.
»Wunderschön hier draußen, oder?«, sagte ich schließlich.
Cal rückte noch näher. »Du bist wun-der-schön.«
Ich lachte und betrachtete den Großen Wagen. »Schönen Dank, Gladdie.«
»Meinich gans ernst, dubist wunderschön«, sagte er leise.
Ich kicherte und biss mir auf die Lippe. Was für eine Spannung. »Du musst so was nicht sagen.«
»Weißich«, flüsterte er.
Da endlich schaute ich ihn an, sah in seine Augen. Und wir brachen beide in Lachen aus. Schon wieder. Als wir uns beruhigt hatten, fragte Cal, »Wie sollich dichn küssn, wenn wir uns dauernd schlapplachn?«
Ich fand es gut, dass er es so offen ansprach. Also stemmte ich mich hoch, bis mein Gesicht auf seiner Höhe war. Dann schloss ich die Augen. Als Nächstes spürte ich seine Lippen auf meinen. Wir küssten uns.
Und mir lief davon kein kalter Schauer über den Rücken. Es gefiel mir. Sogar sehr gut, um ehrlich zu sein. Ich schmeckte den Whiskey auf seiner Zunge, spürte seinen warmen Atem an meiner Wange. Als unsere Münder wärmer und feuchter wurden, rollte er sich auf mich. Seine Hände in meinem Haar, in meinem Nacken, auf meinen Schultern, meinem Rücken, immer tiefer …
Und dann muss Cals »Hirn in der Hose« meine Leidenschaft gespürt haben. Plötzlich unterbrach er den Kuss und nuschelte mir was ins Ohr.
»Was?«, fragte ich nach.
»Ich hab n Kondom.«
»Was?!«
Cal lächelte mich bloß an.
»Hast du das wirklich gesagt?«
»Hm?«
»Dass du ein Kondom dabeihast? Dass wir es also tun können?«
»Ähmmmm …«
»Dass wir miteinander Sex haben können?«
»Ähhh …«
Ich schubste ihn weg und strich mir das Kleid glatt.
»Wir küssen uns einmal, und du glaubst, du kannst mit mir schlafen?«
»Ähm … ich dachte …«
Ich konnte es nicht fassen! Für wen hielt er sich eigentlich?
Oh Mann! Er wusste gar nichts über mich. Er wusste nicht, dass ich beim PSAT-Test über 1500 Punkte gemacht hatte. Dass ich den Kilometer in drei Minuten dreißig laufe. Dass ich zum Frühstück, Mittag und Abendessen Cap’n Crunch esse. Dass ich von »Modernen Filmklassikern« und The Real World nicht genug kriegen kann. Dass meine beste Freundin weggezogen war und ich alle anderen Menschen hasse. Dass ich erst vor kurzem einen Abstecher in die Welt des Verbrechens gewagt hatte.
Nichts davon wusste er. Nach seiner Einschätzung war ich bloß irgendeine Schlampe, die aus Gewohnheit mit wildfremden Typen auf Golfplätzen poppt.
»Du kennst mich doch überhaupt nicht!«, schrie ich.
Er strich mit den Fingerspitzen sanft über die Innenseite meines Armes.
»Ichweiß gnug über dich, umzu wissn, dasich viel mehr wissen will …«
Oh Gott! Geht es noch schmieriger? Oder abgedroschener?
Ich schob seine Hand weg und stand auf.
»Du magst ja vielleicht ein Genie sein und so, aber wenn du glaubst, ich falle auf so einen saudummen Spruch rein, dann bist du echt ein Idiot.«
Dann stapfte ich zügig zurück in Richtung der Vergnügungen, die ohne mich weitergingen, und brachte mich um die einzigartige Gelegenheit, auf der Hochzeit meiner Schwester die Jungfräulichkeit zu verlieren.
Was für ein Albtraum. Ich schätze, das ist die Strafe dafür, dass ich Scotty abgewiesen und stattdessen einen Wildfremden in mein Leben gelassen habe.