Hope,
tut mir leid, dass Du immer erst meine Eltern dranhast, wenn Du mich anrufst: Seit Du weg bist, habe ich Telephobie. Ich nehme den Hörer nicht mehr ab. Und zwar, weil allein die Vorstellung, ein Telefongespräch führen zu müssen, mir sämtliche Lebensgeister raubt. Ehrlich. Abgesehen von Dir hasse ich alle Menschen, die mir einen Teil der wertvollen Erholungszeit wegnehmen wollen, die mir zwischen Lauftraining und schlaflosem nächtlichem Herumwälzen bleibt.
Heute Abend war dieser Mensch ausgerechnet Hy. Das hätte mich eigentlich nicht zu überraschen brauchen – schließlich habe ich ihr meine Telefonnummer gegeben.
Um ehrlich zu sein, habe ich dabei eher an Dich gedacht. An Dich an Deiner neuen Schule, wo es Dir so schwergefallen ist, neue Freundinnen zu finden. Und dass Du mir erzählt hast, wie dankbar Du warst, wenn ausnahmsweise mal jemand freundlich zu Dir war.
Wir haben uns also unterhalten. Sie hat mir die ganzen Umstände erklärt, die sie ins Exil nach Pineville getrieben haben. Offenbar ging Hy früher auf so eine Schickimicki-Privatschule in Manhattan. (»Dafür brauchte man entweder ein Wahnsinnshirn oder ein Wahnsinnskonto – ich hatte das Hirn«, wie Hy sagte.) Mitten im Herbsthalbjahr kam plötzlich ein Brief von der Schulverwaltung, dass die Mittel für ihr Stipendium leider ausliefen. (»Sie mussten den Pöbel loswerden, um Platz für noch mehr Trustfonds-Teens zu schaffen«, wie Hy sagte.) Ihre Mutter konnte sich das Schulgeld fürs Frühlingshalbjahr nicht leisten. (»Meinen Vater habe ich nie kennengelernt«, wie Hy sagte.) Aber auf gar keinen Fall wollte sie Hy in New York in eine öffentliche Schule stecken. (»Zu den Schrumpfköpfen und Schlägern«, wie Hy sagte.) Bis ihre Mutter sich also in eine Filiale ihres Arbeitgebers in New Jersey versetzen lassen kann, wohnt Hy bei einer Tante und hat an der PHS angefangen. (»Beim Ausschuss, den Wiggaz und den Proleten«, wie Hy sagte.)
Das Gespräch war gar nicht schlimm oder so. Hys Geschichte war eigentlich ziemlich interessant. Aber ich dachte dabei die ganze Zeit, wie schön, wenn die Uhr endlich bis 21:27 weitergetickt ist, weil das bedeutet, dass unsere Unterhaltung schon zwanzig Minuten dauert, ich sie, ohne unhöflich zu wirken, beenden kann und versuchen kann zu schlafen.
Das ist ein neues Hobby von mir: Ich sehe zu, wie mein Leben Minute für Minute verrinnt. Ich erwarte ungeduldig das Ende von allem – einer Unterhaltung, einer Unterrichtsstunde, des Lauftrainings, der Dunkelheit –, nur um danach erneut auf die Uhr zu starren. Ständig warte ich auf etwas Besseres, was nie eintritt. Vielleicht würde es helfen, wenn ich wüsste, was ich will.
Bis ich das herausgefunden habe, warte ich wohl auf das Ende meines zweiten Junior-Jahres, damit der Sommer losgehen und ich auf dessen Ende warten kann, damit ich wieder zur Schule gehen und zwei weitere Jahre warten kann, bis ich meinen Abschluss machen und endlich an die Uni flüchten kann, wo dann hoffentlich mein »wahres Leben« beginnt. Was auch immer das ist.
Als Du noch da warst, habe ich das nicht so oft gemacht.
Heute Abend habe ich Dich wirklich vermisst. Mit Dir zu reden. Zu wissen, dass Du mich verstehst. Und jedes Mal, wenn ich mit jemand anderem rede, macht es mir bloß bewusst, wie wenig die anderen mich verstehen.
Deine tick-tackende J.