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Zum Burgtor rannte ich, mit der Rüstung am Leib, abgesehen von den Teilen, die ich auf dem Turnierplatz verloren hatte. Aber sie schien kaum etwas zu wiegen. Um mich herum hörte ich das Zischen von Pfeilen. Weitere Männer fielen. Die guten Bogenschützen der Waldwache sorgten dafür, dass mein Weg frei blieb.

Ich fragte mich, wohin ich lief, und warum. Corion hatte ich neben der Tribüne im Dreck liegen lassen. Sein Tod hatte sich angefühlt, als zöge man mir einen Pfeil aus einer Wunde. Wie Fesseln, die sich plötzlich lockerten und abfielen. Wie die Schlinge des Henkers, die sich um den violett angelaufenen Hals des Verurteilten löste.

Ein paar Pfeile von Wächtern auf den Wehrwällen erreichten mich. Einer zerbrach an meinem Brustharnisch. Doch im Großen und Ganzen blieben die Schützen von den turbulenten Ereignissen auf dem Turnierplatz abgelenkt und hatten kaum Aufmerksamkeit übrig für einen Ritter, der ganz allein zur Burg lief.

Ich ließ mich von meinen Füßen tragen, begleitet von einem Gefühl der Leere. Wo es eine innere Stimme gegeben hatte, die mir den Weg wies, hörte ich jetzt nur mein eigenes Keuchen. Auf der zum Tor führenden Straße, außerhalb des Blickfelds der Wächter, traf ich auf größeren Widerstand. Soldaten hatten sich zwischen den Tavernen und Gerbereien versammelt. Sie hielten die Straße, über die ich als Kind mit dem Nubier gekommen war, auf der Suche nach Rache.

Zwanzig Männer versperrten den Weg, angeführt von einem Hauptmann in vollem Renar-Staat. Ein matter Glanz kam von seinem Kettenhemd. Hinter ihm hielt Gorgoth noch immer das Fallgatter oben, und auf dem Hof dahinter befanden sich weitere Soldaten. Es erschien mir sonderbar, dass sie den Leucrota noch nicht getötet und das Tor geschlossen hatten.

Ich blieb vor dem Hauptmann und seinen Männern stehen, ohne genug Atem für Worte. Kalter Wind wehte zwischen uns und brachte einige Regentropfen.

Was sollte ich tun? Plötzlich schien eine aussichtslose Lage … aussichtslos zu sein.

Ich blickte zurück. Zwei Gestalten liefen über den Weg, den ich genommen hatte, die erste so groß, dass es nur Rike sein konnte. Das fedrige Ende eines Pfeils ragte aus seiner linken Schulter. Der zweite Mann war so voller Blut und Schmutz, dass ich ihn nicht anhand seiner Rüstung identifizieren konnte, aber so wie er sein Schwert hielt … Es musste Makin sein.

Ich sah wieder die Soldaten an, über die Spitzen ihrer gehobenen Speere hinweg, die eine Barriere zwischen uns bildeten.

Wie sollte es weitergehen?

Ein weiterer Windstoß brachte mehr Regen.

»Haus Renar?«, rief der Hauptmann. Er klang unsicher.

Die Männer wussten nicht, wer ich war! Sie waren aus der Burg gekommen, ohne einen Hinweis darauf, wer angriff. Ach, der Nebel der Krieges! Manchmal kann er ein wertvoller Verbündeter sein.

Ich strich mit dem Panzerhandschuh über den Brustharnisch, damit das Wappen deutlicher sichtbar wurde. »Zuflucht!«

Ich schnappte nach Luft. »Alain Kennick, Verbündeter des Hauses Renar, sucht Zuflucht.« Ich zeigte auf Rike und Makin. »Sie wollen mich töten.«

Vielleicht hatte mir Corions Tod nicht meine ganze Boshaftigkeit genommen. Vielleicht war etwas von ihr übrig geblieben.

Ich lief auf die Soldaten zu, und ihre Reihe teilte sich vor mir.

»Sie werden nicht an uns vorbeikommen, Herr.« Der Hauptmann verbeugte sich kurz.

»Sorgt dafür«, erwiderte ich. Ich hielt es tatsächlich für unwahrscheinlich, dass Rike und Makin so viele Soldaten überwältigen konnten.

Ich eilte weiter zum Tor und spürte jetzt das Gewicht meiner Rüstung. Ein seltsamer Geruch hing in der Luft, intensiv und fleischig, wie von Schinken, der über offenem Feuer briet. Er erinnerte mich an Mabberton, wo wir, vor tausend Jahren, all die Bauern verbrannt hatten.

Auf der anderen Seite des Tors sammelten sich Gruppen von Soldaten. Halb gepanzerte Männer, einige mit Schilden, andere ohne, viele von ihnen vermutlich voller Turniertag-Bier.

Als ich näher kam, sah ich die Leichen. Verbrannt lagen sie da, in ihrem eigenen geschmolzenen Fett, wie die Toten eines Armenbegräbnisses, die nicht ganz zu Asche verbrannt waren, weil es dem Scheiterhaufen an Holz gefehlt hatte.

Gorgoth stand mit dem Rücken zu mir. Pfeile steckten in seinen Armen und Beinen. Zuerst glaubte ich, dass er völlig reglos dastand, ohne eine Bewegung, aber als ich näher kam, bemerkte ich das Zittern in seinen dicken Rückenmuskeln.

Ich trat an ihm vorbei und unter dem Fallgatter hindurch. Hundert Männer auf dem Hof starrten mich an. Gorgoths Augen waren voller Anstrengung zusammengekniffen, und er beobachtete mich durch schmale Schlitze. Weitere Pfeile ragten aus seiner Brust, zwischen den gewölbten Klauen seines verunstalteten Brustkorbs. Blut quoll an den Schäften hervor, wenn er den Atem entweichen ließ, und wurde in den Körper zurückgezogen, wenn er Luft holte.

Ich trat nach einem rauchenden Kopf. Er rollte von der verbrannten Leiche fort.

»Du hast da einen verdammt tüchtigen Schutzengel, Gorgoth«, sagte ich. Jeder Soldat, der ihn angegriffen hatte, lag verkohlt da.

Gorgoth schüttelte andeutungsweise den Kopf. »Der Junge. Dort oben.«

Über Gorgoth hockte Gog in einer Lücke zwischen dem Holz des Fallgatters. Die tintenschwarzen Höhlen, die ihm als Augen dienten, brannten jetzt wie heiße Kohlen unter dem Blasebalg eines Schmieds. Sein dünner Leib war enger zusammengefaltet, als ich es für möglich gehalten hätte. Einige Pfeile steckten in den Balken in seiner Nähe.

»Der kleine Bursche hat dies alles angerichtet?« Ich blinzelte. »Donnerwetter.«

Ich erinnerte mich an Gorgoths Hinweis, dass die Veränderungen für Gog und seinen kleinen Bruder zu schnell kommen würden. Sie würden so schnell kommen und so gefährlich sein, dass die beiden Brüder für den Tod bei den Nekromanten bestimmt gewesen waren.

»Erledigt den Verrückten.« Die Stimme erklang hinter mir. Sie klang vertraut. Sie klang wie die meines Vaters.

»Erschießt ihn.«

Es war eine Stimme, der man gehorchen musste. Aber mich trafen keine Pfeile, und so wandte ich mich von Gorgoth ab und der Spukburg zu.

Graf Renar stand dort, flankiert von zwei Dutzend Soldaten. Rechts und links von ihm hatten Speerkämpfer Aufstellung bezogen, jeweils zwanzig. Weitere Männer kamen von den Wehrwällen herunter.

Ich deutete eine Verbeugung an. »Hallo, Onkel.«

Bevor ich zum Turnier aufgebrochen war, hatte ich Renar nur von einem Porträt gekannt, und jetzt bot sich mir zum ersten Mal Gelegenheit, ihn in natura zu erleben. Sein Gesicht war schmaler, das Haar länger und weniger grau, aber ansonsten war er seinem älteren Bruder wie aus dem Gesicht geschnitten, was bedeutete, dass er auch große Ähnlichkeit mit mir aufwies. Natürlich war er weitaus weniger attraktiv.

»Ich bin Honorous Jorg Ankrath.« Ich nahm den Helm ab und nickte den Männern vor mir zu. »Erbe des Throns von Renar.« Das stimmte nicht ganz, aber ich würde der Erbe sein, wenn ich den einen übrig gebliebenen Sohn des Grafen getötet hatte. Wo auch immer Kusin Jarco sein mochte: Zu Hause war er nicht, denn sonst hätte ich seine Farben auf dem Turnierplatz gesehen. Deshalb ließ ich seinen Vater und die anderen glauben, er sei tot. Sollten sie denken, dass er im gleichen Feuer gestorben war, das ich für seinen Bruder Marclos angezündet hatte.

»Du.« Der Graf wählte einen Mann an seiner Seite aus. »Schieß ihm ein Loch in den Kopf, wenn du deinen eigenen Schädel behalten willst!«

»Die Angelegenheit betrifft nur meinen Onkel und mich.« Mein Blick richtete sich auf den Soldaten. »Wenn dies vorbei ist, seid ihr meine Soldaten, und mein Sieg wird auch eurer sein. Es wird kein Blut fließen.«

Der Mann hob seine Armbrust. Ich fühlte plötzliche Hitze im Nacken, als hätte jemand hinter mir die Tür eines Backofens geöffnet. Blasen bildeten sich im Gesicht des Mannes; die Haut schien plötzlich wie Suppe zu kochen. Er schrie und fiel, und sein Haar ging in Flammen auf, bevor er den Boden berührte. Die anderen Soldaten wichen entsetzt zurück.

Ich sah, wie der Geist ihn verließ, als er zuckte und brannte und Hautfetzen auf dem Kopfsteinpflaster festklebten. Ich sah seinen Geist und griff hinein. Mit den Händen griff ich hinein und fügte ihnen die bittere Macht der Nekromanten hinzu. Ihre dunkle Energie pulsierte in meiner Brust, ausgehend von der Wunde, die mir das Messer meines Vaters beigebracht hatte.

Ich gab dem Geist des Toten eine Stimme. Und eine Stimme gab ich auch den anderen Geistern, die wie Rauch über den Leichen zu meinen Füßen schwebten.

Die Soldaten vor mir erbleichten und zitterten. Schwerter fielen zu Boden, und das Grauen sprang wie ein Lauffeuer von einem Mann zum nächsten.

Die Schreie brennender Menschen klangen aus dem Jenseits, als ich mein Schwert in beide Hände nahm und zu Graf Renar lief, meinem Onkel, dem Mann, der Mörder zur Frau und den Söhnen seines Bruders geschickt hatte. Und ich fügte den Schreien der Toten meine eigenen hinzu, denn Corion oder nicht, das Verlangen zu töten brannte wie Säure in mir.