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Alains Pferd trug mich durch die Reihe der Soldaten und die Tribüne hinauf, wie über eine große Treppe, direkt zu Graf Renars Thron und hindurch.

Hätte man den Grafen nicht wenige Momente zuvor von seinem Sitz gezogen, wäre alles an dieser Stelle zu Ende gewesen.

»Bring ihn weg!«, wies Corion einen der beiden Leibwächter an.

Der andere Mann trat auf mich zu, als das Pferd unter mir auf dem für das Tier ungewohnten Tribünenboden in Panik geriet. Ich konnte es nicht mehr unter Kontrolle halten und sprang deshalb aus dem Sattel. Soweit ein Mann in Rüstung springen konnte, was für mich bedeutete: Ich suchte mir die Stelle aus, auf die ich fiel. Ich vertraute dem Metall an meinem Leib und fiel auf Renars Leibwächter.

Der Mann dämpfte meinen Sturz und bekam dafür einige gebrochene Rippen. Ich hörte ihr Knacken, wie von saftigen Zweigen. Das Pferd wieherte hinter mir, als ich mich aufrichtete. Seine Hufe flogen in alle Richtungen – auf der Tribüne konnte es jeden Moment das Gleichgewicht verlieren und fallen.

Ich warf Sir James’ Axt nach Renars Rücken, aber das Ding war einfach zu schwer für mich. Es traf den zweiten Leibwächter zwischen den Schulterblättern und brachte ihn zu Boden. Renar erreichte die Soldaten weiter unten, die eben noch vor meinem Ross auseinander gestoben waren, und sie umringten ihn und eskortierten ihn zur Burg.

Ich nahm mein Schwert in beide Hände und wollte dem Grafen folgen.

»Nein.«

Corion trat mir in den Weg, die eine Hand erhoben, einen Finger auf mich gerichtet.

Ich fühlte mich von einem großen Nagel getroffen. Er durchbohrte mich von oben, reichte durch Kopf und Körper, bis tief hinein ins Felsgestein unter meinen Füßen. Die Welt schien sich um mich zu drehen, langsam, im Rhythmus meines Herzschlags. Meine Arme sanken schlaff, die Hände wurden taub, das Schwert rutschte aus gefühllosen Fingern.

»Jorg.« Ich wagte es nicht, seinem Blick zu begegnen. »Wie konntest du nur glauben, mir trotzen zu können?«

»Wie konnte ich das für unmöglich halten?« Meine Stumme klang weit entfernt, als kämen die Worte von jemand anders. Es gelang mir, den Dolch von meiner Hüfte zu lösen.

»Halt.« Und meine Arme verloren jede Kraft.

Corion näherte sich. Mein Blick versuchte, bei ihm zu verharren, als sich die Welt drehte. Hinter mir erklangen die Geräusche des tretenden Pferds, gedämpft und noch ferner als meine Stimme.

»Du bist ein Kind«, sagte Corion. »Du setzt immer alles aufs Spiel, hältst nichts zurück. Das ist eine Strategie, die in Niederlage enden muss.«

Er holte ein kleines Messer unter seinem Gewand hervor, eine drei Zoll lange scharfe Klinge.

»Aber Gelleth … Das hat uns alle überrascht. Dort hast du alle Erwartungen übertroffen. Sageous verließ sogar deinen Vater, um eine Begegnung mit dir bei deiner Rückkehr zu vermeiden. Natürlich ist er inzwischen wieder da.«

Corion setzte die Klinge an die Seite meines Halses, zwischen Helm und Ringkragen. Sein Gesicht zeigte nicht das geringste Gefühl, und die leeren Augen schienen mich anzusaugen.

»Sageous tat gut daran wegzulaufen«, sagte ich. Meine Stimme schien aus einer tiefen Schlucht zu kommen.

Ich hatte keinen Plan, aber der Moment der Furcht, bei Sir James, lag bereits hinter mir, und ich wollte Corion nicht noch mehr davon geben.

Ich griff nach der Macht, die mir das Herz des Nekromanten gegeben hatte. Ich ließ meine Augen sehen, wo Geister wandeln, und ein kaltes Prickeln lief mir über die Haut.

»Nekromantie wird dich nicht retten, Jorg.« Ich fühlte den kalten Biss des Messers am Hals. »Selbst Chella vertraut ihrer Todesmagie nicht so sehr, als dass sie zu einer Konfrontation mit mir bereit wäre. Und was auch immer du unter dem Berg gestohlen hast, es ist nur ein Schatten ihrer Fähigkeiten.«

Es ist Wille. Letztendlich läuft es auf den Willen hinaus, auf seine Kraft. Corion hielt mich fest, hielt mich gefangen in einem verräterischen Körper. Weil er es wollte, weil sein Wille den meinen überlagerte.

Heißes Blut rann mir über den Hals. Ich fühlte es unter der Rüstung.

Ich warf alles gegen ihn, was ich hatte. Meinen ganzen Stolz, meinen Zorn, einen Ozean davon, die Wut, den Schmerz. Ich griff über die Jahre zurück und zählte meine Toten. Ich griff in den Dornenstrauch und berührte den blutlosen Knaben, der dort hing. Das alles nahm ich und machte einen Hammer daraus.

Nichts! Ich schaffte es nur, den Kopf nach vorn zu neigen, damit ich nicht länger sein Gesicht sah. Er lachte. Ich fühlte die Vibration im Messer. Er wollte mich langsam sterben lassen.

Ich sah meine Arme, von Metall umhüllt, der Dolch in schlaffen Fingern. Leben pulsierte durch diese Arme, von jedem Schlag meines Herzens angetrieben, vermischt mit der dunklen Magie, die mich vor dem Tod durch die Hand des Königs bewahrt hatte. Ich sah erneut das Gesicht meines Vaters, in dem Moment, als er mit dem Messer zustieß, die Borsten seines Barts, die zusammengepressten Lippen. Ich sah Katherines Gesicht, das Licht in ihren Augen, als sie mich pflegte. Und ich griff danach, nach dem Bitteren und dem Süßen, nur um die Arme zu bewegen, die dort vor mir hingen. Mein ganzes Leben setzte ich hinter diese Bitte.

Es gelang mir lediglich, die Spitze des Dolchs auf Corion zu richten.

»Sie sterben, Jorg«, sagte er. »Sieh es mit meinen Augen.«

Und ich war ein Falke. Ein Teil von mir blieb auf der Tribüne und blutete wie ein Schwein, und der Rest flog, wild und frei über dem Turnierplatz.

Ich sah Elban, der Rike den Rücken freihielt, weiter hinten in der Menge der gewöhnlichen Leute. Renars Soldaten näherten sich von allen Seiten, wie durch hohes Gras laufende Jagdhunde. Ein Speer traf Elban im Bauch, und er wirkte überrascht. Plötzlich waren ihm all seine Jahre deutlich anzusehen. Ich sah, wie er schrie und Blut aus seinem zahnlosen Mund kam. Aber ich hörte ihn nicht. Elban streckte den Mann nieder, von dem der Speer stammte, und dann glitt mein Blick weiter.

Lügner stand am Rand des Turnierplatzes, ein gemeines Stück Knorpel, den Bogen in der Hand und Pfeile zu seinen Füßen. Er schoss auf die Burgsoldaten, als sie zur Tribüne liefen. Schnell schoss er, aber ohne Eile, schickte jeden Pfeil zu seinem Ziel, mit einem grimmigen Lächeln auf den Lippen. Sie erledigten ihn von hinten. Der erste Soldat, der ihn erreichte, rammte ihm einen Speer in den Rücken.

Wir flogen dem Tor entgegen, zum Karren eines Kesslers. Die Plane wurde beiseite geschlagen, und Gorgoth rollte darunter hervor, erreichte den Boden auf zwei Händen und einem Knie. Er lief zur Spukburg. Vor ihm stoben die Leute auseinander, und einige von ihnen schrien. Selbst Soldaten wichen zurück und schienen plötzlich zu glauben, dass ihre Pflicht auf dem Turnierplatz lag. Zwei Männer fanden ihren Mut und versperrten Gorgoth den Weg, die Speere nach vorn gerichtet. Gorgoth wurde nicht einmal langsamer. Mit jeder Hand ergriff er einen Speer, brach das letzte Stück von ihnen ab, stieß die splittrigen Enden durch die Hälse der beiden Soldaten und lief weiter, noch bevor die Männer zu Boden gefallen waren. Drei Pfeile trafen ihn, als er mein Blickfeld verließ.

Corion zog unsere Augen zurück. Auf dem Kesslerkarren bewegte sich erneut die Plane. Etwas Flinkes und Geflecktes kam darunter hervor. Das Leucrota-Kind lief in die gleiche Richtung wie zuvor Gorgoth.

Unser Blick strich über den Turnierplatz, wo sich etwa zwanzig Soldaten der Tribüne näherten. Burlow trat ihnen entgegen. Ein einzelner Mann zwischen Renars Speeren und dem jungen Prinzen von Ankrath, meiner Wenigkeit. Wie er dort hingekommen war, wusste ich nicht. Oder warum. Für eine Flucht war es zu spät. Selbst wenn er jetzt losgelaufen wäre – die Soldaten hätten den dicken Kerl mühelos eingeholt.

Den ersten Mann empfing Burlow mit einem Axthieb, der den Kopf von den Schultern trennte. Er schwang die Axt weiter, was ihre Klinge zwischen die Augen des nächsten Mannes brachte. Und dann stürzten sich die anderen auf ihn. Ein einzelner Pfeil kam, woher auch immer, und fand einen Renar-Hals.

Unser Blick wich zurück. Ich sah mich selbst auf der Tribüne, Corion direkt gegenüber. Blutend. Alains Pferd trat noch immer, als wäre es nur wenige Sekunden und nicht ein ganzes Leben her, seit ich hierher geritten war.

Und wir trennten uns. Ich sah wieder mit meinen eigenen Augen. Das Messer in meiner Hand erhoben, aber nutzlos, gesplitterte Bretter zu meinen Füßen. Die Schreie des sterbenden Burlow. Das Kreischen des Pferds. Ich dachte an Gog, der Gorgoth zum Tor folgte, an das aus Elbans zahnlosem Mund spritzende Blut, an Makin, der irgendwo dort draußen sein musste, kämpfte und starb.

Das alles spielte keine Rolle mehr. Ich konnte mich nicht bewegen.

»Es ist vorbei, Jorg. Leb wohl.« Der Magier setzte mir das Messer für den letzten Schnitt an den Hals.

Man sollte meinen, dass es nie eine gute Zeit dafür gibt, von einem Pferd getreten zu werden.

Der Huf traf mich mitten auf dem Rücken. Wahrscheinlich wäre ich zehn Meter weiter geflogen, wenn Corion nicht direkt vor mir gestanden hätte – so flogen wir fünf Meter zusammen. Wir landeten im Gras, neben der Tribüne des Grafen, wie Liebende umarmt. Die Augen, deren Blick mich gefesselt hatte, waren voller Schmerz zugekniffen. Ich versuchte erneut, meinen Dolch zu heben. Er bewegte sich nicht. Aber diesmal gab es einen Unterschied, denn ich fühlte, wie sich die Muskeln in meinem Arm spannten und bemühten. Mit einem Knurren stieß ich Corion von mir fort. Das Heft meines Dolchs ragte zwischen seinen Rippen hervor. Was mir mit meiner ganzen Willenskraft und mit all meinem Zorn nicht gelungen war, hatte ein einziger Tritt eines in Panik geratenen Pferds geschafft.

Ich drehte den Dolch und drückte ihn noch tiefer. Ein letzter Atemzug zischte, die Augen öffneten sich und wurden glasig, verloren Leben und Macht.

Der Leibwächter des Grafen war ebenfalls hierher gefallen, mit der Axt, die ihn gefällt hatte, noch im Rücken. Ich zog sie heraus. Es ist ein hässliches Geräusch, das scharfes Eisen in Fleisch verursacht. Mit zwei Hieben schlug ich Corion den Kopf ab. Weil ich nicht darauf vertraute, dass er wirklich tot war.

Die Soldaten, die Burlow erledigt hatten, kamen um die Seite der Tribüne. Ich hob Corions Kopf für sie.

Ein abgeschlagener Kopf hat ein beunruhigendes Gewicht. Er schwang am grauen Haar, in das ich meine Finger gegraben hatte, und ich schmeckte Galle.

»Ihr kennt diesen Mann!«, rief ich.

Die ersten drei Soldaten, die hinter der Tribüne zum Vorschein gekommen waren, blieben stehen, vielleicht aus Furcht, vielleicht auch nur deshalb, weil sie vor dem Angriff auf die anderen warten wollten.

»Ich bin Honorous Jorg Ankrath! Das Blut des Reiches fließt in meinen Adern. Ich habe es allein auf Graf Renar abgesehen.«

Weitere Soldaten kamen hinter der Seite der Tribüne hervor. Fünf, sieben, zwölf. Mehr nicht. Burlow hatte sein Leben teuer verkauft.

»Dies ist der Mann, dem ihr gedient habt.« Ich trat einen Schritt auf sie zu, Corions Kopf hoch erhoben. »Er machte Graf Renar vor Jahren zu seiner Marionette. Ihr wisst, dass ich Recht habe.«

Ich ging weiter, ohne zu zögern. Man glaube fest daran, dass sie zur Seite treten, dann tun sie das auch.

Die Soldaten beobachteten nicht mich, sondern den Kopf. Die Angst, die er in ihnen gepflanzt hatte, schien so tief zu sitzen, dass sie fürchteten, die toten Augen könnten sich bewegen, sie anstarren und in ihre leere Tiefe zerren.

Die Männer wichen vor mir zur Seite, und ich ging an ihnen vorbei, über den Turnierplatz und zur Spukburg.

Andere Gruppen lösten sich von der linken Seite des Platzes, wo Rike und Elban gekämpft hatten. Sie kamen näher und schienen mich aufhalten zu wollen. Zwei Gruppen aus jeweils fünf Soldaten. Sie begannen zu fallen, als die Entfernung auf etwa sechzig Schritte schrumpfte. Die Waldwache rückte über die Ulmenstraße vor. Ich sah Bogenschützen bei der Anhöhe, von der ich die Spukburg beobachtet hatte.

Ich ließ Corions Kopf fallen, lockerte meinen Griff und ließ das graue Haar durch die Finger rutschen. Er brauchte eine Ewigkeit, um den Boden zu erreichen, als fiele er durch Spinnweben, oder durch Träume. Ich stellte mir vor, dass er mit dem Geräusch eines Hammers aufschlug, der einen Gong traf, aber es blieb still. Doch ob leise oder mit einem Krachen, ich hörte den Aufprall, ich fühlte ihn. Ein Gewicht wich von mir, so schwer, dass es mich verblüffte. Wie hatte ich es all die Zeit tragen können?

Weiter vorn sah ich das Tor. Ein großer Bogen, der Eingang der Spukburg. Das Fallgatter hatte sich nicht gesenkt. Eine einzelne Gestalt stand dort und hielt unglaublich viel Holz und Eisen oben. Gorgoth!

Ich lief los.