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»Zwei Tote, zwei Zappler.« Makin zeigte sein breites Grinsen.
Wir hätten ohnehin beim Galgen haltgemacht, aber Makin war vorausgeritten, um die Lage zu erkunden. Die Nachricht, dass zwei der vier Galgenkäfige lebende Gefangene enthielten, würde die Brüder aufmuntern, dachte ich mir.
»Zwei«, brummte Rike. Er war müde, und ein müder Kleiner Rikey sieht einen Galgen immer halbleer.
»Zwei!«, gab der Nubier mit donnernder Stimme weiter.
Ich sah, wie einige der Jungs Münzen hervor holten und wetteten. Die Totenstraße ist so langweilig wie eine Sonntagspredigt. Sie verläuft schnurgerade und eben. So eben, dass man sich über jeden kleinen Hügel freut. Und zu beiden Seiten Sumpf und Mücken, Mücken und noch mehr Sumpf. Auf der Totenstraße kriegt man nichts Besseres als zwei Zappler in einem Galgenkäfig.
Seltsam, dass mir nicht die Frage in den Sinn kam, was ein Galgen dort mitten im Nichts eigentlich zu suchen hatte. Ich nahm ihn als Belohnung. Jemand hatte Gefangene dem Tod überlassen, in am Straßenrand baumelnden Käfigen. Ich fand es sonderbar, dass jemand einen solchen Ort wählte, aber es war kostenlose Unterhaltung für meine kleine Truppe. Die Brüder waren ungeduldig, und so ließ ich Gerrod traben. Ein gutes Pferd, mein Gerrod. Er schüttelte seine Erschöpfung ab und klapperte über die Straße. Dafür eignet sie sich gut, die Totenstraße: Hufe klappern zu lassen.
»Zappler!«, rief Rike, und die anderen beeilten sich, zu uns aufzuschließen.
Ich gab Gerrods Zügel frei. Er würde kein Pferd an sich vorbeilassen. Nicht auf dieser Straße, die mit Steinplatten gepflastert war, zwischen ihnen nicht einmal genug Platz für einen Grashalm. Und nicht eine der Platten schief oder abgenutzt, obwohl sie mitten in einem Sumpf lagen!
Natürlich erreichte ich die Zappler als Erster. Die anderen Pferde konnten es nicht mit Gerrod aufnehmen. Erst recht nicht mit mir auf seinem Rücken – die anderen Brüder waren ungefähr doppelt so schwer wie ich. Beim Galgen drehte ich Gerrod und sah über die Straße zurück. Und ich rief, wild und voller Freude, laut genug, um den Kopfkarren zu wecken. Auch Gemt lag auf ihm, rollte zusammen mit den anderen Köpfen hin und her.
Makin kam zuerst, obwohl er die Strecke bereits zweimal zuvor geritten war.
»Sollen die Männer des Barons kommen«, sagte ich zu ihm. »Die Totenstraße ist wie eine Brücke. Zehn Männer könnten hier ein ganzes Heer aufhalten. Wer seitlich an uns vorbei will, kann im Sumpf verrecken.«
Makin nickte und keuchte noch immer.
»Die Erbauer dieser Straße … wenn sie mir eine Burg errichten würden …« Donner im Osten untermalte meine Worte.
»Wenn die Straßenmänner Burgen bauen würden, fänden wir nie einen Weg hinein«, erwiderte Makin. »Sei froh, dass es sie nicht mehr gibt.«
Wir beobachteten, wie die Brüder eintrafen. Die untergehende Sonne schien in den Sumpftümpeln orangefarbene Feuer zu entzünden, und ich dachte an Mabberton.
»Ein guter Tag, Bruder Makin«, sagte ich.
»Ja, Bruder Jorg«, sagte er.
Und so kamen die Brüder und begannen, sich um die Zappler zu streiten. Ich setzte mich neben den Beutekarren und las, während es noch hell genug war und der Regen auf sich warten ließ. Der Tag weckte in mir den Wunsch, Plutarch zu lesen. Ich hatte ihn ganz für mich allein, zwischen zwei lederne Buchdeckel gequetscht. Irgendein würdiger Mönch hatte sein ganzes Leben mit der Arbeit an diesem Buch verbracht. Ein ganzes Leben lang hatte er sich darüber gebeugt, mit einem Pinsel in der Hand. Hier das Gold, für Heiligenschein, Sonne und Schnörkel. Dort ein giftiges Blau, blauer als der Mittagshimmel. Winzige zinnoberrote Punkte stellten ein Blumenbeet dar. Wahrscheinlich war er darüber erblindet, dieser Mönch. Wahrscheinlich hatte er sein ganzes Leben, von jungen Jahren bis ins hohe Alter, damit verbracht, Plutarchs alte Worte zu verschönern.
Donner grollte, die Zappler zappelten und heulten, und ich saß da und las Worte, die geschrieben worden waren, noch bevor die Straßenleute ihre Straßen gebaut hatten.
»Ihr seid Feiglinge! Weiber mit Schwertern und Äxten!« Einer der Krähenschmäuse am Galgen hatte einen Mund.
»Nicht ein Mann ist unter euch. Knabenschänder seid ihr, dem kleinen Jungen dort gefolgt.« Er rollte die Worte am Ende zusammen, wie ein Erbarmensmann.
»Hier gibt es jemanden, der eine Meinung über dich hat, Bruder Jorg!«, rief Makin.
Ein Regentropfen traf meine Nase. Ich schloss das Buch mit Plutarchs Worten. Er hatte eine Weile gewartet, mir von Sparta und Lycurgus zu erzählen; er konnte noch etwas länger warten und dabei trocken bleiben. Der Zappler hatte noch mehr zu sagen, und ich ließ ihn zu meinem Rücken sprechen. Wenn man unterwegs war, musste man ein Buch gut einwickeln, um es vor dem Regen zu schützen. Zehnmal in Wachstuch gewickelt, und dann noch zehnmal andersherum, bevor man es unter einer Decke in die Satteltasche legte. In eine gute Satteltasche, wohlgemerkt, nicht in diesen Müll von den Thurtanen, in gutes zwiegenähtes Leder von der Pferdeküste.
Die Jungs machten vor mir Platz. Der Galgen, ein einfaches Ding, aus neuem Holz errichtet, stank schlimmer als der Kopfkarren. Vier Käfige hingen daran, und zwei von ihnen enthielten tote Männer. Sehr tote Männer. Ihre Beine hingen durchs Gitter, und Raben pickten an den Knochen. Fliegen umgaben sie wie eine zweite Haut, schwarz und summend. Die Jungs hatten ein bisschen an einem der beiden Überlebenden herumgestochert, und das schien dem Burschen nicht besonders gut bekommen zu sein – offenbar war er abgekratzt. Ich hielt das für Verschwendung, denn wir hatten eine ganze Nacht vor uns. Was ich auch laut gesagt hätte, wenn der Zappler mit dem großen Maul nicht gewesen wäre.
»Da kommt der Junge! Hat aufgehört, in seinem gestohlenen Buch nach schmutzigen Bildern zu suchen.« Der Bursche hockte gebückt in seinem Käfig, die Füße blutig, an manchen Stellen ohne Haut. Ein alter Mann, etwa vierzig, mit schwarzem Haar, grauem Bart und dunklen Augen, in denen es glitzerte. »Reiß die Seiten aus dem Buch und putz dir damit den Hintern ab, Junge«, sagte er in herausforderndem Ton. »Mehr Nutzen haben sie für dich nicht.«
»Wir könnten ein Feuer anzünden und es langsam brennen lassen«, sagte Rike. Selbst Rike wusste, dass uns der Alte zornig machen wollte, damit wir ihm ein schnelles Ende bescherten. »Wie bei den Galgen von Turston.«
Bei diesen Worten kam leises Lachen von einigen Brüdern. Aber nicht von Makin. Er runzelte die Stirn unter all dem Dreck, sah zum Zappler hoch und hob die Hand, damit die anderen still wurden.
»Es wäre schändlich, ein so gutes Buch auf diese Weise zu vergeuden, Pater Gomst«, sagte ich.
Wie Makin hatte ich Gomst trotz des Bartes und des verfilzten Haars erkannt. Doch ohne den Akzent wäre er gebraten worden.
»Das gilt insbesondere für den Abschnitt über Lycurgus, der in Hochlatein geschrieben ist, nicht, im Pidginrömisch, das sie in der Kirche lehren.«
»Du kennst mich?«, fragte der Mann. Seine Stimme brach – plötzlich wurde er weinerlich.
»Natürlich kenne ich dich.« Ich hob beide Hände zu meinen wundervollen Locken und strich das Haar zurück, damit er in der Düsternis mein Gesicht sehen konnte. Ich habe die markanten Züge der Ankraths. »Du bist Pater Gomst und willst mich zur Schule zurückbringen.«
»P-prin …« Er flennte jetzt und brachte die Worte einfach nicht heraus. Richtig ekelhaft war’s. Gab mir das Gefühl, in etwas Faules gebissen zu haben.
»Prinz Honorous Jorg Ankrath, zu Euren Diensten.« Ich verneigte mich wie ein Höfling.
»W-was ist mit Hauptmann Bortha passiert?« Pater Gomst schwankte völlig verwirrt in seinem Käfig.
»Hauptmann Bortha, Sir!« Makin salutierte zackig und trat näher. Blut vom ersten Zappler klebte an ihm.
Plötzlich herrschte tödliche Stille. Selbst das Summen und Surren der Sumpfinsekten verstummte. Mit offenem Mund sahen die Brüder von mir zum alten Priester und wieder zu mir. Der Kleine Rikey sah so verblüfft aus, als hätte ich ihn gefragt, was neun mal sechs ergab.
Der Regen wählte genau diesen Moment, um auf uns herabzufallen – der Allmächtige schien seinen Nachttopf über uns zu leeren. Die Finsternis, die sich um uns herum verdichtet hatte, wurde so dick wie Sirup.
»Prinz Jorg!« Pater Gomst musste rufen, um das Prasseln des Regens zu übertönen. »Die Nacht! Du musst fliehen!« Er umkrallte mit weißen Fingerknöcheln die Gitterstäbe des Käfigs. Ohne ein Blinzeln starrten seine weit aufgerissenen Augen in den strömenden Regen und die Dunkelheit.
Und durch Nacht und Regen, im Sumpf, wo kein Mensch gehen konnte, sahen wir sie kommen. Wir sahen ihre Lichter. Bleich wie Tote brannten diese Lichter in tiefen Tümpeln, auf die kein Mensch seinen Blick richten sollte. Lichter, die einem Mann versprachen, was auch immer er sich wünschen konnte, die ihn anlockten und ihm Antworten in Aussicht stellten, wo doch nur kalter Schlamm wartete, tief und hungrig.
Ich habe Pater Gomst nie gemocht. Er hatte mir gesagt, was ich tun sollte, seit ich sechs Jahre alt war, und seinen Worten oft mit drohend erhobener Hand Nachdruck verliehen.
»Lauf, Prinz Jorg! Flieh!«, heulte der alte Gomst, sich auf widerliche Weise aufopfernd.
Also blieb ich, wo ich war.