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»Aus dem Weg.«

»Wer zum Teufel …«

»Lieber Jesus! Du bist dasselbe alte Warzengesicht, das beim letzten Mal versucht hat, mich aufzuhalten!« Und das stimmte. Der Gestank, der mir entgegenschlug, als er die Tür öffnete, brachte alles zurück. »Ich bin überrascht, dass mein Vater dich am Leben gelassen hat.«

»Wer …«

»Wer zum Teufel ich bin? Du erkennst mich nicht? Auch bei unserer letzten Begegnung hast du mich nicht erkannt. Damals war ich ein ganzes Stück kleiner.« Ich zeigte es ihm mit der Hand. »Für mich scheint es eine ganze Weile her zu sein, aber du bist ein alter Mann, und was sind drei oder vier Jahre für einen Alten?« Ich verneigte mich spöttisch. »Prinz Jorg, zu deinen Diensten, beziehungsweise du zu meinen. Beim letzten Mal habe ich diesen Ort in Gesellschaft einer Gruppe von Gesetzlosen verlassen. Diesmal brauche ich nur einen Ritter, wenn du gestattest. Sir Makin von Trent.«

»Ich sollte die Wachen holen«, erwiderte der Alte, aber es klang nicht sehr überzeugt.

»Warum? Der König hat keine Befehle erteilt, die mich betreffen.« Das war eine Vermutung, aber sehr wahrscheinlich lag ich richtig damit, denn Vater glaubte, mich getötet zu haben. »Außerdem würde es den Tod für dich bedeuten. Und wenn du jetzt an den großen Burschen mit dem Spieß denkst – vor nicht einmal drei Minuten habe ich seinen Kopf gegen die Wand gestoßen.«

Der Wärter wich zurück und ließ mich passieren, wie vor vier Jahren, als Lundist den Knaben namens Jorg begleitet hatte. Diesmal schlug ich den Burschen, als ich an ihm vorbeiging. Nur in den Magen, und dann ein zweiter Schlag in den Nacken, als er sich zusammenkrümmte. Ein oder zwei Sekunden lang zog ich in Erwägung, ihm mit Katherines Messer den Rest zu geben, aber es ist weise Voraussicht, nicht besonders tüchtige Gefangenenwärter am Leben zu lassen.

Ich nahm die Schlüssel, schlich durch den Flur und hielt das Messer bereit. Mein Schwert wäre mir lieber gewesen. Ohne es fühlte ich mich nur halb angezogen. Immer wieder kehrten meine Gedanken zu seinem Fehlen zurück, zum Gefühl der Leichtigkeit an der Hüfte, so wie die Zunge immer wieder nach der leeren Stelle eines fehlenden Zahns tastet.

Makin hatte mir das Schwert an dem Tag gegeben, als er mich fand. Als Hauptmann der Wache, der nach dem Thronerben suchte, war er berechtigt gewesen, es zu tragen. Seitdem hatte ich es immer bei mir gehabt, die Familienklinge aus Erbauer-Stahl.

Ich erreichte die Folterkammer, in der ich den Nubier zum ersten Mal gesehen hatte. Diesmal war der Tisch in der Mitte des Zimmers leer, und es schauten keine Gesichter aus den Fenstern der Zellentüren. Ich machte eine langsame Runde und leuchtete mit der Laterne in jede Zelle. Die erste enthielt eine Leiche, beziehungsweise jemanden, der nur noch aus Haut und Knochen bestand. Die nächsten drei waren leer, und in der fünften entdeckte ich Sir Makin. Er saß an der Rückwand, mit Bart und voller Schmutz, hob eine Hand und schirmte sich die Augen vor dem Licht ab. Er versuchte nicht aufzustehen. Ich spürte einen Schmerz in meiner Kehle. Warum ich ihn fühlte, weiß ich nicht, aber er war da. Zorn im Magen, und ein Schmerz in der Kehle.

»Makin, o mein Bruder.« Leise und sanft.

»Was?« Ein Krächzen, das Geräusch von etwas Gebrochenem.

»Ich kehre auf die Straße zurück, Bruder Makin. Im Süden muss ich gewisse Dinge erledigen.«

Ich steckte den Schlüssel ins Schloss. Ein leichtes Zittern, ein leises Rasseln.

»Jorg?« Ein Schluchzen, ein halbes Gurgeln. »Er hat dich umgebracht, Prinz. Dein eigener Vater.«

»Ich sterbe, wenn ich bereit bin.«

Der Schlüssel drehte sich, und die Tür schwang ohne Widerstand auf. Der Gestank wurde schlimmer.

»Jorg?« Makin ließ die Hand sinken. Sie hatten eine Schweinerei aus seinem Gesicht gemacht. »Nein! Du bist tot. Ich habe gesehen, wie du tödlich getroffen zu Boden gesunken bist.«

»Na schön, ich bin tot, und du träumst. Steh jetzt verdammt noch mal auf, bevor ich dir den Rest deiner Scheiße aus dem Leib trete. Viel kann’s nicht mehr sein, so wie’s hier riecht.«

Das weckte ihn aus seiner Starre. Er bewegte sich und tastete mit einer Hand über die Wand.

Ich hatte nicht daran gedacht, in welchem Zustand er sich befinden mochte. Vaters Messer schien sich mir erst gestern in die Brust gebohrt zu haben, aber Makins Bart deutete darauf hin, dass mindestens zwei Wochen vergangen waren.

Er kam halb hoch, dann gaben die Beine unter ihm nach.

Ich trat zwei Schritte auf ihn zu.

Mehr als hundert Meilen trennten mich von der Burg des Grafen. Der Weg führte durch die Gärten von Ankrath und in Renars Hochland. Makin würde es nie schaffen.

Stöhnend rutschte er zu Boden. »Du bist tot, so oder so.« In seinem unverletzten Auge glänzten Tränen.

Spiel das Spiel. Opfere den Ritter, nimm die Burg. Wieder das trockene Rascheln der alten Stimme. Ich hatte sie so oft gehört, dass ich nicht mehr wusste, ob sie mir oder Corion gehörte. Wie auch immer – ich sollte Makin zurücklassen.

»Du hast eine Chance, Makin. Das sind zwei mehr, als die meisten Mistkerle in ihrem Leben bekommen.« Das Licht der Laterne strich über die Wände. »Ob ich nun tot bin oder nicht, ich lasse dich hier, wenn du nicht aufstehen und mir folgen kannst. Ich habe schon einmal jemanden hier zurückgelassen. Einen Mann, der mir viel hätte bedeuten sollen. Und doch habe ich mich einfach so von ihm abgewandt.«

Makin bewegte die Beine, vielleicht mit der Kraft der Furcht, doch sie verließ ihn, bevor er aufstehen konnte.

Ich drehte mich um und ging. Zwei Meter hinter der Tür blieb ich stehen.

»Lundist ist hier gestorben.« Ich sprach so laut, dass es gefährlich war. Ich vergeudete Atem an Dummheit. »Hier, an dieser Stelle.« Ich trat auf den Boden. »Ich habe ihn verbluten lassen.« Kein Laut aus der dunklen Zelle.

Bei Katherine war ich rücksichtsvoll gewesen, ohne dass es mich etwas kostete. Hier sah die Sache anders aus. Sie hatten Makin gebrochen, und er konnte mir nicht mehr helfen. Im Gegenteil: Mit ihm würde ich langsamer vorankommen, obwohl ich vor allem Schnelligkeit brauchte.

Ich ging zum Ausgang.

»Nein …«

Lass ihn nicht betteln.

»Nein … er starb hier nicht.« Makins Stimme war jetzt ein bisschen kräftiger.

»Was?«

»Er hatte einen schlimmen Kopf.«

Aus dem Dunkeln kamen die Geräusche von Bewegung.

»Ein schlimmer Kopf, weiter nichts. Für ein oder zwei Tage hatte er eine Beule.«

»Lundist lebt?«

»Dein Vater ließ ihn hinrichten, Jorg.« Makin kam ins Licht und hielt sich am Türrahmen fest. »Weil er dich nicht beschützt hatte, wie er behauptete.« Er spuckte schwarzen Schleim auf den Boden. »Wahrscheinlich wusste er nichts mehr mit einem Lehrer anzufangen, als sein Sohn weggelaufen war. So ist der König all die Jahre gewesen. Wenn etwas keinen Nutzen mehr hat, so werfe man es weg.«

Makin brachte ein Lächeln zustande. »Tut verdammt gut, dich zu sehen, Junge.«

Ich beobachtete ihn und sah, wie sein Lächeln verschwand, wie es einer Ungewissheit wich, die meiner eigenen ähnelte.

Ich hätte ihn zurücklassen sollen. Besser noch, ich hätte ihn töten sollen. Man lasse nichts Unerledigtes zurück.

Ich sah nicht auf mein Messer. Man wende den Blick nie vom Ziel ab, nicht wenn es sich dabei um einen Mann wie Makin handelt, nicht einmal in seinem gegenwärtigen Zustand. Aber ich wusste, dass das Messer da war. Mit dem inneren Auge sah ich den Glanz dort, wo er das Licht der Laterne aus der Luft schnitt. Auch Makins Blick blieb der Klinge fern. Er wusste nur zu gut, dass man keine Schwäche zeigen durfte. Nichts hilft einem Mann besser bei seinen Entscheidungen als eine gute Gelegenheit.

Vater hätte ihn zurückgelassen. Tot.

Das Geschöpf, zu dem Corion mich gemacht hatte, das Werkzeug, die Figur im Spiel der Throne – es war den Verliesen nie so nahe gekommen, dass er ihren Gestank gerochen hätte.

Aber was war mit Jorg?

»Ich bin meines Vaters Sohn, Makin.«

»Ich weiß.« Er bat nicht. Das bewunderte ich an ihm. Ich wählte meine Figuren gut.

Das Messer lag wie heißes Eisen in meiner Faust. Ich hasste mich für das, was ich tun würde, und ich hasste mich auch, weil ich zögerte. Ich hasste mich für die Schwäche in mir.

Für einen Moment sah ich den Nubier, nur die weiße Linie seiner Zähne und die Dunkelheit seiner Augen, die mich beobachteten, so wie er mich seit dem Tag unserer ersten Begegnung beobachtet hatte.

Makin nutzte den Moment. Ein schneller Tritt brachte mich zu Fall. Er folgte mir nach unten, mit dem Gewicht, das ihm geblieben war, und drückte meinen Kopf zwischen eine Steinplatte und seine Faust. Wir waren beide in keiner besonders guten Verfassung. Ein Schlag genügte, um mich an den dunklen Ort zurückzuschicken, den ich in Katherines Zimmer verlassen hatte.