13
Vier Jahre zuvor
Der Nubier war schnell, aber es war nicht seine Schnelligkeit, die mich beeindruckte, sondern das völlige Fehlen eines Zögerns. Er ergriff Berrecs Handgelenk und riss den Wärter auf sich. Der Schürhaken in Berrecs ausgestreckter Hand bohrte sich in Grebbins Rippen, so tief, dass sich das Eisen aus Berrecs Griff löste, als sich Grebbin zur Seite wand.
Sofort brachte sich der Nubier in eine sitzende Position, soweit es die noch gefesselte Hand erlaubte. Berrec glitt an seiner Brust herunter, rutschte auf Schweiß und Blut in den Schoß. Er versuchte, sich wieder aufzurichten, doch der Ellenbogen des Nubiers bereitete diesem Fluchtversuch ein Ende. Er traf Berrec am Nacken, und Knochen gaben knirschend nach.
Grebbin schrie natürlich, aber Schreie waren nichts Ungewöhnliches im Verlies. Er versuchte wegzulaufen, hatte aber die Orientierung verloren und prallte mit solcher Wucht gegen eine Zellentür, dass die Spitze des Schürhakens sein Schulterblatt durchdrang. Er fiel zu Boden und kam nicht wieder auf die Beine. Zuckend blieb er liegen und öffnete den Mund, doch es kam nur Rauch oder Dampf heraus.
Jubel ertönte in den Zellen, von Gefangenen, die zu dumm waren, um zu wissen, wann man besser still blieb.
Lundist hätte fliehen können. Er hatte Zeit genug. Ich rechnete damit, dass er versuchte, Hilfe zu holen, aber er war auf halbem Wege zu mir, als Grebbin zu Boden sank. Der Nubier stieß Berrec beiseite und befreite sein anderes Handgelenk.
»Lauf!«, rief ich Lundist zu, für den Fall, dass er noch nicht daran gedacht hatte.
Eigentlich lief er schon, aber in die falsche Richtung. Ich wusste, dass die Jahre weniger schwer auf ihm lagen als auf anderen alten Männern, doch ich hatte nicht gewusst, dass er sprinten konnte.
Ich trat zum Tisch mit dem Nubier, zwischen Lundist und mir.
Der Nubier löste die Schellen von seinen Füßen, als Lundist ihn erreichte. »Nimm den Jungen, Alter, und verschwinde.« Nie zuvor hatte ich eine so tiefe Stimme gehört.
Lundist sah den Nubier mit seinen beunruhigenden blauen Augen an. Sein vom Lauf von der Tür eben noch heftig wehender Umhang legte sich. Er hob die Hände zur Brust, legte eine Hand auf die andere. »Wenn du jetzt gehst, Mann von Nuba, so halte ich dich nicht auf.«
Das brachte schallendes Gelächter von den Zellen.
Der Nubier musterte Lundist mit der gleichen Intensität, die ich zuvor gespürt hatte. Er überragte meinen Lehrer um einige Zoll, doch es war die Körpermasse, die mich an David und Goliath denken ließ. Lundist war dünn wie ein Speer, und der Nubier wog mindestens doppelt so viel, wenn nicht mehr. Seine vielen zusätzlichen Pfunde bildeten feste Muskeln auf dicken Knochen.
Der Nubier lachte nicht über Lundist. Vielleicht sah er mehr als die Gefangenen. »Ich nehme meine Brüder mit.«
Lundist versuchte, das zu verarbeiten. Schließlich wich er einen Schritt zurück. »Jorg, hierher.« Er hielt den Blick auf den Nubier gerichtet.
»Brüder?«, fragte ich. An den Gittern sah ich keine schwarzen Gesichter.
Der Nubier schenkte mir ein breites Lächeln. »Einst hatte ich Hüttenbrüder. Jetzt sind sie weit entfernt, vielleicht tot.« Er breitete die Arme aus, und das Lächeln wurde zu einer halben Grimasse, als er seine Verbrennungen fühlte. »Aber die Götter gaben mir neue Brüder. Straßenbrüder.«
»Straßenbrüder.« Ich rollte das Wort auf der Zunge. Vor dem inneren Auge sah ich Will, Blut und Locken. Hier lag Stärke. Ich spürte sie.
»Töte sie beide und lass mich raus.« Eine Tür links von mir rasselte, als stieße ein Stier dagegen. Der Stimme nach musste ein Oger dort drin sein.
»Du verdankst mir dein Leben, Nubier«, sagte ich.
»Ja.« Er riss die Schlüssel von Berrecs Gürtel und trat zu der Zelle links von mir. Ich folgte ihm und achtete darauf, dass er zwischen Lundist und mir blieb.
»Als Gegenleistung erwarte ich ein Leben von dir«, sagte ich.
Der Nubier zögerte und sah Lundist an. »Geh mit deinem Onkel, Junge.«
»Du wirst mir ein Leben geben, Bruder, oder ich nehme mir deins«, sagte ich.
Mehr Gelächter kam von den Zellen, und diesmal stimmte der schwarze Mann mit ein. »Wen möchtest du getötet haben, Kleiner Bruder?« Er schob den Schlüssel ins Schloss.
»Das sage ich dir, wenn ich ihn sehe«, sagte ich. Jetzt Graf Renar zu nennen, hätte zu viele Fragen aufgeworfen. »Ich begleite dich.«
Als Lundist das hörte, eilte er auf mich zu. Er drehte sich am Nubier vorbei und gab ihm einen Tritt in die Kniebeuge. Ich hörte ein lautes Klicken, als der große Mann zu Boden ging. Der Nubier wandte sich zur Seite, als er fiel, und langte nach Lundist. Irgendwie gelang es dem alten Lehrer, ihm zu entgehen, und als der Schwarze zu seinen Füßen lag, trat er ihm in den Nacken, mit solcher Wucht, dass er abrupt verstummte und reglos liegen blieb.
Fast wäre ich entwischt, aber Lundists Finger hielten mich am langen Haar fest, als ich zu entkommen trachtete. »Jorg! Dies ist nicht der richtige Weg!«
Ich wollte mich losreißen. »Es ist genau der Richtige.« Und ich wusste, dass es stimmte. Die Wildheit des Nubiers, die Bindungen zwischen diesen Männern, die Konzentration auf das, was den Unterschied ausmachte, wie auch immer die Situation beschaffen sein mochte – das alles übte einen großen Reiz auf mich aus.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie die Zellentür aufschwang. Das Klicken war vom Schlüssel gekommen, der sich im Schloss gedreht hatte.
Lundist hielt meine Schultern und drehte mich, damit ich ihn ansehen musste. »Du hast nichts bei diesen Männern verloren, Jorg. Du ahnst, welches Leben sie führen. Sie haben nicht die Antworten, die du suchst!« Er sprach mit solcher Intensität, dass ich fast glaubte, ihm läge wirklich etwas an mir.
Eine Gestalt kam aus der Zelle und musste sich durch die Tür ducken. Nie hatte ich einen so großen Mann gesehen. Er war noch größer als Sir Gerrant von der Tafelwache, größer als der Pferdebursche Shem, größer auch als die Ringer bei den Slawen.
Der Mann näherte sich Lundist von hinten, ein wandelnder Berg.
»Jorg, ich glaube, du verstehst nicht …« Ein dicker Arm unterbrach den Lehrer und warf ihn mit solcher Kraft zu Boden, dass ich selbst dann zusammengezuckt wäre, wenn er nicht eine Handvoll meines Haars mitgenommen hätte.
Der Mann ragte vor mir auf, ein abscheulicher Riese in stinkenden Lumpen, mit langem verfilzten Haar. Seine Ausmaße hypnotisierten mich. Er streckte die Hand nach mir aus, und ich war zu langsam. Die Hand packte mich und konnte sich beinahe um meine Taille schließen. Er hob mich hoch, auf eine Höhe mit seinen Augen, und seine dreckige Mähne teilte sich, als er den Kopf bewegte und mich anstarrte.
»Jesus, du bist wirklich ein hässlicher Kerl, eine Beleidigung für das Auge.« Ich wusste, dass er mich töten wollte, und deshalb sah ich keinen Sinn darin, taktvoll zu sein. »Kein Wunder, dass dich der König hinrichten will.«
Selbst in der Anonymität der Zellen erklang nur zögerndes Lachen. Dies schien ein Mann zu sein, den man besser nicht verspottete. In seinem Gesicht gab es nichts Weißes, nur harte Linien, Narben und vorstehende Knochen unter rauer Haut. Er hob mich hoch, als wollte er mich wie ein Ei zu Boden werfen.
»Nein!«
Unter dem Arm des Riesen hinweg sah ich einen alten Mann und einen rothaarigen jungen – sie waren dem lebenden Berg aus der Zelle gefolgt und halfen dem Nubier auf die Beine.
»Nein«, wiederholte der Nubier. »Ich schulde ihm ein Leben, Bruder Price. Und außerdem: Ohne ihn säßest du noch in der Zelle und könntest dich auf die Hinrichtung freuen.«
Bruder Price warf mir einen Blick zu, der unpersönliche Bosheit zum Ausdruck brachte, und ließ mich einfach fallen, als existierte ich für ihn nicht mehr. »Lass sie alle frei«, knurrte er.
Der Nubier gab die Schlüssel dem alten Mann. »Bruder Elban.« Dann näherte er sich mir. Lundist lag in der Nähe, mit der Stirn in einer größer werdenden Blutlache.
»Die Götter haben dich geschickt, Junge, auf dass du mich vom Tisch befreist.« Der Nubier sah zu den Schellen und blickte dann auf Lundist hinab. »Du kommst jetzt mit den Brüdern. Wenn wir den Mann finden, den du tot möchtest, so töte ich ihn für dich. Vielleicht.«
Ich kniff die Augen zusammen. Das »Vielleicht« gefiel mir nicht.
Ich sah kurz auf Lundist hinab und wusste nicht, ob er noch atmete. Nur einen Schatten jener Schuld, die ich eigentlich empfinden sollte, berührte mich, wie ein Jucken dort, wo sich eine amputierte Gliedmaße befunden hatte, als wäre sie noch Teil des Körpers.
Ich stand neben dem Nubier, mit Lundist zu meinen Füßen, und beobachtete, wie die Gesetzlosen ihre Kumpane freiließen. Ich starrte in die orangerote Glut der Kohlen und erinnerte mich.
Ich erinnerte mich an eine Zeit, als ich in Lüge lebte. Ich lebte in einer Welt aus weichen Dingen, veränderlichen Wahrheiten, sanften Berührungen und falschem Lachen. Die Hand, die mich in jener Nacht aus der Kutsche gezogen hatte, aus der Wärme an der Seite meiner Mutter in Regen und Geschrei, jene Hand hatte mich durch eine Tür gezogen, durch die ich nicht zurückkehren konnte. Wir alle kommen durch diese Tür, aber die meisten von uns aus freiem Willen, und nach und nach. Die meisten von uns strecken erst vorsichtig den Kopf hindurch, um zu sehen, was sie auf der anderen Seite erwartet.
In den Tagen nach Flucht und Krankheit beobachtete ich, wie meine alten Träume klein wurden und verkümmerten. Ich sah mein Leben als Kind am Baum gelb werden und fallen, als hätte ein strenger Winter den Herbst verjagt. Es war verblüffend zu erkennen, wie wenig mein Leben bedeutet hatte, wie klein und unwichtig die Höhlen und Kastelle gewesen waren, in denen William und ich in so festem Glauben gespielt hatten. Wie dumm und töricht erschienen mir unsere Spielzeuge ohne die lebhafte unschuldige Fantasie, die ihnen Leben verlieh.
In jeder wachen Stunde fühlte ich einen Schmerz, der umso mehr wuchs, je öfter ich die Erinnerung in meiner Hand drehte. Und dann und wann kehrte ich zu ihm zurück, wie die Zunge zu einem fehlenden Zahn, angelockt von der Lücke.
Ich wusste, dass er mich umbringen würde.
Der Schmerz wurde mein Feind. Mehr noch als Graf Renar, mehr noch als mein Vater, der Leben verkauft hatte, die ihm teurer sein sollten als die Krone, oder Ruhm, oder Jesus am Kreuz. Und ich kämpfte gegen den Schmerz an, weil ich tief in meinem Innern, in einem hartnäckigen Graben egoistischer Verweigerung, nicht einmal im Alter von zehn Jahren irgendetwas oder irgendjemandem gegenüber kapitulieren konnte. Er eiterte und schwärte, wie die Fäulnis in einer Wunde, und nahm mir Kraft. Ich wusste und verstand genug, um das Gegenmittel zu kennen. Heißes Eisen für die Entzündung: Man brenne sie aus, mache sie rein. Ich schnitt alle Schwächen aus mir. Die Liebe für die Getöteten legte ich in einer Urne beiseite, als ein Studienobjekt und Ausstellungsstück, das nicht mehr blutete, von mir getrennt. Die Fähigkeit zu neuer Liebe brannte ich fort. Ich tilgte sie mit Säure, bis der Boden dort öde und unfruchtbar dalag, ein Boden, aus dem nichts sprießen, auf dem keine Blume wachsen konnte.
»Komm.«
Ich sah auf. Der Nubier sprach zu mir. »Komm. Wir sind so weit.«
Die Brüder waren um uns versammelt, bildeten eine zerlumpte, stinkende Gruppe. Price hielt eins der beiden Wärterschwerter. Das andere glänzte in der Hand eines zweiten Riesen, der nur ein bisschen kleiner und leichter war sowie ein bisschen jünger schien, Price ansonsten aber so sehr ähnelte, dass er aus dem gleichen Schoß stammen konnte.
»Wir kämpfen uns den Weg frei.« Price prüfte die Schärfe des Schwerts am Bart seiner Kieferpartie. »Burlow, Rike, wir übernehmen die Spitze. Gemt und Elban, ihr bildet den Abschluss. Tötet den Jungen, wenn er uns aufhält.«
Price sah sich im Raum mit dem Foltertisch um, spuckte aus und stapfte zum Flur.
Der Nubier legte mir die Hand auf die Schulter. »Du solltest hier bleiben.« Er nickte in Richtung Lundist. »Aber fall nicht zurück, wenn du mitkommst.«
Ich sah auf Lundist hinab und hörte Stimmen, die mir sagten, dass ich bleiben sollte. Vertraute Stimmen waren es, aber sie erklangen in der Ferne. Ich wusste, dass der alte Lehrer durch Feuer gegangen wäre, um mich zu retten, nicht weil er den Zorn meines Vaters fürchtete, sondern … einfach so. Ich fühlte die Ketten, die ihn an mich banden. Die Haken, spitz wie Dornen. Ich fühlte erneut die Schwäche. Schmerz kroch durch die Ritzen, die ich geschlossen glaubte.
Ich sah zum Nubier hoch. »Ich falle nicht zurück«, sagte ich.
Der Nubier schürzte die Lippen, zuckte die Schultern und ging los. Ich trat über Lundist hinweg und folgte ihm.